Freitag, 23. Januar 2009

Tag 55 und 56, der große Knall

Am nächsten Morgen hatte ich echt Schwierigkeiten, um 8 aufzustehen. Es war schließlich Samstag. Nach einer ausgiebigen Dusche meldeten sich aber die ersten Lebensgeister und nach dem Frühstück machte ich mich auf den Weg. Mit dem 22er fuhr ich bis Magnan, lief von dort runter zur Promenade des Anglais und begann, eine Bushaltestelle zu suchen. Schließlich musste ich hier ja in den 11er einsteigen. Als ich dann eine Haltestelle entdeckt hatte, sah ich, dass die Nummer 11 nicht gerade oft fährt. Einmal in der Stunde, zweimal wenn es hochkommt. Ich hatte aber Glück, denn keine 10 Minuten später kam er und es ging los. Ich wusste nur grob, wo ich aussteigen müsste, das Abenteuer konnte also beginnen. Irgendwann, kurz vorm Flughafen, bogen wir dann wie geplant nach Norden ab und es wurde ein wenig weniger touristisch. Wir überquerten die Autobahn und die Eisenbahnstrecke und gelangten in Wohngegenden mit Einfamilienhäusern. Hier leben wohl die etwas wohlhabenderen Bewohner Nizzas.

Nach einigen Minuten verschwanden die Wohnhäuser und wir gewannen langsam an Höhe. Mehr und mehr Industriegebiete, meistens Logistik, erstreckten sich entlang der Busroute, und in Fahrtrichtung sah man in einiger Entfernung die ersten richtig hohen Berge, auch wenn wir erst geschätzte 10 Kilometer landeinwärts gefahren waren. Das Stadtgebiet Nizzas hatten wir meiner Meinung nach aber noch nicht verlassen. Ich hatte vorm Einsteigen versucht, mir die einzelnen Busstationen einzuprägen, da ich in etwa ahnte, wo ich eventuell raus müsste. Ich stieg an einer Station Namens PAL aus. Dieses PAL stand auch auf dem Lieferschein, daher war das der einzige Anhaltspunkt meiner Zielstation. Ich stieg dort also aus und befand mich irgendwie auf einem zentralen Dorfplatz. Dort befanden sich viele Läden und auch eine Post. Ich glaubte zwar nicht, dass ich hier mein Rad finden würde, das wäre etwas zu viel Glück, aber ich probierte es trotzdem. Vielleicht würde dort jemand wissen, wo ich hin musste.

Es war ziemlich voll und ich setzte mich zum Warten erst mal hin. Es war 11 Uhr und langsam hatte ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonlaufen würde. Ich war aber relativ schnell dran. In dem recht kleinen Raum gab es zwar keine Schlange, aber ich wurde auf einmal aufgefordert, dass ich der nächste sei. Direkt vor mir war zwar ein Herr mit zwei Kindern in die Post gegangen, aber er sagte nur, ich könne ruhig vorgehen. Sehr freundlich. In Deutschland wird man selten vorgelassen. Dort hat man chronischen Zeitmangel, auch samstags. Und ohne Schlange würde jeder probieren, sich so gut wie möglich vorzudrängeln. Hier klappte es sehr gut, jeder achtete auf den anderen und wußte daher, wann er dran war. Je länger ich hier bin, desto mehr Vorzüge gegenüber Deutschland fallen mir auf. Das ist echt gruselig.

Auf jeden Fall konnte mir die Frau am Schalter nicht helfen, nur die grobe Richtung deutete sie an und ein Herr, der wohl zugehört hatte, sagte, es seien zu Fuß nur 5 Minuten. Das wäre ja unglaublich, wenn ich auf Anhieb so nah am Ziel gelandet wäre. Auch sagte die Frau am Schalter, dass die Adresse auf dem Lieferschein keine Post wäre, sondern ein großes Verteilerzentrum. Das würde auch erklären, warum ich keine genaue Anschrift im Internet finden konnte. Ich machte mich also voller Hoffnungen auf den Weg in besagte Richtung und noch auf der Straße vor der Post sah ich ein Schild mit einem LKW drauf und drunter stand wieder PAL. Aha, dieses PAL war also der Name des Verteilerzentrums. Ich folgte dem Schild und gelangte auf eine Straße unterhalb einer Autobahn. Es gab keinen Fußgängerweg, also lief ich auf dem Gras neben der Straße. So kam ich zwar nicht sehr schnell voran, aber ich hatte das Gefühl, dem Ziel sehr nahe zu sein und daher war Hektik nun nicht mehr nötig. Ab und zu kamen mir Lastwagen und kleinere Post- und Lieferwagen entgegen. Ich war also scheinbar auf dem richtigen Weg, auch wenn weit und breit, außer der Autobahn, keine Zivilisation zu sehen war. Wie so oft in der Nähe von Postverteilerzentren. Ich sage nur Wustermark. Sorry Clemens.

