Mittwoch, 26. November 2008

Tag 29 bis 35, Woche 3

Shana Tova. Frohes neues Jahr euch allen. Ja, ich denke jetzt ein bisschen jüdisch und daher beginnt diese Woche das neue Jahr 5769. Und um euch aufzuklären, was die Begriffe Rosh Hashanah und Shana Tova bedeuten, ist es wohl die beste Eselsbrücke, wenn man sich merkt, dass ihre Bedeutungen in etwa den deutschen Begriffen Silvester und Frohes neues Jahr! entsprechen. Wobei Rosh Hashanah der Name des Festes und Shana Tova der Ausruf ist. Ich finde es total interessant, etwas über die jüdische Religion zu lernen.

Abgesehen von den heftigen Gewittern der letzten Woche war das Wetter auch so etwas ungemütlicher geworden. In der Nacht auf Montag hatte es sinnflutartig geschüttet, aber am Montag selber war das Wetter wieder so, wie man es gerne hat. Angenehm warm. Der Arbeitstag war nicht unbedingt außergewöhnlich. Ich verbrachte ihn mal hier, mal dort. So einen richtigen Arbeitsplan gab es ja noch nicht, hatte ich den Eindruck. Einsatz nach Bedarf. War mir für den Anfang auch lieber, so konnte ich alles viel genauer und ruhiger kennenlernen. Und so langsam kam auch etwas Vertrautheit in die ganze Angelegenheit. Ich kannte inzwischen deutlich mehr Namen und auch die morgendliche Runde dauerte nun länger als sonst. Man kannte mich jetzt und viele Bewohner begrüßten mich, was nicht selten in einem kleinen Gespräch endet. Und erkundigt man sich nur nach dem Befinden der Person, es freut sie immer. Und mich macht es happy, dass man sich freut, mich zu sehen. Das Verhältnis mit den Kolleginnen und Kollegen entwickelte sich auch richtig klasse. Ich habe das Gefühl, in eine große Familie geraten zu sein. Unpersönliches und distanziertes Verhalten kennt man hier kaum. Ist eben Frankreich und nicht Deutschland. Zwischenmenschliche Sachen laufen hier einfach anders ab. Find ich super, denn das gehört zu den Dingen, die mich an meinem eigenen Volk ankotzen. Diese Kälte zwischen den Menschen. Auf Leute zu gehen oder ihnen ein Lächeln schenken, wenn man sich kaum kennt ist nicht selbstverständlich. Natürlich gibt es auch andere Leute, aber es ist eben doch anders, als in Frankreich. Muss man selber erlebt haben, um zu begreifen, was ich meine.

Irgendwann in der Woche kam dann doch Madame Roche zu mir, um mir meinen festgelegten Arbeitsplan mitzuteilen. Da ich mich inzwischen gut eingelebt hatte, kann es nun auch gerne so richtig nach Plan losgehen. Die Arbeitszeiten bleiben die gleichen, die eine Stunde Pause natürlich auch. Eine meiner neuen Tätigkeiten soll ab jetzt das tägliche Wechseln des aktuellen Datums sein. In jedem der 4 Teile der Colline gibt es jeweils einen Ort, an dem das aktuelle Datum markiert ist. Das sind schlicht und einfach die Zahlen von 1 bis 31, die 7 Wochentage und die 12 Monate auf Din A4-Blätter gedruckt. Die wurden von Sylvie plastifiziert, damit sie länger halten. Die plastifizierten Nummern, Tage und Monate wurden dann ausgeschnitten und so existiert von jedem Tag, jeder Nummer und jedem Monat ein Plastikschildchen, alles mal 4 natürlich. Nein, mal 3, denn im batiment la colline gibt es einfach nur 3 Plastikhüllen, in denen die ganzen Blätter mit den jeweiligen Daten stecken. Nicht ausgeschnitten. Diese durchsichtigen Hüllen sind nebeneinander auf ein großes Pappschild gesteckt, sodass jeder gut die vordersten Blätter mit dem aktuellen Datum sehen kann. In den anderen Gebäuden werden die kleinen Plastikschildchen entweder an die zentrale Pinnwand gesteckt, oder wie im batiment sud, dem Alzheimer-Teil, einfach zwischen Rahmen und Fenster des Schwesternzimmers geklemmt. Lange Rede, kurzer Sinn, ab sofort bin ich dafür zuständig, dass diese Daten zuverlässig jeden Tag gewechselt werden. Ausgenommen am Wochenende, denn da arbeite ich ja nicht. Klingt nach einer nebensächlichen Arbeit, aber psychologisch betrachtet ist es durchaus wichtig. Man gibt den Bewohnern damit ein Zeitgefühl, eine Orientierung. Denn viele von ihnen haben kein Zeitgefühl mehr, sind im Kopf im Jahr 1974 und leben generell ohne Sinn für Monate und Jahre. Mit dem täglichen Wechseln des Datums wird den Bewohnern ein Teil ihrer Existenz wiedergegeben, ihnen die Möglichkeit gegeben, ihr eigenes Leben in eine Zeitspanne einzuordnen. Ohne ein Anhaltspunkt, das Datum, wäre das den Meisten wohl nicht möglich.

Der Wochentag geht also damit los, dass ich noch vor dem Anmelden an dem elektronischen Kartenlesegerät, der pointeuse im batiment nord, die zwei dort zu wechselnden Daten vom Brett nehme, damit in den Alzheimer-Teil zum Schwesternzimmer gehe, nachdem ich an der pointeuse war nicht zu vergessen, und dort die neuen Schildchen aus den Hüllen hole, in denen sie aufbewahrt werden. Diese sind nur deswegen im batiment sud, weil es im batiment nord keinen passenden Ort gibt, an dem man sie sicher verstauen könnte. Vorher waren sie im salle d’animation, aber da Sylvie meistens erst um 10 anfängt und Donnerstags gar nicht arbeitet, fand ich es praktischer, sie im Alzheimer-Teil aufzubewahren. Nachdem ich also das Datum vom Alzheimer-Teil gewechselt habe und die neuen Schildchen für des batiment nord rausgesucht und die alten wieder verstaut habe, gehe ich mit den neuen Daten zurück zum batiment nord. Unterwegs durchquere ich das batiment la colline, wechsele dort ebenso das Datum und gehe dann weiter zum batiment nord um dort das neue Datum an die Pinnwand zu stecken. Wo ich danach hingehe, hängt dann vom jeweiligen Wochentag ab.

Montag morgens hat Madame Roche das atelier informatique vorgesehen, in dem ich mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter und zwei oder drei Bewohnern etwas am Computer arbeiten soll. Von denen hatte ich ja schon berichtet. Nicht unbedingt auf dem neuesten Stand. Aber für hier sollte es noch reichen. An diesem Montag war besagter Monsieur Informatique aber nicht da und so ging ich ins centre, wechselte dort das Datum und entschloss mich, Cathy, die gerade eingetroffen war, bei der Durchführung der Animation zu helfen. Sie hatte von Madame Roche auch einen neuen Plan bekommen und der beinhaltete für sie jeden Morgen von 10 bis zum Mittagessen um 12 eine Animation im centre, zusammen mit mir. Ausgenommen Montags und Mittwochs. Montag früh hab ich ja schließlich den Informatik-Kurs und Mittwochs arbeitet Cathy nicht. Aber heute half ich ihr, da ich sonst nichts zu tun hätte. Sie freute sich, denn sowohl für mich als auch für sie war es das erste Mal, dass wir im centre arbeiten sollten. Wirklich freuten wir uns aber nicht darüber. Im centre wohnen, wie schon mal erzählt, die ganz schlimm betroffenen und pflegebedürftigen Bewohner und wenn man aus dem Fahrstuhl steigt, (der Eingang zum centre liegt eine Etage unter dem Essens- und Aufenthaltsraum, wo die Animationen stattfinden) kommt einem oft ein bissiger Geruch von Urin und Medikamenten entgegen. Angenehm ist es also nicht.

Wir verbrachten die Zeit also damit, uns erst mal ein bisschen mit den Bewohnern vertraut zu machen und in Erfahrung zu bringen, wer überhaupt in der Lage ist, wenigstens ein Bisschen an den Animationen teilzunehmen. Wenn man sich die Bewohner aber mal ansieht, dann kommen doch gewisse Zweifel auf, dass diese zu überhaupt was fähig sind, so traurig das ist. Viele liegen in rollbaren, gepolsterten Schalen und geben keine Regung von sich. Die meiste Zeit verbringen sie schlafend. Die meisten Bewohner sitzen eh im Rollstuhl. Und nicht wenige davon sind festgeschnallt, damit nichts passiert. Aus eigener Kraft können sie sich weder bewegen, noch wieder aufrichten, sollten sie rutschen, daher die Schnallen. Reden tun diese Bewohner so gut wie gar nicht mehr und tun sie es, ist es oft unverständlich und ohne Zusammenhang. Es ist ein trauriger Anblick und ich weiß, dass es eine ziemliche Herausforderung ist und einiges an Überwindung kosten wird, hier drei Mal die Woche eine Animation mit Cathy durchzuführen. Dem sind wir uns bewusst und ab und zu warfen wir uns an diesem Morgen skeptische und hilflose Blicke zu. Wir sind definitiv froh, dass wir uns haben und die Arbeit daher nicht alleine machen müssen.

