Samstag, 18. April 2009

Die Reise, Teil 1

Irgendwann und fast unbemerkt ist der langersehnte Tag dann schneller da, als man denkt. Waren es eben noch einige Wochen bis zur Abreise nach Paris, erinnerte mich jetzt Cathy, wie so oft daran, dass wir heute das letzte Mal im Jahr 2008 zusammenarbeiten würden. Mit der singenden Schulklasse endete für mich das Jahr 2008 an der Colline. Ja, ein bisschen vermissen würde ich die Colline schon, aber gegen nichts in der Welt würde ich jetzt Paris und Berlin eintauschen wollen. Ich komme nach Hause, nach über 3 Monaten. Ein komisches Gefühl. Aber bevor es losgehen konnte, musste ich noch einiges erledigen. Die Arbeit für Nadja hatte ich im Laufe des Montages erledigt. Viel zu tun war eh nicht und Sylvie gab mir die Freiheit, mich in den salle d’animation zu setzen und alles Nötige fertig zu machen. Zum Glück arbeitete Nadja Montags immer bis 19:30 Uhr, da war noch ausgiebig Zeit, auch nach Feierabend im salle zu bleiben, bis ich alles übersetzt und beantwortet hatte und ein halber Jurist war. Nadja war überglücklich und spürbar erleichtert, als ich ihr die Unterlagen gab. Jetzt bist du mein Engel, sagte sie grinsend. Tja, eine Hand wäscht die andere, antwortete ich zwinkernd. Sie ist echt ein toller Mensch. Und ihre Tochter ist richtig hübsch, ich hab das Foto auf Nadjas Handy gesehen.

Gegen 20 Uhr machte ich mich in die Stadt auf. Denn eine wichtige Sache war noch nicht vollendet. Mein erster Projektbericht. Der sollte eigentlich bis zum 14. Dezember an Nicola gesendet werden, aber wie so oft ist man in der Vorweihnachtszeit alles, außer Herr seiner Zeit. Der Text war schon fertig und mit mehr als 6.000 Wörter hatte ich mich mal wieder selber übertroffen. Aber das Wichtigste an so einem Bericht fehlte noch und das waren die Bilder. Der beste Bericht ist nur halb so gut ohne Bilder. Zum Glück hat mir ein Teil meiner Eltern da ja das passende Fähigkeit mitgegeben. Und der andere Teil hat für die 6.000 Wörter gesorgt, sozusagen. Vor McDonalds ging ich noch zu LeaderPrice, um für den morgigen Tag etwas Reiseproviant zu kaufen. Und als ich bei McDonalds ankam, hatte ich erste Zweifel, rechtzeitig fertig zu werden, wollte ich noch den letzten Bus bekommen. Gegen 22 Uhr war der Bericht fertig, der Bus aber längst weg. Ich schickte die Datei meinem Vater, damit er aus der Word-Datei ein PDF erstellen konnte. Das Programm dazu geht bei mir irgendwie nicht. Nie klappt was, wenn man es dringend benötigt...

Ich gab meinem Vater letzte Informationen, wie er es an Nicola schicken sollte. Ich wollte nach Hause. Schon die letzte Nacht hatte ich wenig geschlafen, da ich bis 3 Uhr in der Früh an der Übersetzung für Nadjas Tochter gesessen hatte und so wollte ich diese Nacht wenigstens etwas Schlaf nachholen. Ist aber quatsch, denn um 6 musste ich ja schon wieder auf den Beinen sein, um mich fertig zu machen und zum Flughafen zu fahren. Aber erst einmal stand mir ein Spaziergang in die Berge bevor, mit einer Einkaufstüte und der Laptoptasche bepackt, zudem es leicht angefangen hatte zu regnen. Ich verabschiedete mich von der obdachlosen Frau bei McDonalds, die mir ganz lieb ein fröhliches Fest gewünscht hatte. Es klang komisch, ihr das selbe zu wünschen. Sie tat mir leid. Sie schien alles andere als dumm zu sein, aber an irgendeinem Punkt ihres Lebens war ihre Existenz wohl gescheitert. Und trotzdem bemühte sie sich immer, einem ein warmes Lächeln zu geben. Das ist für mich wahre Größe. Von ihr könnten sich die meisten anderen Menschen mal eine Scheibe abschneiden.