Nach ungefähr 700 Metern machte die Straße einen Linksknick und unterquerte eine Eisenbahnlinie. Schätzte ich zumindest, denn Autos fuhren darauf sicher keine. Es ging dann leicht bergauf und schliesslich kam das Schild, auf dem groß stand, dass man nun auf dem Gelände von diesem PAL sei. Es stand auch drunter, wofür die Buchstaben standen, hab ich aber wieder vergessen. Auf dem höchsten Punkt der Straße angelangt, machte die Straße dann wieder einen Rechtsknick und der Eingang von PAL war zu sehen. Ich ging hinein, auch wenn ich mir zu Fuß etwas blöd vorkam. Am Eingang standen zwei Männer, die fragte ich, ob das hier die Adresse auf dem Lieferschein wäre. Sie nickten und sagten, ich müsste in Zone 7. Stand auch so auf dem Schein, aber bisher hatte ich mit dem Vermerk Zone 7 nichts anfangen können. Jetzt, beim Eintreten in das Gelände, wurde mir klar, dass es in Zonen unterteilt war. So groß wie es war, war das auch nötig, um eine bessere Übersicht zu haben. TNT, UPS und andere große Paketdienstleister hatten hier eine eigene Zone.

Am ersten kleinen Kreisverkehr zeigten Pfeile in Richtung Zone 1, 2, 3, 4 und 5. Aber keiner in Richtung 7. Nur „Autres zones“ stand da, also andere Zonen. Ich musste scheinbar weiter geradeaus, weiter ins Innere, laufen. Sogar der Arsch der Welt hat noch abgelegenere Orte und genau da musste ich natürlich hin. Aber irgendwann kam ein Pfeil, auf dem Zone 7 stand. Ich bog, wie befohlen, nach links ab, sah aber nur Lagerhallen. Kein Empfang oder ähnliches, wo ich nach dem genaueren Ort meines Rades hätte fragen können. Ich lief also an den Hallen vorbei und suchte etwas, um zu fragen. Ich fand nichts, also ging ich einfach in eine der Hallen rein. Waren ja eh fast alle offen und ab und zu war auch mal ein Arbeiter zu sehen. Ich ging in eine Halle der französischen Post, in der ein großes Förderband seine Arbeit verrichtete. An dem Band stand eine junge Frau, die fragte ich, ob sie mir weiterhelfen könnte. Konnte sie; sie führte mich hilfsbereit in die Halle nebenan und ich landete beim nächsten Typ, der mir über den Weg lief. Und ob ihr es glaubt oder nicht, nach wenigen Minuten kam er mit einer riesigen Palette an. Da sollte mein Rad drin sein?

Ich fragte nach einem Messer, worauf er nickte und gleichzeitig fragte, ob ich etwa zu Fuß hier wäre. Ich nickte grinsend. Ich wußte, war ziemlich ausgefallen, aber in dem Fall ging’s eben nicht anders. Mit dem Messer zerlegten wir schnell den Karton und zum Vorschein kam mein Rad. Ein herrlicher Anblick. Wie von Papa beschrieben, hatte er die Pedale und Hörner demontiert und zusätzlich eine Tüte mit Werkzeug, den Lampen und zwei Ladekabeln ans Rad geheftet. Ich schob es vor die Halle, bedankte mich höflich und begann, die ganzen Sachen auszupacken, die in der Tüte waren. Diese war aber mit Paketband so fest am Rad fixiert, dass ich noch mal um eine Schere bitten musste. Bei meinem Anblick mussten einige der arbeitenden Leute grinsen. Dass jemand ein ganzes Fahrrad hier abholte und dann auch noch zu Fuß kam, hatte hier wohl noch keiner erlebt.