Ein weiterer Grund, warum es jetzt morgens immer etwas länger dauert, bis ich da ankomme, wo ich ursprünglich hinwollte, ist der in Frankreich obligatorische Begrüßungskuss links rechts. Macht man in Deutschland zwar auch, aber hier gehört das schon nach wenigen Malen zur Selbstverständlichkeit. Als Neuling wird da bei mir keine Ausnahme gemacht. So busselt mich morgens die halbe weibliche Belegschaft ab. Salut hier, bonjour da. Und nicht nur die jüngeren Kolleginnen begrüßen mich mit Begrüßungskuss. Sylvie ist schon Mitte 50, aber es ist ganz normal und eine Geste von Respekt, dass man sich trotz des Altersunterschiedes mit Küsschen begrüßt, man arbeitet ja schließlich zusammen. Ist vielleicht der entscheidende Unterschied zu Deutschland. Dort bleiben mit den Küsschen die Altersgruppen meistens unter sich. Jugendliche und alte Omas beim wöchentlichen Tee oder so. Vermischt wird das eigentlich eher selten, oder? Ausgenommen Verwandte und enge Vertraute, Eltern von besten Freunden oder so. Benny’s Mutter Ines bekommt von mir ja auch immer nen Kuss auf die Wange, wenn ich sie sehe. So ewig wie ich sie kenne ja auch kein Wunder. Hab ja teilweise mehr Zeit bei denen als nebenan bei Papa verbracht. Und wenige Menschen kennen mich so gut wie sie. Vielleicht nur meine Eltern und Benny. Hier muss man sich also nicht seit der Steinzeit kennen. Geht sofort los. Und das schönste daran: ich werde jedes Mal mit einem Lächeln begrüßt. Das ist schön. Jeder freut sich, mich zu sehen und so tue ich auch. Hab aber auch echt nette Kolleginnen. Hier arbeiten zwar auch Männer, aber mit denen habe ich nix zu tun. Auf jeden Fall fühle ich mich sehr wohl und das ist ja schließlich die Hauptsache.

Montag nach der Arbeit hatte ich keine Zeit, gemütlich Musik zu hören oder groß was für meinen Blog zu schreiben. Denn um 19 Uhr war ich ja zum Essen in der Colline eingeladen. Begrüßung des neuen Jahres. Alle würden da sein, Cathy, Sylvie, die Bewohner und ich wollte natürlich nicht zu spät sein. War ich auch nicht, Punkt 19 Uhr war ich im Essenssaal und konnte noch helfen, die Bewohner an ihre Plätze zu führen. Dann ging es auch schon los. Monsieur Perez, der Direktor, hielt eine kleine Rede, mit Dank an verschiedene Personen. Und am Ende wurde auch ich erwähnt und mit einem großen Applaus entgültig und offiziell willkommen geheißen. Ich bedankte mich und ein Herr neben Monsieur Perez, den ich nicht kannte, fragte mich, woher aus Deutschland ich kommen würde. Erstaunlicher Weise konnte man hier mit der Gegend Mannheim/Heidelberg etwas anfangen, denn weitere Fragen folgten nicht. Ein Teil der Rede wurde auch auf Hebräisch gehalten, aber so wirklich geschickt stellte sich der Herr Direktor am Mikro nicht an. Er war dauernd zu leise oder hielt das Mikro zu weit vom Mund weg. War nervig, ich war froh, als er ruhig war. So richtig leiden kann ich ihn eh nicht. Er hat was überhebliches und hatte sich bisher keine zwei Minuten Zeit für mich genommen. Als Direktor der Einrichtung sollte er das aber eigentlich.

Musikalisch wurde der ganze Abend von zwei Herren begleitet, der eine mit Gitarre, der andere am Keyboard. Und die zwei waren echt gut. Sie machten richtig Stimmung und dafür, dass sie mit relativ kleiner Ausstattung spielten, war es einfach nur super. Dann wurde das Essen serviert, in 3 Gängen. Als Vorspeise gab es Äpfel, in Ringe geschnitten, dazu Honig und kleine Sesamkringel. Ich erinnere mich nicht mehr, aber irgendjemand erzählte, dass dies eine Bedeutung im Judentum hätte. Die Äpfel werden in den Honig getunkt und das schmeckt total lecker. Als erste Hauptspeise gab es Lachs. Super geil. Ich liebe Lachs über alles, Pluspunkt also. Sowieso wurde zum Mittag bisher erstaunlich viel Lachs serviert. Generell gab es oft Fisch. Wir sind ja auch am Meer. Als zweite Hauptspeise gab es ein Steak mit leckerer Sauce und dazu Erbsen. Zum Nachtisch, verzeihung, das heißt ja jetzt désert oder noch vornehmer apparativ, zwei Kugeln Vanilleeis und ein kleines Stück Himbeertorte. Die war so süß, dass es mir fast die Schuhe ausgezogen hat. War gar nicht so leicht, nicht das Gesicht zu verziehen, wenn man hineinbiss. Bis auf die Torte war das Essen aber exzellent gewesen und ich war zufrieden. Ach ja, dazu gab es Wein. Ich trank ein kleines Glas und merkte schon, dass es auf einmal viel wärmer war. Und dann drehte mir meine Sitznachbarin auch noch ihr Glas an, da sie es nicht wollte. Ablehnen erschien mir etwas unhöflich, also trank ich gemütlich auch noch ein zweites Glas. An den anderen Tischen wurde teilweise deutlich mehr geleert. Und auf einmal fingen einige Leute an zu tanzen. Und ehe ich mich versehen konnte, stand ich auch in der Mitte des Raumes und zappelte mir einen ab. Einige weiblichen Bewohner sind noch ganz schön fit und legten für ihr Alter fetzige Schritte auf dem Parkett hin. Und ich mit ihnen. Insgesamt tanzten wir bestimmt fast eine Stunde, immer mal wieder mit kleinen Pausen. Kurz vor 22 Uhr war die Party dann aber schon wieder vorbei. Die alten Leute brauchen schließlich viel Ruhe. Alles in Allem war es ein toller und gelungener Abend mit gutem Essen und netter Gesellschaft. Ich half wieder ein Bisschen, die Bewohner zu verabschieden oder diejenigen in Rollstühlen aus dem Raum zu schieben. Ich verabschiedete mich von Cathy und Sylvie und ging auf mein Zimmer. Und ich hatte auch was gelernt. Wein in Kombination mit Tanzen bringt einen ganz schön auf Touren. Aber irgendwie war ich glücklich, es ist alles so, wie man es sich vorstellt. Wo andere Urlaub machen, werde ich ein Jahr bleiben, arbeiten und die Erfahrungen meines Lebens machen, das steht nach dem Abend entgültig fest.

So schnell man ins Schwärmen gerät, so schnell kann es einem auch wieder vergehen. Wie an diesem Mittwoch morgen. Die Colline hatte den ersten Todesfall seit meiner Ankunft zu beklagen. Eine mir unbekannte Frau war in den frühen Morgenstunden mit deutlich über 90 Jahren verstorben. Als Sylvie mir das sagte, war es schon ein ziemlich unangenehmes Gefühl. Das Zimmer der Verstorbenen lag genau neben dem salle d’animation und der Gedanke, jeden Tag x-mal daran vorbeizulaufen, wo doch noch am Morgen ein Mensch gestorben war, machte mir Angst. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich mich an diesen Gedanken wohl oder üblich gewöhnen müsste. In einem Altersheim sterben nun mal Menschen und wenn man bedenkt, wie krank viele der Bewohner sind und wie sehr sie darunter leiden, dann ist es vielleicht in einigen Fällen sogar das Beste, wenn sie von ihren Leiden erlöst werden. Und mit über 90 Jahren, in etwa das Durchschnittsalter hier, kann man auch ruhig sterben, denke ich. So alt muss man erst Mal werden. Und letztendlich akzeptierte ich, dass sterben genauso zum Leben gehört, wie alles andere auch. Diese Menschen hatten ein bewegtes Leben, erlebten den Krieg, einige wenige sogar beide, hatten viele Kinder groß gezogen und nun war hier ihre letzte Ruhestätte. Ich vermute, dass wenn man als junger Mensch wie ich eine Arbeit wie diese verrichtet, dann denkt man bald anders beziehungsweise differenzierter über den Tod. Er bekommt dann neben dem Schrecklichen noch eine weitere Fassette. Die Natürliche.

Am Samstag war ich wie gewöhnlich an ein und den selben Orten. Nach dem Surfen (im www, nicht im Meer, oder hast du gerade ernsthaft einen Moment lang gestutzt?^^) schlenderte ich am Meer entlang. Es war ein unheimlich stürmischer Tag, mit strahlend blauem Himmel. Kalt war es daher nicht, aber der Wind hatte es trotzdem in sich. Frisuren waren an diesem Tag hoffnungslos verloren. Aber es war angenehm, sich die steife Briese ins Gesicht wehen zu lassen.