Ich hatte unterschätzt, wie anstrengend das Laufen bergauf sein kann. Ich brauchte fast eine Stunde und als ich angekommen war, war ich ziemlich erschlagen und meine Schultern schmerzten. Taten sie auch noch zwei Tage danach. Ich richtete den größten Teil meiner Sachen, aß noch eine Schüssel Cornflakes und ging ins Bett. Da war es schon 1 Uhr. 5 Stunden Schlaf also. Uff. Na ja, bin ja jung. Am nächsten Morgen packte ich den Koffer fertig, was nur 10 Minuten dauerte, ging schnell duschen und kontrollierte, ob alles okay war und ob ich mein Zimmer so zurücklassen könnte. Jap, war alles okay. Ich machte mich mit meinem verkrüppelten Koffer also ein weiteres Mal auf die Reise. Die Fahrt zum Flughafen dauerte etwa eine Stunde. Er liegt zwar nur 7 km westlich der Stadt, aber erstens musste ich an Grimaldi aussteigen, das gewohnte Stück zu McDonalds laufen, um dort in den Bus 98 umzusteigen, der direkt zum Airport fährt. Und zweitens steckte dieser eine gute halbe Stunde in der morgendlichen Rushhour an der Promenade des Anglais fest. Um kurz vor 9 war ich da, der Bus hielt zum Glück direkt vom Terminal 2. Klein ist der Flughafen Nizzas nämlich nicht. Der Weg ins Terminal 1 hätte mich mit den ganzen Sachen sicher eine gute Viertelstunde gekostet. Aber wie gesagt, ich musste ja vom T 2 abfliegen, daher war alles cool.

Schnell fand ich den Check-In-Schalter, an dem nicht viel los war und gab mein Gepäck ab. Ich will ja nicht angeben, aber mit Flughäfen kenne ich mich inzwischen bestens aus, so oft wie ich unterwegs bin. Ein geiles Leben. Meinen Laptop hatte ich mitsamt Tasche im Koffer verstaut und nur die Tüte mit Mamas Geschenk als Handgepäck deklariert. Vorher erklärte ich der Dame am Check-In aber, dass sich darin eine Vase befände und diese so zerbrechlich wäre, dass ich sie nicht in den Koffer quetschen wollte. Sie sagte mir, dass sie meinen Koffer auf dem Band stehen lassen würde, falls es bei der Sicherheitskontrolle bedenken wegen des Gegenstands aus Glas geben würde. Dann solle ich zurück kommen und die Vase in den Koffer tun. Aber ich kam ohne Probleme durch die Kontrolle und so saß ich schon um kurz nach 9 vor meinem Schalter mit der Nummer A01, an dem auch schon der Easyjet-Flug nach Paris-Orly angezeigt war.

Ich war zwar relativ spät aus dem Haus gegangen und hatte mir Sorgen gemacht, nicht rechtzeitig zum Ende des Check-Ins um 9:40 Uhr am Flughafen zu sein, aber dass es dann doch so schnell gehen würde, hätte ich nicht gedacht. Und dann kam die Ansage, dass wegen schlechtem Wetter in Paris mein Flug etwa eine halbe Stunde Verspätung haben würde. Na ja, halb so wild, ich musste bis 14 Uhr im Foyer Le Pont sein, das sollte eigentlich trotz Verspätung reichen. Ich kaufte mir in der Nähe meines Schalters einen Kaffee, der nicht der leckerste war, einen dafür umso besseren Schoko-Croissant und eine Packung Kaugummis. Gegen den Druck im Flieger. Funktioniert wirklich, man braucht gar keine Medikamente gegen Reiseübelkeit kaufen, da es einfaches Kaugummi auch tut. Zumindest bei kürzeren Flügen. Auf dem Vorfeld rollte in dem Moment gerade die Delta Airlines Boeing 767 aus New York JFK vorbei und die war knappe 8 Stunden in der Luft gewesen. Ob ich auch das ohne Probleme überstehen würde? Kommt auf einen Versuch an, oder?

