Mittwoch, 24. September 2008

1. September 2008: Der erste Tag und wie alles begann.

Natürlich habe ich nicht gepackt. Wäre auch gar nicht mein Stil, Tage vorher etwas vorzubereiten, um dann am entscheidenden Tag die Sache ganz in Ruhe angehen lassen zu können. Wär ja auch Quatsch. Um 8 klingelte der Wecker, schnelles Frühstück und kurz Zeit zu begreifen, was das eigentlich für ein Tag ist. Nicht einfach nur der 1. September, nein. Mehr. Viel mehr. Es ist ein neuer Lebensabschnitt. Aber bisher verliefen diese mehr oder weniger fließend. Der hier kommt abrupt. Für den Moment vielleicht zu abrupt. Fühle mich blöd, trauernd um das alte Leben, das in wenigen Stunden vorbei ist. So stelle ich mir das zumindest vor. Bin doch nur ein Jahr weg. Aber der Zeitpunkt macht’s aus.

Vor einigen Wochen haben viele meiner Freunde ihr Abi gemacht, jetzt geht’s ans Studieren. Dank Numerus Clausus wird nur leider verhindert, dass Berliner Jugendliche auch in ihrer Heimatstadt studieren können. Da der Länderfinanzausgleich auch an die Einwohnerzahl bzw. die Anzahl der Studierenden gekoppelt ist, hat sich Berlin damals ganz clever gedacht, durch viele Studenten aus dem gesamten Bundesgebiet und der restlichen Welt viel Geld von Bayern, BaWü und Co kassieren zu können. Die Studenten, die Berlin aber eben genau wegen dem NC verlassen müssen, um woanders zu studieren, wurden natürlich nicht bedacht, in Mathe war der Senat noch nie gut. Das Ergebnis ist ein Nullsummenspiel für den Senat. So werden Freundeskreise gesprengt. Klingt alles viel zu schwarz? Kann sein, aber so hab ich mich an diesem Morgen gefühlt. In dem Bewusstsein, dass viele meiner besten Freunde nicht mehr da sein werden, wenn ich aus Nizza zurückkomme. Scheiß Gefühl. Zumindest bleiben mir die, die ihr Abi erst noch machen, Marcel, Martin, Dario, Sanny, Katrin und so. Ich habe Angst, im September 2009 nicht da weiter machen zu können, wo wir vorgestern aufgehört haben. Mir geht so viel durch den Kopf. Papa probiert mich aufzumuntern. Ich höre nur halbherzig zu, er versteht das nicht. Natürlich ist es geil, wie er immer sagt, ein Jahr in Südfrankreich die Erfahrungen meines Lebens zu machen. Aber was ich dafür aufgeben muss, ist ihm nicht klar. Andererseits würden die angehenden Studis auch weg gehen, würde ich bleiben. Gutes Argument, das hat gezogen, ich fange an den Koffer zu packen, um 15:17 Uhr ist Abfahrt im Hauptbahnhof. Um 10 will Papa den Laptop von der Post abholen und ich will ihn noch soweit auf das Jahr vorbereiten, dass er so weit wie möglich dem Programmstandart des PC´s zu Hause entspricht. MSN ist ja nicht in der gewünschten Version vorinstalliert. Verwöhntes Kind des 21. Jahrhunderts eben.