Wenn ich mit meinem Vater meine Tante besuche, die an der Kieler Förde wohnt, dann freue ich mich immer auf die Spaziergänge an der Förde entlang, dick eingemummelt, denn im Sommer waren wir schon ewig nicht mehr dort und so angenehm wie in Nizza ist der Herbst dort nicht. Ich war länger nicht mehr in Kiel. Ich hoffe, dass Melly es dort genau so gefällt, wie mir. Sie studiert nämlich bald dort beziehungsweise hat schon angefangen. Weiß ich grad gar nicht genau, wann es für sie losgeht. Wir haben Kiel zu unserer zweiten Lieblingsstadt gemacht. Nach Berlin natürlich. In Kiel kann man sich irgendwie schnell zu Hause fühlen und wie ich hat auch Melly dort Verwandtschaft. Umso schöner, dass es sie dank nummerus clausus genau dorthin verschlagen hat. So was nennt man Schicksal. Ja, ich glaube an so was. Ich glaube auch, dass es das Schicksal war, dass mich letztendlich hier her geführt hat. Aus irgendeinem Grund sollte es nicht Deutschland und auch nicht Paris sein. Es ist die Côte d’Azur und ein Gefühl sagt mir, dass die Party erst noch beginnt.

Zu erst aber war hier nur viel Wind. Und ein aufgewühltes Meer, das jetzt noch viel türkiser schien. Einige Leute badeten sogar. Ins Wasser hatte ich mich bisher ja noch nicht gewagt. Ich ging auch an den Strand und zog Schuhe und Socken aus. Angenehm war es nicht, die großen Steine schmerzten. Aber das Wasser war überhaupt nicht kalt. Dafür aber die Wellen recht ordentlich und eh ich mich versah, war meine hochgekrempelte Jeans klatschnass. Tja, hätte ich auch gleich ganz reingehen können, aber ich hatte kein Handtuch dabei. Dafür aber den Laptop und den würde ich ungern alleine am Strand liegen lassen. Ich setzte mich dann auf die Steine, ließ meine Füße und die Jeans etwas trocknen und genoss den Wind, der mir um die Nase und die Ohren wehte. Trotz allem waren auf dem Wasser viele Boote zu sehen. Eine Gruppe kleiner Segelboote, wahrscheinlich eine Segelschule, kämpfe tapfer gegen die übermächtigen Wellen. Wer diese Prüfung besteht, ist für später auf jeden Fall gut vorbereitet.

Im Hintergrund fuhr gerade wieder ein riesiges Kreuzfahrtschiff vorbei und mit den kleinen, irgendwie hilflosen Segelbooten im Vordergrund gab es ein tolles Motiv ab. Von rechts kam dann noch eine große Fähre ins Bild und als ich sie da so vor sich hin schaukeln sah, fragte ich mich, wie viele Leute an Bord wohl gerade über dem Klo hingen, weil ihnen der Seegang gehörig den Magen umdrehte. Toller Weise kamen die Flugzeuge heute von Osten rein und so konnte man auch sie dabei beobachten, wie sie durch den starken Wind etwas zu kämpfen hatten. Aber wie heißt ein Pilotensprichwort so schön: Runter kommen sie immer.

Bei meinen all-wochenendlichen Streiftouren bin ich dieses Mal die große Straße stadteinwärts gelaufen, die in den Place Masséna mündet und an der der McDonalds liegt, bei dem ich das erste Mal probiert hatte, online zu gehen. Also nicht in Richtung Brunnen und Promenade des Anglais, sondern in die entgegengesetzte. Sie heißt Avenue Jean Médecin. Weiter als bis zu McDonalds war ich bisher noch nicht gelaufen. Und auch dieses Mal kam ich nicht wirklich weit. Genau bis zu einem Einkaufszentrum, das den schönen Namen Nicetoile trägt. Dazu muss man wissen, dass dies eine Zusammensetzung aus Nice, dem französischen Namen Nizzas, und dem Wort étoile darstellt. Étoile bedeutet Stern. Ich mag dieses Wortspiel irgendwie. Es klingt schön. Und es ist auch ein schönes Einkaufszentrum. Die Läden sind nichts Besonderes, es gibt einen Adidas-Shop auf zwei Etagen, einige Schuhgeschäfte, einen Sportladen, einen C&A auf drei Etagen und die üblichen, kleinen Restaurants und Bars. Und noch einiges mehr, es dürfte in etwa so groß wie die Spandau Arcaden sein. Ich schlenderte also etwas durch die Gänge, verschwand in dem ein oder anderem Laden, kaufte aber am Ende nichts. Mit dem Geld muss ich hier gut wirtschaften. Ansich habe ich zwar genug, aber ich will mir ja auch etwas ansparen und eigentlich würde ich gerne einige anderen Freiwillige besuchen, unter anderem in New York und Tel Aviv. Das wäre ein Traum.

Ja, ich bin ein Träumer. Ich lebe in meiner kleinen Traumwelt und verbringe oft Stunden an irgendwelchen Orten, dahinschlendernd, die mich zum Träumen anregen. Da reicht schon ein Reisebüro, das Werbung für einen Urlaub auf Kuba macht. Das gehört zu einen meiner vielen Träume. Urlaub in der Karibik. Ich weiß nicht mal wieso. Aber ich träume es. Generell viel vom Reisen. Ich hab mir irgendwann mit 12 oder 13 mal das Ziel gesteckt, so viel wie möglich von der Welt zu sehen, wenn ich größer bin. Und jetzt, mit 20 Jahren, habe ich tatsächlich schon erstaunlich viel gesehen. Das ist mir erst so wirklich klar geworden, als wir in einer kleinen Gruppe auf dem Vorbereitungsseminar in Paris darüber geredet haben, wo wir schon überall waren. Ich war zum Beispiel schon auf Fuerteventura, ganze 4 oder 5 Mal, meine Eltern können sich da nicht einigen und ich war zu klein. Das letzte Mal müsste aber 1994 gewesen sein, ein Jahr bevor sie sich trennten. Ist zwar lange her, aber ich erinnere mich an so viele Dinge dort. Wir waren mehrmals im selben Hotel, dem Stella Canaris. Es war ein großes Hotel und vom Eingang, der Empfangslobby, bis zu unserem Zimmer, war es immer ein relativ langer Weg über das gesamte Gelände, im Freien, so groß war es. Da waren diese Treppen, daneben ein schräg fahrender Aufzug und war man oben angekommen, war es immer sehr windig. Dann ging der Weg nach rechts weiter und man schaute dann genau aufs Meer, machte eine Linkskurve und gelangte letztendlich zu den weiteren Gebäuden mit unserem Zimmer. Ich weiß noch ganz genau, wie alles aussieht. Ich habe aus irgendeinem Grund diesen Ort, die Hotelanlage und noch einige andere Orte auf Fuerteventura, tief in meinem Gedächtnis verankert. Vielleicht, weil dies die wenigen Momente waren, in denen ich das Gefühl hatte, in einer richtigen Familie zu leben...

Irgendwann verließ ich das Einkaufszentrum wieder und lief zum Bus. Und so war auch diese Woche vorbei und ich begann es so richtig zu genießen. Neben vielen neuen Eindrücken, meinem Französisch, das langsam sicherer wurde, zeigte sich auch das Wetter mal etwas abwechslungsreicher. Neben dem gewohnten Sonnenschein hatten wir in dieser Woche auch mal heftige Gewitter, sinnflutartigen Regen und viel, viel Wind. Aber genau das half mir, morgens aus dem Bett zu kommen. Denn wenn die Küste jetzt schon mein Gesicht kannte, so wollte ich doch auch so viele wie möglich von ihren Gesichtern kennenlernen, hab ich Recht?

Samstag, 15. November 2008

Tag 22 bis 28, die zweite Woche

Und weiter geht’s. Neue Woche, neues Glück. Zur gewohnten Zeit um halb 10 morgens, ohne Knoppers wohlgemerkt. Aber dafür mit viel Selbstvertrauen und auch etwas Vorfreude. Ich ging zuerst in den Alzheimer-Teil im Pavillon-Süd um dort mit den Bewohnern zu plaudern. Zumindest mit denen, die schon wach waren, beziehungsweise ihr Zimmer verlassen hatten. Ich wartete dann auf Cathy, um mit ihr diverse Aktivitäten durchzuführen. (Mir ist erst beim dritten Korrektur-Lesen aufgefallen, wie versaut das klingt...) Wir bastelten, sangen, tanzten und trainierten durch gezielte Anwendungen das Gedächtnis der Bewohner. Zum Beispiel, in dem man einfach Hauptstädte der EU abfragt. Das fordert die Bewohner ein bisschen, hat aber einen wichtigen Effekt, nämlich den, dass die scheinbar einfachen Gedächtnis-Abrufe auch in Zukunft mehr oder weniger funktionieren.

Auch existiert von jedem Bewohner ein Lebens-Ordner, eine Art Akte, in der Dinge ihres oder seines Lebens drin stehen. Das kann von Berufen bis zu Unfällen oder Namen der Kinder gehen. An einem Tag haben wir mit Hilfe der Akte mit den Bewohnern über ihr bisheriges Leben geredet. Was war früher ihr Beruf, wie heißen ihre Kinder, was war ihr Mann, ihre Frau von Beruf. Durch diese Fragen lernte ich etwas über die Bewohner und den Bewohnern wurde geholfen, nicht auch noch ihre gesamte Existenz zu vergessen. Klingt krass, aber es gibt Momente, in denen einige auf die Frage ihres Nachnamens nicht mehr antworten können. Sie haben es vergessen. Dem wirken wir mit einem kleinen, lockeren Gespräch entgegen. Und die Bewohner reden gerne, erzählen von ihren Kindern, von ihren Berufen und wenn es um diese privaten Sachen geht, dann wissen sie doch relativ viel, verglichen mit Sachen, die sie zwar nicht direkt betreffen, von gesunden Menschen aber Allgemeinwissen genannt werden. Den aktuellen französischen Präsidenten kennt hier niemand, da sich keiner den Namen merken kann. Zumindest nicht länger als eine Minute. Trotzdem gibt es aber Momente, in denen einzelne Bewohner ihre hellen Seiten haben und sich an deutlich mehr erinnern, als sonst. Und sei es nur, dass das Essen von gestern nicht gut war. Aber es ist ein Erfolg, über den sich alle Mitarbeiter hier immer freuen.