Aus der halben Stunde Verspätung wurde eine Stunde und auch hier in Nizza war das Wetter inzwischen ziemlich beschissen. Es stürmte und regnete stark. Dann landete unser Airbus A319 aus Paris-Charles de Gaule und wenige Minuten später stiegen wir ein. Ich war in Boarding-Gruppe B und musste daher am längsten auf den Einstieg warten. Zuerst kamen die SB’ler, diejenigen, die das sogenannte Speedy-Boarding mit dem Ticket gekauft hatten. Die dürfen dann vor allen anderen das Flugzeug betreten. Kostet aber was. Nicht viel, aber ich habe auch ohne SB bisher noch immer einen Fensterplatz bekommen. Dann kommen Familien mit Kindern und danach die Boarding-Gruppe A. Und dann ich. Die Maschine war fast voll, aber ich hab mir trotzdem den letzten freien Fensterplatz gesichert. Genau über der rechten Tragfläche, an einem der Notausgänge, der bei diesem Flugzeugtyp unter anderem über den Tragflächen liegt. Kennt man ja, die Ansagen.

In this Airbus A 319 there are two emergency exits in the front and two in the rear of the cabin as well as 4 overwing exits. Even if you are a frequent flyer we would like you to read carefully your safety cards in the pocket in front of you. The whole team of Easyjet wishes you a pleasent flight to Paris-Orly.

Ich glaube, ich kann das inzwischen auf drei Sprachen auswendig mitsprechen. Wie auch immer, die Notausgänge über den Tragflächen erfreuen sich aus irgendeinem Grund nicht der größten Beliebtheit, da man im Falle eines Notfalls eigenständig die kleine Tür öffnen müsste. Wenn sich die Leute so viel Verantwortung nicht zutrauen, ist es Simon, der Danke für den freien Fensterplatz sagt. Ich habe Vertrauen in die Luftfahrt in Europa und kenne die geringe Wahrscheinlichkeit, dass ich diese Tür jemals auch nur anfassen müsste. Wir wurden vom Gate geschoben, rollten zur Startbahn und bereits auf dem letzten Taxiway, den Rollwegen, die zu den Startbahnen und zu den Terminals führen, gab der Pilot Gas und ohne anzuhalten bog er auf die Startbahn ein, beschleunigte die Maschine auf knappe 280 km/h und schon nach 30 Sekunden erhoben wir uns in den grauen Himmel Nizzas. Wir starteten Richtung Osten, drehten daher wenige Sekunden nach dem Start nach Rechts ab, wie ich es ja schon oft von unten beobachtet hatte und verschwanden sofort in den Wolken, die sehr tief hingen. Nach einer 180°-Kurve flogen wir wenige Minuten gen Westen parallel zur Küste, bis wir kurz vor Toulon nach Norden drehten und Kurs auf Paris nahmen.

Das Wackeln hatte inzwischen nachgelassen, wir waren in ruhigere Luftschichten gekommen und daher begann jetzt der angenehme Teil des Fluges. Irgendwo über Lyon war ich dann leicht weggedöst und das letzte, was ich sah, waren diejenigen Berge des massive centrals, die hoch genug waren, um mit den Spitzen die Wolken zu überragen. Sie waren alle schneebedeckt. Aufgewacht bin ich, als wir bereits im Sinkflug waren. Man sah draußen nichts, nur graue Suppe. Da ich den Beginn des Sinkfluges verpennt hatte, wusste ich nicht, wie hoch wir noch waren. Wir verließen die Wolken nur eine Minute später, als wir nur noch 300 Meter hoch waren und schon setzten wir in Orly auf. Es war der ruhigste Anflug auf einen Flughafen, an den ich mich erinnere. Keine Turbulenz, gar nix. Komisch, dass die Maschine wegen des schlechten Wetters in Paris zu spät nach Nizza gestartet war. Lag wohl nur am Nebel. Die Sicht war wirklich schlecht, es war trüb und man sah nur die Umrisse der ganz großen Jumbo-Leitwerke, die aus dem Nebel herausragten, als wir zum Terminal rollten.