Um kurz vor halb 10 klopft es an der Tür, Klingelanlage geht ja nicht. Es ist der Laptop. Laune steigt schlagartig. Wunder mich zwar, wie die Post auf die Idee kommt, das Ding zu liefern, wo sie doch sagte, wir sollten ihn um 10 anholen, aber das ist mir jetzt ziemlich Schnuppe. Koffer kann warten, auspacken ist angesagt. Darin bin ich gut. (Für jegliche Zweideutigkeiten übernehme ich keine Verantwortung.) Ich freunde mich schnell an, installiere das Wichtigste und packe nebenbei noch weiter. Langsam wird mir klar, dass ein zweiter Koffer zwar unmöglich zu transportieren wäre, von der Menge an Klamotten aber ganz hilfreich wäre. Irgendwie schaffe ich es aber dann doch, ihn zuzukriegen. Und los geht’s, mit drei Gepäckstücken, einem riesigen Koffer, einer Laptoptasche und einem Rucksack. Den Rest erspare ich aufzuschreiben, Mama hat den Treffpunkt nicht gefunden, den wir im Hauptbahnhof ausgemachten hatten, so konnten wir uns nicht verabschieden und als die Regio abfuhr, in der ich mit schon einer recht großen ASF-Truppe saß, war mir eher nach heulen als nach Vorfreude. Das ist symptomatisch für das Verhältnis zwischen mir und meiner Mutter. Die Kommunikation klappt nicht. Es tut weh, das über das Verhältnis zu seiner Mutter sagen zu müssen... Es tut verdammt weh. Jetzt mehr denn je zuvor, jetzt wo ich gehe und keine Zeit mehr habe, ihr zu sagen, dass sie trotzdem die beste Mutter ist, die man sich wünschen kann. Wie viel ich ihr jetzt gerne gesagt hätte, das ich vielleicht noch nie zu ihr gesagt habe...

Die ersten unterhalten sich schon ganz fröhlich, während ich nur aus dem Fenster starre. Erkner. Wir stehen erstaunlich lange. Nix passiert. Nach 15 Minuten geht’s endlich weiter. Kurze Zeit später kommt der Schaffner und sagt, wir müssten den Wagen, es ist der letzte des Zuges, verlassen, da eine Türstörung seit Erkner bestehe und wir daher aus Sicherheitsgründen einen Wagen weiter müssten. Lustig. Wir müssen in 20 Minuten raus und jeder von uns hat etwa 40 KG Gepäck dabei. Und wir sind etwa 25. Wir sollen die Sachen da lassen und er öffnet dann in Fürstenwalde die Tür manuell für uns sagt er. Okay, dein Ding. Er bekommt die Tür natürlich nicht so einfach manuell auf, wie er es sich wohl gedacht hat. Wir hieven unser Gepäck raus, hoffen, nichts in der Hektik drin gelassen zu haben. Der ASF-Bus wartet zum Glück noch, trotz der Verspätung. Danke Deutsche Bahn, langweilig ist es mit dir nie. Es stellt sich raus, dass in den einen Bus zwar alle Freiwilligen passen würden, nicht aber deren Gepäck. Ein zweites Fahrzeug, dass ASF gehört und auch da ist, wird kurzer Hand zum Gepäckfahrzeug gemacht, der Rest wird im Gang des großen Busses gestapelt, so gut es geht. Habe keinen Sitzplatz, stehe zwischen Rucksäcken und Koffern, an dem einen klebt noch das Kürzel TXL. Flughafen Berlin-Tegel. Ein Weithergereister also, wenn er mit dem Flugzeug gekommen ist. Ich probiere zu lesen, wo er oder sie herkommt, aber das ist auf dem Zettel nicht vermerkt, immer nur die Destination.