Neben Cathy und Emanuelle, den Animatrice, arbeiten im pavillon sud, so die französische Schreibweise, auch die sogenannten aide-soignante. Das sind Krankenpfleger/innen, die aber nicht befugt sind, medizinische Dinge durchzuführen, da sie dazu nicht ausgebildet sind. Die täglichen Medikamente werden von den infirmières, den ausgebildeten Krankenschwestern verabreicht. Diese arbeiten aber ausschließlich in den anderen Gebäuden und kommen nur, wenn es nötig ist. Also zur Medikamenten-Verabreichung und zum Zuckerspiegel messen. Monsieur O. hat nämlich Diabetes. Dazu bekommt er von den Krankenschwestern jeden Tag den gewohnten Pieks in den Finger, um durch das Blut den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Die aide-soignante sind dazu da, die Bewohner den ganzen Tag über zu begleiten und zu überwachen, wie es ihnen geht. Sie wecken die Bewohner morgens und helfen den männlichen Bewohnern, die weitaus mehr abhängig sind, sich zu waschen und anzuziehen. Eigentlich können die Männer hier das überhaupt nicht mehr, sie werden also komplett gewaschen und angezogen. Dass machen die Krankenschwestern nicht, sondern nur die aide-soignante. Jetzt werdet ihr euch fragen, warum gerade im Alzheimer-Teil keine Krankenschwestern dauerhaft arbeiten. Ganz einfach, denn körperlich sind die Bewohner hier noch am fittesten und brauchen daher keine dauerhafte medizinische Versorgung. Der Fokus liegt hier auf dem Training des Gedächtnisses. Das machen die Animatrice und die aide-soignante helfen dabei. Die Bewohner der anderen Gebäude sind ungleich mehr auf medizinische Versorgung angewiesen, weswegen die Krankenschwestern dort „stationiert“ sind.

Das Team der Krankenpflegerinnen besteht hier aus 4 Frauen. Eine davon kenne ich ja schon, nämlich die junge Französin, die unter mir wohnt, das Frauchen von Elliot. Sie heißt Julie. Die Namen der anderen habe ich wieder vergessen. Welch Ironie. Aber mit Namen habe ich es wirklich nicht so, wenn sie mir beim Vorstellen dutzendfach um die Ohren geworfen werden. Und ich komme mir immer so doof vor, nach mehreren Tagen noch mal nachzufragen. Ich warte daher einfach, bis die Namen fallen und irgendwann kenne ich sie dann auch. Tolle Methode, oder?

Insgesamt lernte ich in dieser Woche die Alzheimer-Patienten etwas genauer kennen. Und jeder hat seine eigene, oft lustige Art. Da wäre zum Beispiel Madame D. Sie ist immer gut gelaunt und ihre Laune lässt sich durch scheinbar nichts trüben. Ich mag sie, denn ihre Art steckt an. Ziehen andere eine dunkle Mine, ist es Madame D., die durch einen flapsigen Spruch und mit der selben charmanten Art die Stimmung hebt. Manchmal nervt sie aber auch, denn sie trällert dauernd den Refrain von einem Lied, das irgendwie nur sie kennt. In der Colline gibt es ungefähr ein halbes Dutzend Lieder, die wirklich jeder kennt, sowohl Mitarbeiter als auch Bewohner. Ich ausgenommen, aber das kommt noch. Es sind natürlich sehr alte Lieder, aber das Lied von Madame D. kennt keiner. Aber inzwischen kann jeder den Text auswendig, da sie es in ihren Phasen echt alle 2 Minuten singt beziehungsweise vorschlägt, wenn gerade als Aktivität Singen an der Reihe ist. Ich kann es inzwischen nicht mehr hören. Aber sie kann nichts dafür, da sie schließlich dauernd vergisst, dass es keine 3 Minuten her ist, als sie es zum letzten Mal trällerte.

Singen funktioniert aber generell sehr gut hier, die Parolen weigern sich scheinbar erfolgreich, vergessen zu werden und auch wenn viele die Anfänge der Lieder nicht sofort kennen, kommt nach wenigen Sekunden der Melodie die Erinnerung und alle können perfekt mitsingen. Und Madame D. singt immer sehr gestenreich und extrovertiert. Es macht irgendwie Spaß, ihr zuzusehen. Sie ist generell sehr extrovertiert, sagt gerne was sie denkt. Meistens aber, wie lieb wir alle sind, was für wunderschöne Augen ich habe und ob ich meinen Eltern schon danke dafür gesagt hätte. Die Krankheit scheint da immer in Schüben zu kommen, da das wiederholende Fragen von gewissen Dingen abrupt beginnt und aufhört. Ganz extrem ist das bei Madame Sch. Ebenfalls eine sehr liebenswerte Person, die aber ab und zu ihre Phasen hat, wo sie eine halbe Stunde lang fragt, ob ich Deutscher sei und wie alt ich sei. Wenn ich dann sage, dass ich 20 sei, sagt sie ab und zu: „ 20 Jahre und noch alle Zähne?“ Und grinst dabei. Ungewollt nimmt man sich und die Krankheit hier ab und zu gehörig aufs Korn. Hat aber was sympathisches. Besser, als sich dauernd zu bemitleiden.

Madame Sch. spricht einige Brocken Deutsch, da sie im Elsass geboren und aufgewachsen ist. Brocken heißt in dem Fall nur einzelne Wörter. Dann fragt sie wieder eine Stunde lang, ob pain auf Deutsch auch wirklich Brot heißt und erklärt allen, was je t’aime auf Deutsch heißt. Und eines Tages hat da Madame D. den Vogel abgeschossen, als sie wie immer grinsend sagte, dass ihr einziger deutscher Satz „Heil Hitler“ sei. Darauf antwortete Cathy nur mit einem augenrollenden „Merci beaucoup Madame D.“. Ich sagte nichts, aber innerlich wäre ich vor Lachen fast vom Stuhl gefallen. Nicht, weil ich den Satz toll finde, sondern wegen der unnachahmlichen Art, wie Madame D. selbst so einen schrecklichen und negativ behafteten Satz ganz harmlos erscheinen lässt. Als sei es eine Lappalie. Und sie hat diesen Satz auch nicht böse gemeint oder ihn an meine Adresse gerichtet. Es war lediglich ihr Beitrag zur Konversation. Aber jeder geht damit anders um und ich fand das gar nicht so schlimm. Es ist schließlich passiert und die Generation, mit der ich es hier zu tun habe, hat es noch miterlebt, da wundert es mich eigentlich weniger. Und ich als Deutscher, der als Freiwilliger nach Frankreich kommt, freue mich, dass mir keine Ablehnung entgegen gebracht wird und ich selbst nach so einem Satz aus dem Mund einer Französin in keinster Weise das Gefühl habe, ich hätte mich für die schrecklichen Dinge meiner Landsleute vor vielen Jahrzehnten zu rechtfertigen. Nein, man nimmt kein Blatt vor den Mund, aber wir leben heute in einem vereinigten Europa und als Europäer werde ich hier auch wahrgenommen und akzeptiert. Daher nahm ich diesen Satz nicht als grenzüberschreitend oder angreifend war. Wenn das also ihr einziger Satz ist, den sie auf Deutsch kennt, dann nur raus damit, es ist kein Tabuthema mehr. Wir haben dazu gelernt und sind heute Freunde und treue Nachbarn. Ein bisschen Zynismus schadet da sicher nicht. Das sollte aber nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Madame D. rethorisch wie der Elefant im Porzellan-Laden wütete.

Mir wurde in dieser Woche auf jeden Fall auch erstmals klar, wie anstrengend die Arbeit mit den Alzheimer-Patienten sein kann. Die Phasen, in den man stundenlang mit den gleichen Fragen gelöchert wird, sind eine echte Geduldsprobe für mich. Aber man merkt langsam, dass die zeitlichen Abstände zwischen den Fragen größer werden. Nach fast zwei Wochen bin ich vielleicht selbst den Alzheimer-Patienten nicht mehr ganz fremd, sodass ich im Unterbewusstsein inzwischen bekannt bin und daher nicht mehr so viele Fragen gestellt werden müssen.