Und dann hieß es für mich das dritte Mal in nur 6 Monaten willkommen in Paris. Schon als die Tür aufging, kam mir ein Schwall kalter Luft entgegen. Es hatte Frost. Aber zum Glück hielt mein neuer Mantel schön warm, den ich mir zwei Wochen vorher gekauft hatte. Ich wanderte, mich müde reckend und streckend, zum Gepäckband. Mein Gott war das ein riesiger Flughafen. Und es war nur der zweitgrößte von Paris. Ich lief bestimmt 10 Minuten. In Tegel kannst du deinen Koffer schon fast sehen, wenn du das Flugzeug verlässt. Liegt nicht etwa daran, dass Tegel so klein ist. Er ist architektonisch gesehen einfach der genialste Flughafen der Welt. Die meisten Terminals sind länglich und weisen daher oft lange Laufwege auf, wenn die Maschine an einer weit entfernten Stelle andockt. Tegel ist in Form eines Oktogons, eines Achtecks, gebaut, das den geometrisch simplen Vorteil hat, dass der Weg von jedem beliebigen Ausgangspunkt zum Mittelpunkt gleichlang ist. Daher sind es vom Flugzeug zum Auto oder zum Taxi nie mehr als 50 Meter Luftlinie. Zu verdanken haben wir dieses geniale wie einfache Gebäude einem Herren Namens Mainhard von Gerkan. Googelt den Namen mal. Ein genialer Architekt. Neben dem Hauptterminal von Tegel hat er übrigens noch ein weiteres, weltweit einmaliges Gebäude entworfen. Den Berliner Hauptbahnhof. Und auch der weist, wenn man seine Größe mal betrachtet, erstaunlich kurze Laufwege auf, wenn man zum Beispiel von Gleis 1 auf der untersten Ebene zur S-Bahn auf Gleis 15/16 will. Wer schon mal im Frankfurter oder Hamburger Hauptbahnhof um- oder aussteigen musste, wird das bestätigen.

Tegel ist da anders. Zur Freude der Fluggäste, die nicht Meilen laufen müssen, wie an vielen anderen Großflughäfen der Welt. Oft tut man sich aber recht schwer, wenn es darum geht, aus Sachen zu lernen. Bestes Beispiel ist da, wie so oft, mein Lieblingsthema, der BBI. Berlins neuer Großflughafen. Das Hauptterminal soll 750 Meter lang werden. Die zwei vom Hauptpier abgehenden Seitenpiers, eines am Nord- und eines am Südende des Hauptpiers, sollen nochmals 300 Meter lang sein. Das ganze wird wie ein großes U mit Kanten aussehen. Und wehe, man kommt am Ende eines Nebenpiers an und muss mit Gepäck über 1.000 Meter laufen, bis man im Hauptterminal zur Bahn, zum Bus oder zum Auto kommt. Dann wird das Gejammer groß und man wünscht sich die kurzen Laufwege von Tegel zurück. Und da Berlin mit 60 MRD € verschuldet ist und sparen muss, ist noch nicht einmal sicher, wo und ob es am BBI Laufbänder geben wird. Halleluja Berlin. Dabei wäre das Konzept von TXL so einfach auf den BBI übertragbar. Einfach zwei Oktogone nebeneinander bauen, jedes etwas größer als das aus Tegel und man hätte ein geniales und leistungsfähig Terminalsystem.