Es hat angefangen zu regnen. Na super, passt ja ins Bild. Schlechte Laune, Deutsche Bahn und Regen. Wir sind da. Freundlicher Weise fährt uns der Fahrer bis ins Zentrum der Anlage der Begegnungsstädte Hirschluch. Eigentlich hätte er uns an der Straße rausschmeißen sollen und wir hätten den letzten Kilometer zu Fuß zurücklegen dürfen, aber durch den Regen und mit dem Gepäck hat der Fahrer wohl Mitleid gehabt. Danke. Jetzt strömt es. Mein Koffer befindet sich im zweiten, kleinen Auto, das schon da ist. Aber zuerst retten wir uns ins Haus, der Rest kann warten, bis der Regen nachlässt. An der Gebäudefront hängt gut sichtbar ein großes Transparent. Drauf steht „Frei und willig, wir sind frei, seid ihr willig?“ Beim Anblick müssen viele lachen. So empfangen zu werden hat sicher keiner erwartet. Es sind schon einige Freiwillige mit einer Fuhre vor uns angekommen und haben ihre Zimmer schon bezogen. Aber auf dem riesigen Gelände stehen so viele Häuser, keine Ahnung, in welches ich komme. Ich schaue aus dem Fenster. Ich sehe einen Tümpel, sieht richtig idyllisch aus. Da gibt’s bestimmt Frösche und Blindschleichen. Während es nicht aufhören will zu schütten geht drinnen schon die Anmeldung der Neuankömmlinge los. Das dauert. Nach einer halben Stunde habe ich mein Kreuz gemacht und den Schlüssel in der Hand. Haus der Stille, Zimmer 8. Na das kann ja heiter werden. Liegt das weit ab vom Schuss oder was? Im Wald am besten noch, der sich um uns herum befindet. Ist übrigens ne christliche Begegnungsstädte, daher vielleicht die bekloppten Namen wie Güldene Sonne, Haus der Stille und Kranzhaus. Es hat aufgehört zu regnen, alle nehmen ihre Sachen und machen sich auf den Weg, ich auch. Haus der Stille, liegt zwar nicht JWD, aber zentral gelegen ist was andres. Zimmer 8, ah das ist meins, Erdgeschoss, Dusche und Klo um die Ecke, schon mal ganz praktisch. Mal gespannt, mit wem ich ein Zimmer teile. Es ist ein Zimmer für zwei. Es ist klein, es hat einen Schrank, für unsere Mengen an Gepäck viel zu klein, einen Schreibtisch 80x80 cm, ein Bett, meines wie ich beschließe, eine Klappcouch für den Pechvogel, der zu spät kommt um sich das Bett zu sichern und ein Wachbecken, das ist alles. Ach und ein Mückengitter am Fenster. Woran die Christen alles denken.

Es kommt lange niemand. Es dämmert mir, dass ich alleine auf dem Zimmer bin. Noch mehr Stille im Haus der Stille. Von zu viel Stille wird man nur paranoid, ich will irgendnen schrägen Vogel als Zimmerkumpane haben, sofort. Par Minuten später steht tatsächlich ein blonder Lockenkopf vor mir, ein Schwabe. Ist schräg genug. Er fragt mich, ob wir das Zimmer tauschen können, er kennt hier im Haus Leute vom Vorbereitungsseminar mit denen er sich so gut versteht, dass er ihnen so nah wie möglich sein will. Ist ja schnuckelig denke ich ironisch. Ich bin schlecht drauf, da neige ich zum Zynismus. Hab noch nen Bett zu vergeben sag ich, kannst einziehen, kostet nich mal was. Dass es kein Bett, sondern ne Klappcouch ist, sage ich erst mal nicht. Stört ihn auch nicht, er ist froh und bedankt sich. Er heißt Bastian, kommt aus irgendeinem Kaff bei Stuttgart. Scheint nett zu sein, ich glaub mit dem hält man es 10 Tage aus, so lange geht das ganze ja hier. Und wie es der Zufall so will, geht er auch nach Frankreich, nach Paris.

Ich habe vor wie immer aus dem Koffer zu leben, Bastian nimmt daher auch fast den ganzen Schrank in beschlag. Er hat ne Frankreichflagge dabei, wie geil. Und auch so scheint er ne lustige Type zu sein. Hier sollte also alles locker ablaufen.

Das erste auf dem Programm ist Abendessen, sogar warm, gibt’s hier normalerweise nur Mittags, aber in unserem Fall ist eine Stärkung auf jeden Fall von Nöten und ich hatte noch mit die kürzeste Anreise. Bastian bittet mich, den Schlüssel zu nehmen, da er so eine enge Hose anhabe... Hrhr, innerlich grölend schließe ich ab und wir gehen ins Haupthaus essen. Hier sehe ich zum ersten Mal alle Freiwilligen meiner Generation auf einem Fleck, einige kenne ich noch vom 2. Vorbereitungsseminar. Über 150 sind es dieses Jahr, aus ganz Deutschland und ab jetzt verbindet uns eines, wir gehen alle mit ASF ein Jahr ins Ausland. Eine große Familie. Ich habe Hoffnung, dass es ein tolles und interessantes Seminar wird. Erste Grüppchen reden angeregt und es wird auch über das Transparent gewitzelt. Bei der Forschung nach Ursachen für diesen skurielen Spruch kommt man unter anderen auf die Idee, ob wir vielleicht das Kleingedruckte im Vertrag hätten besser lesen sollen. Es wird viel gelacht, die Stimmung ist trotz Müdigkeit super.