Neben der Arbeit im pavillon sud arbeitete ich auch viel mit Sylvie zusammen. Sie ist eine sehr angenehme Persönlichkeit. Zwar immer im Dauerstress und immer von A nach B hetzend, aber man gewöhnt sich dran. Auch, dass es immer mehr zu tun gibt, als Zeit vorhanden ist. Aber deswegen helfe ich ihr ja. Diese Woche war unsere Hauptaufgabe, die Colline für ein bevorstehendes Fest herzurichten. Am 30. September beginnt nach dem jüdischen Kalender nämlich das neue Jahr. Das Jahr 5768 geht zu Ende und das Jahr 5769 beginnt. Hier sieht man gut, wie alt das Judentum schon ist. Sylvie und ich waren also damit beschäftigt, die Räumlichkeiten zu dekorieren. Wir brachten von Bewohnern angefertigte Zeichnungen an den Wänden an und in jedem Essenssaal der unterschiedlichen Gebäude klebte ich mit einzelnen Buchstaben den Schriftzug Roch Hachana an die Fensterfronten, sodass es für jeden gut sichtbar sein würde. Insgesamt dauert es so seine Zeit, alle 4 Teile der Colline zu dekorieren, also pavillon sud, batiment nord, das centre und pavillon la colline. Letztgenanntes heißt übrigens so, weil es der älteste Teil des Altersheimes ist. Der pavillon sud wurde erst letztes Jahr eröffnet und ist damit der neueste Teil. Eine Etage über den Räumlichkeiten der Alzheimer-Patienten befindet sich auch die Synagoge. Schließlich sind fast alle Bewohner hier Juden, auch wenn man es ihnen im Alltag nicht anmerkt, dass sie eine gläubige Ader haben. Ich für meinen Teil empfinde das Judentum als sehr angenehm. Aber leider waren in der Vergangenheit nicht immer alle der selben Ansicht... Ach ja, am Montag bin ich herzlich um 19 Uhr zum traditionellen, gemeinsamen Essen mit allen Bewohnern und Teilen der Angestellten eingeladen. Ein Stell-dich-ein aufs neue Jahr.

Neben dem Dekorieren für das bevorstehende Fest half ich Sylvie auch bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Aktivitäten, die meist im pavillon nord stattfanden. Ich hatte ja schon mal erwähnt, dass diese dann in ihrem salle d’animation stattfinden. Auf dem Plan steht dann zum Beispiel painture, also Zeichnen und Malen. Einige Bewohner sind richtige Künstler und Sylvie nutzt das immer, deren Werke in der gesamten Colline auszustellen. Das freut einerseits die, die ihre Werke an den Wänden wiederfinden, andererseits macht es für uns die Dekoration deutlich einfacher, da wir nicht lange nach schönen Dingen suchen müssen. Dann gibt es dann noch das Lotto, ein echter Renner hier. Einmal in der Woche macht Sylvie das, allerdings nicht in ihrem kleinen Raum, sondern im großen Essensaal eine Etage darüber. Es wollen einfach zu viele mitmachen, als dass man sie im salle d’animation unterbringen könnte. Lotto sieht hier folgender Maßen aus. Es gibt Pappkartons, auf denen 15 Nummern von 1 bis 90 stehen. Jeder wählt vor Spielbeginn einen Karton aus. Gleichzeitig bekommt jeder 15 Spielplättchen. Dann ist es Sylvie, die mit ihrer Maschine, die wirklich fast wie die aus dem Fernsehen aussieht, nur etwas kleiner ist, die Kugeln mit den Nummern zieht. Logischer Weise stehen auch auf den Kugeln die Nummern 1 bis 90. Hat ein Spieler die gezogene Nummer auf seinem Karton, packt er ein Plättchen darauf. Der erste, der den Karton voll hat, hat gewonnen. Zu gewinnen gibt es zwar keine Millionen, aber Kleinigkeiten, über die sich die Bewohner immer freuen. Sylvie kauft sie immer in irgendwelchen Ramsch-Läden. Das können Ketten sein, verzierte Dosen, oder einfach kleine Statuen. Nichts wertvolles oder teures, aber darum geht es ja schließlich in unserer Lotto-Version nicht. Die soll lediglich amüsieren und das tut sie. Es ist mit Abstand die populärste Aktivität hier. Sie hat auch den Vorteil, dass sie von fast jedem ohne Hilfe mitgemacht werden kann. Schließlich muss man nur zuhören und schauen, ob die aktuelle Nummer auf dem eigenen Karton vorhanden ist. Ich helfe denen, die es nicht ohne Hilfe schaffen, weil sie entweder schlecht hören oder sehen. Ist aber ganz schön schwer für mich, da ich noch nicht so fit bin, was französische Zahlen angeht. Zum Lernen kommt mir das aber ganz gelegen.

Zwei weitere Aktivitäten sind die revue de presse und incroyable mais vrai. In der revue de presse erzählt Sylvie in kleiner Runde einfach, was der nice matin, so die größte Tageszeitung Nizzas, in der letzten Ausgabe berichtete. So bleiben die Bewohner wenigstens etwas auf dem neuesten Stand der Dinge, was in der Welt alles geschieht. Die wenigsten hier lesen nämlich Zeitung und sind daher nicht oder kaum informiert. Incroyable mais vrai behandelt Themen, die, wie der Name schon sagt, unglaublich aber wahr sind. Sylvie kramt im Web dann immer nach skurrilen Dingen, wie zum Beispiel japanischen Robotern, die lernfähig sind. Diese Dinge präsentiert sie dann den ausgewählten Bewohnern, die von den verrückten Dingen jedes Mal höchst amüsiert sind. Diese ganzen Dinge, die Animationen, tragen dazu bei, dass der sonst etwas langweilige Alltag der Bewohner etwas aufgepeppt wird. Und es macht Spaß. Bis jetzt war mein Alltag aber eher ungeplant und ich half da, wo man mich brauchte.

Am Donnerstag kam dann eine Nachricht, die alle in der Colline in positive Spannung versetzte. Schon morgen sollten wir hohen Besuch bekommen. Für den späten Nachmittag kündigte sich Bernadette Chirac an. Sie ist stark im charitativen Bereich aktiv und so wie ich das beim Zuhören mitbekommen habe auch Vorsitzende einer Einrichtung, die sich um das Wohl alter Leute kümmert. Grund genug also, unsere Einrichtung zu besuchen. Am nächsten Tag war die Aufregung deutlich zu spüren. Als würde ein Rockstar kommen. Nicht ganz, aber eine interessante und berühmte Persönlichkeit auf jeden Fall. Ich verbrachte den Tag im Alzheimer-Teil. Mit Cathy. Wir malten und anschließend, nach dem frühen Nachmittags-Snack, wurde Musik gemacht. Der Nachmittags-Snack wird jeden Tag um 15:30 Uhr serviert und besteht meistens aus kleinen Schokowaffeln, von denen jeder 4 Stück bekommt. Ab und zu gibt es auch Kuchen. Dazu wird Cola, Limonade oder auch mal Kaffee getrunken. Madame D. ist immer ganz verrückt nach den kleinen Waffeln, gofrettes genannt. Sie will immer die erste sein, die bedient wird und oft muss sie zurecht gewiesen werden, zu warten wie die anderen auch. Auch will sie immer mehr als die anderen, aber das machen wir aus Prinzip nicht, da jeder gleich behandelt werden soll verständlicher Weise.

Nach dem goutter, so der französische Begriff für den kleinen Snack, sangen wir also und spielten dabei so gut wie möglich mit unseren Instrumenten. Das sind eigentlich nur Rasseln und Trommeln und so wirklich musikalisch klingt es selten, wenn jeder auf den Takt pfeift und mit der Rassel rasselt wie er will, sozusagen. Anstatt Musik machen wir dann eigentlich nur Krach, aber das singen klappt da zum Glück besser. Mitten im Krach machen kam dann Julie rein und teilte uns mit, dass Madame Chirac bereits da war und auf dem Weg hierher sei. Ich war richtig aufgeregt. Kam mir dabei irgendwie selber etwas albern vor, wie einer der durchgeknallten Teenager auf Tokio Hotel-Konzerten oder so. Auf jeden Fall erreichte uns dann die Truppe um Madame Chirac, begleitet vom Direktor der Colline, Monsieur Perez, vermutlich einigen Bodyguards und anderen Verantwortlichen der Colline. In einem Kreis stellten sich alle um unseren Tisch auf, an dem wir grölten und rasselten. Auf einmal winkte mich Madame Roche zu ihr und ich stand vorsichtig und bemüht unauffällig auf. Madame Chirac war leider ohne ihren Mann Jacques gekommen. Insgeheim hatte ich ja gehofft, er würde auch kommen, aber er ist sicher auch sehr beschäftigt. Ex-Präsident heißt ja nicht, dass man nix mehr zu tun hat. Schaut euch nur mal unseren Gerhard an, der hat sich gleich nach Ende seiner Amtszeit von der russischen Öl-Mafia um Gazprom kaufen lassen. War aber auch ohne Herrn Chirac genug los hier. Während die einen sangen oder so ähnlich, unterhielt sich Madame Chirac mit unterschiedlichen Leuten, bis sie von Madame Roche unterbrochen wurde. Die hatte echt die Nerven, mich ihr vorzustellen. Na halleluja, was soll ich der denn sagen? Sie gab mir die Hand und Madame Roche erledigte das Reden für mich, sie sagte ja aber auch nur, dass ich Freiwilliger aus Deutschland sei und ein Jahr hier bleiben würde. Madame Chirac lächelte und sagte nur bravo und dass sie es toll fände, wenn junge Leute so was machen würden. Coole Sache. Kaum zwei Wochen hier und schon nem Promi die Hand geschüttelt. Irgendwie war ich ja schon stolz. Die anderen wurden ihr nicht vorgestellt.