Ach ja, Tegel wird 2012 geschlossen und alle westlich der Berliner Innenstadt wohnenden Menschen können sich auf deutlich längere Fahrzeiten zum dem dann einzigen Berliner Flughafen einstellen. Wenn man sie nun aber fragen würde, warum sie für die Schließung von Tegel und Tempelhof waren... Was kann man von Menschen für eine Antwort erwarten, die einen Horizont von einem Quadratmeter haben und größere, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge nicht verstehen, weil sie sich eigentlich nicht dafür interessieren? Nichts, was den Menschen voran bringen würde. Aber schnell und billig nach Malle wollen sie alle. Vor diesem Hintergrund finde ich immer die Reaktionen der Leute lustig, denen ich sage, dass sie nach Schönefeld müssen, wenn sie mich abholen wollen. Warum fliegst du denn nicht nach Tegel, fragen sie dann oft. Tja, gewöhnt Euch schon mal dran.

Das ging mir alles durch den Kopf, als ich zum Gepäckband watschelte. Dort durfte ich noch mal über 10 Minuten warten. Das Gepäck musste ja den selben Weg wie ich zurücklegen. Hilft ja alles nix, darüber nachzudenken und zu meckern, sagte ich mir. Also Gedankenwechsel. Mit meinem Koffer machte ich mich auf die Suche nach den Bussen. Die sollen schneller als die Metro in die Innenstadt sein, hatte mir Nicola erklärt. Ich fragte eine Dame am Infoschalter und bald hatte ich einen Bus gefunden, der direkt zum Gare Montparnasse fährt. Von dort müsste ich nur noch eine Station mit der Metro fahren und wäre im Foyer. Ich musste allerdings schlucken, als ich erfuhr, dass der Bus 15 € kostete. War mir dann aber doch egal und so stieg ich ein und zahlte brav. Das konnte aber nicht der Bus sein, den Nicola gemeint hatte. Auf meinem stand Air France. Sie hatte aber sicher die Busse der Pariser Verkehrsbetriebe gemeint. Da mein Bus aber auch zum Gare Montparnasse fahren sollte, dachte ich nicht länger drüber nach. Ich war wieder in Paris und das war Grund genug, um gute Laune zu haben.

Dienstag, 14. April 2009

Dezember in Nizza, die Woche 14

Aus dem zu Beginn etwas karg und schüchtern dekoriertem Nizza ist mittlerweile die am schönsten geschmückte Stadt geworden, die ich je gesehen habe. Jede Straße, egal ob groß oder klein, ist prachtvoll hergerichtet und überall blinkt und glitzert es. Man könnte aber auch sagen, dass sie nur etwas Besonderes für mich ist, weil mein ganzes Leben zur Zeit ein einziger großer Ausflug ins Unbekannte ist und so gewisse Dinge, die man vorher nicht bewusst wahrgenommen oder als Gewohnheit angesehen hatte, jetzt in einem ganz neuen Licht erscheinen. Das weihnachtliche Berlin ist vielleicht nicht minder schön, als das weihnachtliche Nizza, aber nach 17 Jahren hat es den gewissen Kick verloren, den Nizza zur Zeit so besonders macht. Dafür hat Berlin Schnee. Na ja, ab und zu vielleicht. Auf jeden Fall öfter als in Nizza. Eines Abends, nach der Arbeit, habe ich mich mit Foto und Baguette zur Marschverpflegung bewaffnet auf die Socken gemacht, um etwas von der Pracht festzuhalten. Die schönsten Bilder habe ich in einem Album gesammelt, das ihr links auf der Seite anklicken könnt. Vor einem Jahr hatte ich die Bewerbung an ASF abgeschickt. Im Dezember 2008 finde ich mich also in einer der schönsten Städte Europas wieder und wer sich die Bilder genauer ansieht, wird merken, dass es nichts mit einem Berliner Dezember gemeinsam hat. Für mich noch viel weniger.