Nach dem Essen ist ein erstes Plenum angesetzt, die erste Ansprache der Teamer. Es sind alles ehemalige ASF-Freiwillige. Diese stellen sich alle der Reihe nach vor, ohne Mikro, das will nicht funktionieren. Auch nach mehreren Versuchen nicht. Der erste Lacher des Abends. Der zweite folgt sofort, als die Vorstellungsrunde bei einer jungen Dame anhält. Am Ende sagt sie ganz beiläufig, dass sie unter anderem auch für die Technik auf dem Seminar zuständig ist. Ahaaa, das ist die Schuldige, die das mit dem Mikro verbockt hat denken wohl alle, denn es bricht lautes Gelächter aus. Sie flachst und sagt, sie wisse gar nicht, warum wir lachen. Wir schon. Die Stimmung ist weiterhin super, alle freuen sich und sind motiviert, ich jetzt auch. Auf einmal ziehen sich alle Teamer zurück, bis auf eine, die hält weiter Tapfer vorne die Stange und macht im Programm weiter. Wir ahnen, dass die anderen etwas vorbereitet haben, denn aus dem Raum, in den sich alle Teamer verkrochen haben, ist krach zu hören. Es geht los. Alle kommen raus, mit so komischen Hüten auf den Kopf, die so aussehen, als gehören sie zur Kleidung einer Stewardess. Volltreffer. Es ertönt ein Lied mit dem passenden Jingle „an international Airline“. Nie vorher gehört, hat aber Wiedererkennungswert. Jeder Teamer der Airline leitet eine Ländergruppe. Die zurückgebliebene Teamerin geht auf der imaginären Landkarte alle ASF-Länder durch und zählt den oder die leitende Teamer/in auf. Aufgezählt wird jeweils der Ort des Landes, an dem die abschließenden Orientierungstage stattfinden. Los geht’s in Berlin, wo die GUS’ler ihre Orientierungstage haben, ist wohl einfacher als in den GUS-Ländern selber. Von Berlin geht es nach Oslo, von dort geht’s über Krakau, Prag und Kiew nach Moskau. Es folgen Minsk und Tel Aviv. Großer Schritt und man ist in Philadelphia, dort finden die Orientierungstage für alle USA-Freiwilligen statt. Und dann der Satz, der mich irgendwie mit Stolz erfüllt. „Von Philadelphia aus geht es über den großen Teich und wir befinden uns wieder im Anflug auf Europa. Es geht nach Paris.“ Das bin ich, Frankreich. Wir verlassen mit unserer Teamerin Julia das Plenum, es folgen noch Amsterdam und Brüssel. Es folgt der erste Länderabend, in dem sich zum ersten mal die gesamte Equipe Tricolore trifft und kennenlernt. Generation 2008/2009. Man informiert uns, dass am letzten Abend jede Ländergruppe etwas präsentieren soll, eine Art Theateraufführung, maximal 10 Minuten lang. Außerdem stellen wir uns natürlich alle vor, damit wir wissen, mit wem wir es zu tun haben. Für heute reicht es dann aber auch und wir werden entlassen. Alle gehen nach diesem anstrengenden Tag sofort ins Bett.

So fing alles an, der erste Tag des Freiwilligendienstes war vorbei und es folgen noch 364 weitere und alle träumten sicher davon, was sie in diesem Jahr alles erleben könnten. Hoffen wir, dass es gute Träume waren und sich die Mühen lohnen werden. Wir machen was einmaliges, wir können stolz auf uns sein.

Wir sind Botschafter Deutschlands.