Nach wenigen Minuten war das Spektakel wieder vorbei, die Truppe verließ den Alzheimer-Teil und wir machten im Programm weiter. Wir sangen noch etwas, dann war es auch schon 17:30 Uhr und mein Arbeitstag damit zu Ende. Ich verabschiedete mich und ging zur pointeuse im batiment nord.

Als ich wieder am batiment sud und dem Parkplatz vorbeilief, fuhr gerade der Wagen mit Madame Chirac an mir vorbei. Man erkannte sie trotz leicht getönter Scheiben sehr gut, da sie einen grellen, pinken Anorak trug. Und dann war sie auch schon wieder weg. Aber ich hab noch mal einen letzten Blick auf sie erhaschen können.

Ich ging dann weiter, hoch auf mein Zimmer. In die Stadt würde ich heute nicht mehr gehen. Anstatt dessen schrieb ich wieder einiges. Das übliche Programm eben. Auch wenn das Wetter gut war, ich war zu faul, um noch weg zu gehen. Das Wetter änderte sich dann aber schlagartig und gegen 23 Uhr, als ich schon im Bett lag, begann es zu gewittern.

Und wie. Ich nutzte die gute Lage meines Zimmers, um die zahlreichen Blitze zu fotografieren und das Ergebnis kann sich auf jeden Fall sehen lassen. Ich stand also etwa eine halbe Stunde am offenen Fenster und beobachtete und knipste die vielen Blitze, die das Meer und die Küste erhellten. Irgendwann war es dann aber auch wieder vorbei und ich ging zurück ins Bett.

Das Wochenende verlief wie das vorherige. Surfen bei McDonalds und spazieren am Meer entlang. Sich langsam mit der Gegend vertraut machen. Ankommen, wie meine Mutter sagen würde. Ich kam jetzt zwar schon seit zwei Wochen an, aber ich verspürte nicht den Drang, groß was zu unternehmen oder gezielt Leute kennen zulernen. Das war nämlich die häufigste Frage, die mir per MSN oder sonst wo gestellt wurde. Ob ich denn schon Leute kennen gelernt hätte. Nein, außer die Leute der Colline niemanden bisher, aber ist auch nicht schlimm. Ich werde 52 Wochen hier verbringen, warum sollte ich mich da hetzen, unbedingt Leute kennen lernen zu wollen, wie es immer alle erwarten... Ich gehöre nicht zu der Sorte unausgeglichener Menschen, die denken, was zu verpassen, wenn sie unaktiv sind. Ich brauch eben bei allen Dingen immer etwas länger als andere, ich bin gemütlich und mach mir keinen Stress. Ich werde sicher noch früh genug unter Menschen kommen in meiner freien Zeit, da mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Zuerst schaue ich mir alles in Ruhe an, die französische Lebensart, die Eigenarten der Franzosen und gewisse Kleinigkeiten, die anderen so vielleicht nicht auffallen, weil sie nur am Kennenlernen sind. Und Dinge, die mir aufgefallen sind, gibt es einige. Eine der lustigsten Dinge haben wir der Polizei zu verdanken. Es ist mir rein zufällig beim Vorbeigehen an einer Polizei-Wache aufgefallen, die nur wenige Meter neben McDonalds auf dem Weg zum Bus liegt. Vor der Wache befinden sich Ständer für Fahrräder und Roller. Und als aus der Wache zwei Polizisten kamen und auf zwei identische Roller stiegen, auf denen groß das Wort POLICE steht, traute ich meinen Augen nicht. Die haben hier ohne Scheiß Polizei-Mofas. Wie angsteinflößend und antiautoritär ist das denn? Wen wollen die denn damit im Notfall verfolgen? Elektromobile von Senioren, die auf 25 km/h begrenzt sind? Ohne Worte. Ich musste mir ein Grinsen echt verkneifen, als ich da an der Wache vorbei lief. Das hatte ich echt noch nicht erlebt. Ob man damit auf den Straßen für mehr Ordnung sorgen kann?

Von den chaotischen Szenen auf den Straßen habe ich ja schon erzählt, aber inzwischen weiß ich, dass die hier alle total geistesgestört sind, so wie die fahren. Echt unbeschreiblich. Die Rollerfahrer sind die Krönung. Für die scheint es keine Regeln zu geben. Die fahren, wie sie wollen. Dagegen waren die chronisch zu schnellen italienischen Mofa-Kollonen aus Florenz gar nix und die waren schon echt heftig. Der absolute Gipfel jeglicher Hirnlosigkeit ist hier in Nizza der Pizza-Lieferant. Natürlich auf nem Mofa. Damit die Pizza nicht kalt wird, wird eine rote Ampel wie eine grüne behandelt, der Bürgersteig zur Autobahn gemacht und auch sonst alle Regeln im Straßenverkehr gebrochen. Wenn ich von weitem so eine wildgewordene Pizza auf Rädern sehe, bin ich immer in erhöhter Alarmbereitschaft. Ihr denkt, ich übertreibe? Würde ich auch denken, aber das muss man gesehen haben, um es zu glauben. Die sind echt jenseits von gut und böse. Aber auch die Autofahrer haben ein Ei am wandern. Ich bin Verkehr in der Großstadt ja nun schließlich gewöhnt, aber das hier toppt alles.

Auch die Busfahrer fahren etwas rasanter, als die Kollegen der BVG. Oft sehr ruckartig und daher nicht unbedingt angenehm. Ich habe zwar schon über die Busse hier geschimpft, aber hilft ja alles nix, was raus muss, muss raus. Eines Abends hat ein Busfahrer unseren 22er die Berge hochgejagt, dass sogar ich dachte, er hätte 10 Sekunden Rückstatt auf Michael Schuhmacher. Der Bus war fast leer und ich genoss auf dem vordersten Sitz die schnellste Fahrt von der Innenstadt zur Colline aller Zeiten. Was normaler Weise um die 20 Minuten und länger dauern kann, je nach Tageszeit, schaffte unser Rennfahrer in 8.

Ab und zu erlebt man in den Bussen aber auch lustige Geschichten. Zumindest ich schmunzele dann und hoffe, dass ich den Moment nicht vergesse, bis ich wieder einmal vor Word sitze. Da der 22er ja an der Uni und auch an den Studentenwohnheimen vorbeifährt, ist der Bus dementsprechend besetzt. Eines Abends war der mal wieder bis unters Dach gefüllt, inklusive zwei jungen Studentinnen aus Korea oder Japan, voll bepackt mit Lebensmitteltüten. Und irgendwie, desto länger ich zuschaute, bekam ich das Gefühl, dass es das erste Mal sein musste, dass die beiden Bus fahren. Die ganze Fahrt über haben sie nicht verstanden, dass sich Festhalten eine auf jeden Fall gute Option in den Bussen hier ist. Eben wegen der Fahrweise der Busfahrer. Anstatt dessen wurde mit den Händen lieber der Einkauf in den Tüten beschützt, auch wenn die beiden bei jeder Bremsung erschrocken aufschrieen und sich vergeblich probierten, in letzter Sekunde doch noch irgendwo festzuhalten. Nach jeder Bremsung landeten sie daher an irgendwelchen Ellbögen und Brustkörben von anderen Leuten. So voll, wie der Bus war, konnte zum Glück nicht mehr passieren, die umstehenden Passagiere verhindern ein Hinfallen ja zwangsweise. Das sind auf jeden Fall Momente, in denen man überlegt, ob gewisse Klischees nicht doch zutreffen. Quietschende, unbeholfene Asiatinnen. Ich fands amüsant und die anderen auch, das ein oder andere Grinsen habe ich entdeckt und insgeheim wartete wohl nicht nur ich auf die nächste Bremsung. So ein bisschen wie diese bekloppte Serie, die früher auf DSF und jetzt auf RTL 2 läuft. Taikeshis Castle oder wie die heißt. Zum brüllen, wie sich einige Leute im Fernsehen freiwillig zum Horst machen. Nun, das hier war life. Wie auch immer, an der Uni und den Wohnheimen der Studis stiegen die beiden dann sichtlich erleichtert aus. Ist schon ne Tortour, so ein europäischer Bus, nicht wahr? Wie kann man das freiwillig jeden Tag machen? Na ja, man hält sich in erster Linie gut fest, dann passiert auch nix. Aber psssst, nicht weitersagen.

Aber auch beim Warten auf den Bus hat man selten Langeweile. Und desto öfter ich an irgendwelchen Haltestellen wartete, desto klarer wurde mir, dass ich bei weitem nicht der einzige war, der die Fahrpläne nicht kapierte. Oder anders ausgedrückt: Die, die die Pläne vielleicht verstehen, haben kein Vertrauen darin, dass der Bus pünktlich und zuverlässig kommt. Denn jedes Mal werde ich an der Haltestelle von anderen Passanten gefragt, ob der letzte 22er schon gekommen sei. Von Einheimischen teilweise auch. Gott sei dank, ich bin nicht der einzige ohne Plan. Man wartet dann gemeinsam oder hört einfach den Gesprächen der anderen zu. Da war zum Beispiel eine Gruppe italienischer Touristen, eine Familie vermutlich, die sich die ganze Zeit mit dem Wort Bonjour beömmelten. Es ging wohl irgendwie darum, dass jemand das Wort komisch ausgesprochen hatte und jetzt hörte man nur noch Jou-Jou und nicht endendes Gelächter. Jou-Jou von Bonjour versteht sich. Auf jeden Fall unterhielt diese Truppe die ganze Haltestelle.