Es gibt aber auch so Tage, an denen alles schief läuft und man auf Weihnachten und Dezember getrost pfeifen könnte. Solche Tage im Dezember, an denen es mal wieder schüttet wie aus Kübeln und man sich cleverer Weise entschieden hat, einkaufen zu gehen. Mit einer Papiertüte... Es ist ja nicht gerade so, als ob ich keine Plastiktüten bei mir zu Hause hätte. Aber wenn das Leben in seinen geregelten Bahnen läuft, muss man eben selber nach helfen, damit die Spannung nicht flöten geht. Da machen sich Papiertüten an Regentagen ganz ausgezeichnet. Und wenn man dann noch von der etwas verpeilteren Sorte ist, hat man genügend Stoff, um den halben Tag nur zu fluchen. Nach meinem Einkauf mit besagter Papiertüte bin ich zwar ohne Probleme vom Supermarkt bis zum Bus gekommen. Im Bus habe ich die Tüte dann aber auf den nassen Boden gestellt und somit war ihr Schicksal, lange bevor ich es merkte, besiegelt. Denn genau in dem Moment, als ich aussteigen wollte und die Tüte anhob, machte es laut ratsch und Milch, Brot und Käse kullerten durch den ganzen Bus. Alles in der Laptoptasche verstauen ging nicht, war zu viel. Eine andere Tüte hatte ich nicht, genau wie die anderen Fahrgäste, die ich fragte. Ich fuhr also fluchend bis zur Endstation mit, um Zeit zu gewinnen, den ganzen Krempel doch irgendwie in Jackentaschen und zwischen Laptop und Headset unterzukriegen. Irgendwie bekam ich es auch hin. Milch zwischen Arme geklemmt und der Rest ordentlich gequetscht.

Bis zur Endstation waren es nur 5 Minuten und eine Pause machte der Fahrer auch nicht. So hatte die Aktion zum Glück nicht meinen ganzen Abend in Anspruch genommen. Als ich dann zu Hause war, habe ich die Sachen einfach in die Küche gestellt und bin dann ohne Umwege in die Dusche gegangen. Der Weg vom Bus bis zu meinem Haus ist zwar nicht weit, aber vollbepackt mit tollen Sachen, die das Laufen im Regen schwerer machen... Auf gut Deutsch: Ich war klatschnass. Etwas gestresst von doofen Tüten und dem rauen Dezemberwetter blieb ich geschätzte 5 Stunden unter der Dusche, das Wasser so heißt aufgedreht, dass der kalte Regen schnell vergessen war. Müde war ich nach der Dusche aber immer noch, also ging ich gleich ins Bett. Ich habe eh das Gefühl, dass die Arbeit hier einen auf eine ganze besondere Weise erschöpft macht. Nicht körperlich, eher geistig. Die psychische Problematik der Alzheimer-Patienten, das ständige Wiederholen von Fragen und das andauernde Vergessen ihrer eigenen Identitäten macht einen ganz madig. Das immer präsent Sein und das Bewusstsein, immer aufmerksam sein zu müssen und niemanden aus den Augen zu lassen, macht mich ständig angespannt. Die ruhigen Minuten, in denen Cathy und ich bei einer Tasse Kaffee mal abschalten können, sind daher immer ganz besonders „chillig“.

Auch was unsere Animationen angeht, hat sich etwas getan, was das Arbeiten zumindest Freitags recht erträglich macht. Wir haben das so genannte atelier trikot ins Leben gerufen. Trikoter bedeutet stricken. Finden die älteren Damen natürlich toll. Viele haben ihr Leben lang gestrickt, sei es für Ehemann oder Kinder. Damit diese Fähigkeit nicht verloren geht, sitzt die Gruppe jetzt ein Mal in der Woche zusammen und bei Smalltalk wird an einem Schal, einem Pulli oder bunten Socken gearbeitet. Da es viel mehr um Zeitvertreib, als um Perfektion geht, haben Cathy und ich nicht mehr zu tun, als uns gemütlich mit Stricknadeln und Wolle dazu zu setzen und für Gesprächsthemen zu sorgen. Gehen diese aus, kann man beobachten, wie selbst die aufgedrehtesten Menschen stundenlang dasitzen können, ohne ein Wort zu sagen. Ganz auf ihre Strickarbeit fixiert. Ich dagegen musste aber erst einmal lernen, wie man mit Nadel und Wolle umzugehen hat. Hatte ich vorher noch nie gemacht. Nur staunend meiner Tante Gila zugesehen, wie sie es fertig bringt, gleichzeitig zu stricken, ein Buch zu lesen und Nachrichten zu schauen. Und das in Perfektion. Die grobe Materie an sich ist ja gar nicht so kompliziert. Das Schwere ist nur, Reihe für Reihe regelmäßig und gleichbleibend ordentlich hinzubekommen. Wenn das einigermaßen klappt, geht es an die Geschwindigkeit. Brauch ich für eine fehlerfreie Reihe 5 Minuten, schafft meine Tante in der gleichen Zeit wahrscheinlich 10 Linien, allesamt gleichmäßiger und schicker. Aber die Technik hab ich schon drauf, an der Feinarbeit wird gearbeitet. Mehr als ein löchriger Topflappen wird mein erstes Werk aber wohl nicht werden.

Neben meinen neu erlernten Strickfähigkeiten war das Highlight der Woche die Schulklasse einer jüdischen Schule, die am Montag die Colline besuchte, um für die Bewohner zu singen. In seiner typischen Showmaker-Manier war unser Direktor dauernd damit beschäftigt, im Voraus alles zu organisieren und zu planen. In großem Stil. Sein Ruf ist ihm heilig und daher ist er ein ziemlicher Wichtigtuer. Am Ende müssen wir uns - Cathy und ich - dann immer abzappeln, damit im engen Zeitrahmen zwischen den Mahlzeiten auch wirklich jeder Bewohner in die dafür viel zu kleine Empfangshalle des Batiment Nord gezwängt wird, um nachher nicht sagen zu können, der Direktor würde sich nicht um Beschäftigung und Unterhaltung sorgen. Am Ende war die Schulklasse eine Stunde lang da und Monsieur Perez hatte mal wieder viel Luft um nichts gemacht. Die Bewohner waren aber zufrieden mit dem kleinen Konzert. Viel braucht es dazu eh nicht. Kleine Sachen haben immer mehr Charme als groß aufgepumpte Shows. Genau deswegen passt unser Direktor eigentlich gar nicht in diese Einrichtung. Manager von Dieter Bohlen wär doch genau sein Ding, aber Direktor eines Altersheimes? Okay, eines reichen und bekannten Altersheimes mit einem gewissen Ruf, aber die Bewohner brauchen diesen abgehobenen Quatsch sicher nicht. Soll er doch lieber mehr Personal einstellen, damit bei Veranstaltungen die vorhandenen Angestellten, wie ich, nicht restlos überfordert sind, wenn aus 10 Richtungen jemand ein Glas Wasser verlangt und dann noch meckert, dass es zwei Minuten länger gedauert, bis er bedient wird.

Von einem aber wünscht sich jeder, dass er bald wieder nach einem Getränk fragen kann. Und das ist Monsieur L. Sein Zustand hat sich erstaunlich verbessert und mit ein wenig Hilfe kann er auf einmal wieder wenige Meter laufen. Als mir das am Montag gesagt wurde, hatte ich das Gefühl, in einer verkehrten Welt zu sein. Vor wenigen Tagen hatte es Julie völlig aus der Bahn geworfen, weil Monsieur L zum ersten Mal so etwas wie ein Bewusstsein für seine Umwelt gezeigt hatte, als er unter Schmerzen und sicher auch Todesangst weinend nach seinen Kindern verlangt hatte. Für uns war das ein Zeichen seines Endes und gerade deswegen so schmerzlich. Jetzt auf einmal ist er auf dem besten Weg, sozusagen wieder der Alte zu werden? Ist doch nicht normal. Völlig verrückt. Diese Krankheit macht mit den Menschen was sie will. Sie spielt mit ihnen und das Schlimme ist, dass man absolut nichts dagegen tun kann. Außer sich freuen, wenn Menschen wie Monsieur L dem Sensenmann noch mal ein Schnippchen geschlagen haben. Und danach sieht es zur Zeit aus, wobei es auch sofort wieder in die andere Richtung gehen kann. Eine Art Wettervorhersage, auf die man sich meistens verlassen kann, gibt es für Alzheimer leider nicht.