Und dann ist da noch die Frau mit ihrem Hund, die ich jetzt schon öfter hier getroffen habe. Wenn man immer den gleichen Bus um die selbe Zeit nimmt, kennt man irgendwann einige Leute, die ebenso immer um die Zeit nach Hause wollen. Diese Frau auch. Ihr Hund ist schwarz, keine Ahnung welche Rasse, aber ein schöner Hund. Eine Hündin, wie ich inzwischen weiß. Jedes Mal erzählt die Dame mir, wie gerne sie Bus fährt. Sie ist etwas sonderlich. Sie redet auch im Bus, wenn keiner zuhört. Aber ihre Hündin fährt wirklich gerne Bus. Ab und zu reist sie sich schon los, wenn der Bus anhält, springt rein und wartet dann auf ihrem Standart-Platz auf Frauchen. Echt drollig zu beobachten. Aber auch so kommt man hier erstaunlich schnell mit anderen Leuten ins Gespräch. Ich hab schon Gespräche mit nem Tunesier geführt und mit einer Schweizerin. Sie hat mich erst auf Französisch angesprochen, weil sie auf meiner Laptop-Tasche sah, dass dort Montreux 2000 steht. Scheint ne Stadt in der Schweiz zu sein. Sie fragte dann, ob ich Schweizer sei und als ich erklärte, dass ich aus Berlin sei, redeten wir auf Deutsch weiter. Sie hörte sehr interessiert zu, dass ich Zivildienstleistender hier sei. Sie wusste nicht, dass das möglich sei. Dann fügte sie hinzu, dass für Schweizer diese ganzen Dinge eh nicht so einfach seien, da man ja nicht in der EU sei. Ich zitiere sie mal „Wir sind die einzigen Weißen, die in Berlin-Tegel durch den Zoll müssen.“ Arme Schweiz dachte ich nur grinsend. Sie war hier, um ein Diplom in Französisch zu machen, Fachrichtung Computersprache. Sie sei Lehrerin, spreche schon fast fließend Französisch, nur die ganzen neuen Begriffe aus der PC-Welt kenne sie nicht, daher belege sie einen Kurs an der Uni hier. Es war ein nettes Gespräch. Und zugleich das erste Mal, dass ich hier richtig Deutsch sprach. Wie sich Dinge doch ändern können.

Die ersten zwei Wochen in Nizza gingen erstaunlich schnell rum. Und es gab gewisse Dinge, die schon jetzt zur Gewohnheit wurden. Wenn ich morgens das Haus verließ und die Treppen hinab lief, blickte ich immer einen Moment aufs Meer hinaus. Denn es sah jeden Morgen anders aus, immer leuchtete es in unterschiedlichen Farben. Mal dunkelblau, mal schwarz, mal türkis. Mal war es ruhig und ein anderes Mal total aufgewühlt, weil es windig war. Ich liebe diesen Blick auf das Meer. Man überblickt alles und immer scheint es einen zu begrüßen, mit weit ausgebreiteten Armen, immer strahlend und man wusste genau, dass es auch morgen da sein würde. Und abends freute ich mich schon beim Aussteigen aus dem Bus auf das aufgewühlte etwas namens Elliot, das mich wieder begrüßen würde. Inzwischen kannte er mich gut und kläffte nur noch fröhlich, nicht mehr ängstlich wie am Anfang. Und ich hatte echt das Gefühl, als würde er auf mich warten. Ich kam ja meistens zur gleichen Zeit. Und wenn sonst keiner da war, der ihn kurz kraulte, dann lohnte es sich doch, auf mich zu warten, oder? Ach ja, da ist noch diese eine Laterne gegenüber der Haltestelle der Colline stadteinwärts. Immer, wenn ich mit dem Bus ankomme und eine Station laufen muss, weil er abends schon am Krankenhaus endet, dann komme ich an dieser einen Laterne vorbei. Und immer, wenn ich unter ihr vorbei laufe, geht sie aus. Wenn ich dann wenige Meter weiter gelaufen bin, geht sie wieder an. Sie hat einen Wackelkontakt, aber warum immer dann, wenn ich an ihr vorbei laufe? Strahle ich irgendwelche magnetischen Impulse ab, oder was? Ich hab auch schon mal probiert, einfach stehen zu bleiben. Sie blieb aus. Aber kaum bin ich zwei Schritte weiter gelaufen, ging sie wieder an. Ich habe mich dann zu ihr umgedreht und sie angeschaut, als wolle ich fragen, ob sie mich verarschen wolle. Keine Antwort. Komisches Gerät. Da stellt sich schon mal leichte Paranoia ein. Schon von weitem lugt man dann zu ihr hoch. Verfolgt von ner Laterne. Alles klar, Simon, war ein langer Tag und eine anstrengende Woche. Geh jetzt schlafen.

Samstag, 1. November 2008

Tag 20 und 21, das erste Wochenende:

Ich hatte mir für das Wochenende nichts konkretes vorgenommen. Außer, dass ich mit der nun etwas großzügiger vorhandenen Zeit die Innenstadt genauer erkunden wollte. Ganz so früh kam ich dann aber dann doch nicht los. Ihr kennt das ja. Samstage verbieten es einfach, vor 10 Uhr auch nur ein Auge aufzumachen. Nach gemütlichem Frühstücken und einigen Zeilen in meinem interaktiven Tagebuch, so jetzt der interne Name dieses Texte hier, raffte ich mich dann aber doch auf und mit Laptop und Foto bewaffnet schlug ich gegen 16 Uhr in der Stadt auf. Super, damit hatte ich schon mal drei Stunden zum Erkunden gegenüber einem Wochentag gewonnen. Ich landete komischer Weise aber wieder sehr schnell (eigentlich ohne Umwege) bei McDoof. Ich war mitteilungsbedürftig, also rief ich zum ersten Mal meinen Vater per Skype an. Klappte auch gut, die Qualität war okay. Und während ich so schön erzählte, fuhr einige Meter vom Strand entfernt eine Jacht vorbei.

Aber was für ein Teil sage ich euch. Wie viele Millionen die verschluckt hatte, wollte ich lieber gar nicht wissen. Aber dass sie nach Monaco unterwegs war, war klar. Ich saß wieder an meinem inzwischen zum Stammplatz erkorenen Sitz genau am Fenster mit Blick auf die Promenade des Anglais, den Boulevard und das Meer. Also nutzte ich die Möglichkeit, holte meinen Foto raus und knipste die Jacht. Dann steckte ich die Chipkarte in mein Kartenlesegerät an der Front meines Laptops, und noch während die Jacht da so vor sich hin protzte, hatte ich das Bild meinem Vater per MSN geschickt. Ich fands geil, jemandem ein Bild zu schicken, während man per Internet mit ihm telefoniert und ihm dann sagt, dass das Bild 30 Sekunden alt ist. Mittendrin statt nur dabei sozusagen. Hach ja, ich liebe das 21. Jahrhundert. Ist genau mein Ding. Andere live an seinen Erlebnissen teilhaben zu lassen, that’s entertainement. Ups, falsche Sprache...

Irgendwann war Kollege Akku dann die Luft ausgegangen und ich machte mich wieder auf die Socken. Da es aber noch relativ früh war, ging ich auf dem Boulevard nach Osten zwar Richtung Bus und großer Platz, aber ich bog diesmal nicht ab, sondern ging weiter, immer am Meer entlang. Zum ersten Mal bemerkte ich, dass der Strand nicht gerade einladend war. Anstatt Sand, wie ich ihn hier eigentlich erwartet hatte, sah ich große Steine, so groß wie Eier. Darauf lagen dann die Leute mit ihren Handtüchern. Dass das bequem sein würde, konnte ich mir nicht vorstellen. Einige Meter weiter gab es dann aber einen Teil mit aufgeschüttetem, feinem Sand. Sah zwar komisch aus zwischen dem normalen Strand mit seinen Steinen, aber zumindest ist es bequemer und aus der senkrechten sieht man den anderen Teil ja eh nicht. Auf jeden Fall war ich etwas enttäuscht. Den Strand hatte ich mir anders vorgestellt.

In dem türkis schimmernden Wasser konnte man zwar sicher gut schwimmen, aber zu einem perfekten Badeort gehört neben dem Wasser nun mal auch der perfekte Sandstrand. Oder warum ist wohl die Karibik der Innbegriff für Traumferien am Meer? Es gibt keine Steine. Ich lief weiter und es ging leicht bergauf in eine Rechtskurve. Die Straße und die Promenade umkurven hier eine kleine Landzunge, die erhöht liegt. Auf Höhe des Strandes drehte ich mich um und blickte die gesamte Promenade hinunter. So ist auch das Titelbild dieses Blogs entstanden. Man hat dort eine echt schöne Aussicht. Hinter der Kurve und der kleinen Landzunge schaut man in Richtung Hafen. Dort fahren die Fähren nach Korsika und wahrscheinlich auch viele Kreuzfahrtschiffe ab. Ich war aber zu faul, um weiter zu laufen, daher drehte ich wieder um.

Mir fiel aber ein in die Wand eines kleinen Berges eingemeißeltes Denkmal auf. Es war ziemlich groß. Da ich zu weit weg war, immerhin lag die Straße und das Gelände vor dem Denkmal dazwischen, konnte ich aber nicht erkennen, worum es sich handelte. Später konnte ich aber auf dem PC beim zoomen erkennen, dass dort unter anderem 4 Jahreszahlen eingraviert sind, 1914, 1918, 1945 und ganz links war nur eine halbe 9 als letzte Ziffer zu erkennen. Also 1939 wahrscheinlich. Die Jahreszahlen der Anfänge und Enden der beiden Weltkriege. Wie es am Meer so ist, dürfte es sich dann also um ein Marinedenkmal handeln, das den gefallenen französischen Soldaten gedenkt, die in Seeschlachten gefallen sind. Auf meiner Straßenseite war ebenfalls ein Denkmal errichtet. Ein Kreuz mit zwei vermerkten Daten. 1829 und 1871. Zumindest 1871 sagt mir was. Das Jahr der Französischen Revolution. Ob es einen Zusammenhang zum Meer gibt weiß ich nicht. Also noch was zum googlen. Ich ging dann wieder zurück, zudem sich der Himmel etwas bedeckt hatte und es unangenehm kalt ohne Sonne war.

Der Weg zurück ging natürlich etwas schneller. Muss ja nicht alles zwei Mal fotografieren. An der Stelle, wo man sich oberhalb des Strandes befindet, blieb ich aber wieder stehen, denn durch die Wolken entstand ein tolles Bild, insbesondere in den Momenten, als die Sonne sich durchkämpfte und das Meer schimmern lies. Zeitgleich waren mehrere Boote unterwegs, die Leute in Fallschirmen hinter sich herzogen. Das gab ein tolles Motiv ab. Das Auge für so Sachen habe ich sicher von meiner Mutter. Die ist ja schließlich Fotografin und hat mich mit dem Knips-Wahn angesteckt. Bin ich aber dankbar für, so entgeht mir und euch kein Moment meiner Erlebnisse. Also denkt daran, wenn ich euch das nächste Mal wieder mit meiner kleinen Kamera nerve, wozu es alles gut sein kann.

Ich fuhr an diesem Samstag also etwas früher zurück in die Colline als sonst. Den Abend verbrachte ich mit Schreiben und Musik. Nichts, was jetzt groß überraschend kommt also. An diesem Abend brachte ich knapp 2.000 Wörter zu Papier beziehungsweise Tastatur. War auch nötig, denn ich war ziemlich im Verzug. Ich war nicht mal mit Hirschluch durch. Das war ja aber schon fast zwei Wochen her und in der Zwischenzeit war schließlich so einiges passiert, was es wert war, berichtet zu werden. Dementsprechend motiviert hämmerte ich stundenlang auf meine Tastatur ein. Mein neuer Laptop erwies mir dabei weiterhin sehr gute Dienste. Trotz anfänglicher Bedenken gegen Vista musste ich bis hier hin zugeben, dass ich absolut nichts zu beanstanden hatte. Abgesehen davon war der Laptop aber auch von der Hardware ein wirklich guter Kauf. Mehrere Anwendungen gleichzeitig durchführen, Windows Media Player und Need 4 Speed Hot Pursuit 2 parallel, alles kein Problem und ohne Einschränkungen durchführbar. Ich war absolut zufrieden. So macht arbeiten Spaß. Bei meinem alten PC in Berlin konnte man sich immer schön einen Kaffee kochen, die Oma anrufen und noch duschen, während man darauf wartete, dass Strg+Alt+Entf. reagierte. Aber die Zeiten waren vorbei.

Der Sonntag begann wie der Samstag erst nach sehr ausgiebigem Ausschlafen. Dank der nymphomanischen Muse, die mich scheinbar nonstop beglückte, ging das Schreiben schon während des Frühstücks weiter. Anschließend machte ich mich wieder auf den Weg in die Stadt. Funktionierendes Internet hatte ich ja nun schließlich gefunden. Im Gegensatz zu dem Rad, das vielleicht noch irgendwo darauf wartete, abgeholt zu werden. Auf den Bus hatte ich langsam echt keinen Bock mehr. Sie waren unzuverlässig, langsam und förderten nicht gerade den Stressabbau.

Wer nämlich denkt, dass Nizza ja nicht so groß ist und daher relativ wenige Verkehr hat, dem darf ich hier freundlichst vom Gegenteil berichten. Es gibt da so eine Ecke, an der zu gewissen Tageszeiten die Hölle los ist. Es ist der Ort, wo sich eine Autobahnabfahrt und mehrere Straßen kreuzen. Wer dann noch die Parkgewohnheiten der Franzosen kennt, die gelinde ausgedrückt der reinste Wahnsinn sind, kann sich vielleicht vorstellen, welche Freude es ist, in einem überfüllten Bus zu hocken, der alle paar Meter stoppt, weil es zu eng wird. Die Straßen sind nicht wirklich der Größe der darauf fahrenden Fahrzeuge entsprechend. Oder anders gesagt: Halteverbotsschilder werden hier selbstverständlich ignoriert. Wenn ich kurz einkaufen will und keinen Parkplatz finde, stelle ich die Karre eben auf der Busspur ab. Busspur ist eigentlich auch Quatsch, denn die reicht maximal für zwei Mofas nebeneinander. Wenn dann auf der Gegenspur auch jemand einkaufen muss, dann entstehen die Engpässe, die früher oder später die ganze Kreuzung Lahmlegen. Und das ganze endet dann damit, dass sich zwei Busse entgegenkommen. Dann kann man sich darauf vorbereiten, den Terminplan etwas nach hinten zu verschieben. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich will ein Rad verdammter Mist. Dann werd ich an allen Autos vorbeifahren, die mal wieder nicht vorwärts kommen und werde ihnen grinsend den Mittelfinger zeigen. Ich hab Null PS, Null CO²-Emissionen und komme trotzdem schneller vorwärts als ihr, haha. Übrigens der Grund, warum ich bisher keine Notwendigkeit sah, einen Führerschein zu machen.

Ich verbrachte einige Stunden bei McDonalds und surfte nach Herzenslust, schrieb Mails an Nicola, Heidi und Lars und schrieb per MSN. Lars fragte ich in der Mail, ob er mir eine genauere Beschreibung der Lage des Rades geben könne. Vielleicht gab es ja noch Hoffnung. Anschließend ging ich wieder an die Promenade und beobachtete das Treiben.

Ich ging einige Schritte und da entdeckte ich es. Das Herz Nizzas. In den Sand gemalt. Und es schlug auch bei eher magerem Wetter. Es war zwar nicht kalt, aber verregnet. Die Nacht zuvor hatte es geschüttet wie aus Kübeln und auch heute sah es so aus, als könnte es jederzeit wieder anfangen. Hinter einer weiteren Landzunge, hinter der kleinen von gestern, kam ein großes Kreuzfahrtschiff zum Vorschein. Ich verfolgte es einige Minuten, wie immer mehr Lichter auf ihm angingen, da es dunkel wurde. Irgendwann stoppte es und schließlich vollführte es eine Wende. Keine Ahnung warum. Es stoppte. Oder fuhr so langsam, dass man es vom Strand aus nicht erkannte. Von links kam ein noch größeres Schiff hinter der Landzunge hervor. War ja ganz schön Betrieb hier. Und scheinbar war das Kreuzfahrtterminal nicht dort, wo die Fähren abfuhren, nämlich in hinter der ersten kleinen Landzunge. Ich wartete, bis die beiden Riesen auf gleicher Höhe waren. Rechter Hand waren inzwischen auch die Lichter der Landebahnen des Flughafens angegangen und überall sah man Positionslichter an Flugzeugen blinken. Ab und zu startete eines an der Promenade vorbei, eine Kurve vollführend aufs Meer hinaus rasend. Es machte spaß, die ganzen Lichter zu beobachten, die zu Land, zu Wasser oder in der Luft blinkten und blitzten.

Dann war es ganz dunkel und es war inzwischen auch etwas kühl, um noch länger stehen zu bleiben. Ich machte mich also auf den Weg zum Bus. Dort das übliche Geschehen. Nach System kam hier sicher kein Bus, das war mir inzwischen klar, sodass ich mir auch keine Mühe gab, auf den Plan zu schauen. Diesmal stieg ich zur Abwechslung mal dort aus, wo ich hinmusste. Die Haltestelle heißt sogar „La Colline“, wie das Altersheim. Und als würde er auf mich warten, kläffte mich beim Erreichen des letzten Treppenabschnittes wieder Elliot zur Begrüßung an. Diesmal aber weniger ängstlich, wie mir schien. Ich beugte mich hinunter zu ihm, um ihn schnuppern zu lassen. Damit du mich beim nächsten Mal schneller erkennst, zwinkerte ich ihm zu. Er schnupperte auch an meiner Tasche. Ich hab leider nichts für dich kleiner. Wenn, würde ich dir was abgeben. Ich fragte mich, ob er mich überhaupt verstehen würde, da ich ja deutsch redete. Lustig, oder? Menschen sind so komisch, dass sie manchmal echt denken, Hunde würden nur die Sprache des Landes verstehen, in dem sie leben. Ich verabschiedete mich von meinem neuen Freund und ging aufs Zimmer. Nach Musik und word war auch dieser Tag und damit mein erstes Wochenende in Nizza zu Ende Morgen früh würde die nächste Woche losgehen und ich freute mich darauf. Wird sicher spannend. Mit diesen Gedanken schlief ich schnell ein.