Monsieur C’s Zustand dagegen hat sich nicht gebessert. Er ist fast nur am Röcheln und Husten und meistens suche ich so schnell wie möglich das Weite, weil ich es kaum aushalte, neben todkranken Menschen zu stehen. Da sind sie mir tot lieber, so verrückt das klingt. Aber vor Leichen habe ich deutlich weniger Angst, als vor Menschen, die langsam und leidvoll auf ihr Ende warten. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Ich habe ja schon viel gelernt in den Monaten, in denen ich hier bin. Ich reagiere deutlich cooler als am Anfang, wenn ein Bewohner gestorben ist und sowieso gehe ich inzwischen mit der ganzen Thematik Tod völlig anders um. Aber neben dem röchelnden Monsieur C halte ich es nicht lange aus. Dabei weiß ich ja aber, dass er sonst kaum einen zum reden hat. Sein Bruder hat wohl aufgegeben, ihm zuzuhören beziehungsweise hat mit seinem eigenen Problemen wohl genug zu tun. Und Besuch kam bisher noch nie. Tochter lebt bei Stuttgart und Frau ist sicher schon länger tot. Deswegen probiere ich, mich so gut wie möglich, am Riemen zu reißen und mir jeden Tag etwas Zeit zu nehmen. Denn wenn es eines gibt, was ich auf keinen Fall will, ist es einsam zu sterben und dementsprechend versuche ich mich auch gegenüber den Bewohnern zu verhalten. Leicht ist es nicht.

Vergleichsweise einfach ist da die Aufgabe, um die mich Nadja die Krankenschwester gebeten hat. Ihre Tochter studiert Jura und braucht bei einigen Textaufgaben Hilfe. Jura wird in Nizza an der Uni ausschließlich auf Englisch unterrichtet und da die Franzosen darin nicht die Besten sind, hat Nadja mich gebeten, etwas zu helfen. Zudem ihre Tochter wegen einer Operation ins Krankenhaus muss und daher wenig Zeit hat, für die baldige Prüfung zu lernen. Ich muss zugeben, dass ich es nicht ganz verstanden habe, warum ich helfen muss, aber da mein Englisch eh total abgenommen hat, seit ich in Frankreich bin, habe ich nicht weiter nachgebohrt. Zudem das Thema ganz interessant ist. Die amerikanische Verfassung, wie sie entstand, und wie sie sich in den Anfängen nach dem Unabhängigkeitskrieg veränderte. Alles wie gesagt auf Englisch. Ich werde hier wie ein Sprachtalent behandelt, da ich der Einzige bin, der drei Sprachen spricht. Ich hielt das immer für eine Selbstverständlichkeit, aber ich merke jetzt, dass es das ganz und gar nicht ist. Vielmehr spiegelt es eher meinen Anspruch an mich selber wieder. Und den erfülle ich hier meiner Meinung nach mehr als genug. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal von mir sagen werde, aber ich bin stolz auf mich. Ich bin in ein fremdes Land gegangen, habe mich in eine andere Sprache eingelebt und bin bereits nach einem Drittel der Zeit auf dem besten Wege, die bisher größte Herausforderung meines Lebens mit einer Zielstrebigkeit zu meistern, die ich in den Jahren in der Schule immer vermisst habe. Schon deswegen ist dieses Jahr in Nizza das Beste, was mir passieren konnte. Weil es meinem Selbstbewusstsein einen unglaublichen Schub gegeben hat.

Und ganz nebenbei ist dann auch schon der 15. Dezember angebrochen und damit mein letzter Arbeitstag in der Colline im Jahr 2008. Aber davon mehr im nächsten Beitrag. Ich hoffe, ihr haltet mir alle schön die Stange ;-)