Als alle Sachen vor der Halle auf dem Boden lagen, machte ich es mir dort gemütlich und begann, die Pedale zu montieren. Das erste ging auf Anhieb, aber das zweite wollte einfach nicht. Ich saß da bestimmt fast ne Stunde und werkelte vor mich hin, aber das zweite Pedal wollte einfach nicht. Das Gewinde streikte. Irgendwann gab ich entnervt auf, ich wollte mich nicht auf dem Präsentierteller zum Affen machen, also packte ich alle Sachen zu meinem Laptop in die Tasche. Den hatte ich ja wegen der Screenshots mitgenommen, aber ich hatte es ja unglaublicher Weise ohne jegliche Hilfsmittel gefunden. Das muss mir auch erst mal einer nachmachen, in einer völlig unbekannten Gegend, ohne große Hilfsmittel und Informationen, das Ziel auf Anhieb zu finden. Auf meinen Orientierungssinn kann ich mich eben verlassen.

Ich fuhr, so gut wie mit einem Pedal eben möglich, langsam los, verließ das Gelände und fuhr wieder dahin, wo ich hergekommen war. In einer Kurve, in der ein Bürgersteig begann, machte ich wieder Halt und packte die Sachen aus, um es noch einmal mit dem Pedal zu versuchen. Diesmal untersuchte ich die Materie genauer und fand schnell heraus, dass die Gewinde der beiden Pedale nicht identisch waren, wie ich es eigentlich angenommen hatte. Sie waren gegensätzlich. Dann dämmerte mir endlich, dass das auch logisch war, schließlich drehten sich die Gewinde ja in unterschiedliche Richtung während der Fahrt. Damit sie sich also nicht von selber lösen konnten, waren auch die Gewinde gegensätzlich. Eines musste daher im und Eines gegen den Uhrzeigersinn reingedreht werden. Hätte ich eigentlich auch früher drauf kommen können, aber soviel wie ich an Rädern schon rumgefummelt hatte, Pedale hatte ich dabei noch nie montiert. Jetzt war aber klar, warum das zweite Pedal nicht wie das erste auf Anhieb passte. Wieder was gelernt. Da ich ja nun wusste, was zu tun war, hatte ich keine zwei Minuten später auch das zweite Pedal montiert.

Ich drehte noch einige Schrauben fest, richtete den Lenker nochmals in Fahrtrichtung aus, da er zum Transport um 90 Grad gedreht worden war, und packte dann zufrieden alle Sachen wieder ein. Jetzt konnte es endlich losgehen, mein Rad war endgültig an der Côte d’Azur angekommen. War das eine Tortour gewesen. Ich war echt unglaublich erleichtert, als ich aufstieg. Mit Laptoptasche fährt es sich allerdings echt beschissen. Ich fuhr die Strecke, die ich mit dem Bus gekommen war, jetzt wieder zurück. Ich war aber schnell ziemlich außer Atem, da es ab und zu ziemlich steil bergauf ging. Ab einem gewissen Punkt ging es aber nur noch bergab und ich rollte einfach vor mich hin, ohne zu treten. Ich überquerte wieder die Eisen- und Autobahn und steuerte auf die Promenade des Anglais zu. Die müsste ich nur noch einige Kilometer nach Osten fahren und ich würde wieder in gewohnter Umgebung vor McDonalds landen.

Es war inzwischen ein herrlicher Tag geworden, ein Thermometer an einer Apotheke zeigte stolze 25,3 Grad an. Ich war aber mit Sweatshirt losgefahren und dann sorgte auch noch die Laptoptasche dafür, dass ich total verschwitzt war. Ich cruiste daher ganz gemütlich die Promenade entlang und genoss es, wie ein Proll bei bestem Wetter unter Palmen am türkisen Meer entlang zu fahren, auch wenn das unter meinem Hintern keine Harley war. Ich überlegte, ob ich zur Stärkung bei McDonalds halt machen sollte, aber dann fiel mir ein, dass ich den Schlüssel für das Schloss, das Papa ebenfalls ans Rad geklebt hatte, auf meinem Zimmer in der Colline vergessen hatte. Ich bog also schon vorher nach links ab und fuhr die gewohnte Strecke des 22er entlang. Die Tasche, die über der Schulter hängend nur lästig baumelte, behinderte unglaublich. Als dann die richtige Steigung begann, hatte ich alle Mühe. Lange hielt ich nicht durch. Ich stieg ab und schob. Ich fragte mich, ob ich jemals vorher erschöpfungsbedingt hatte schieben müssen. Andererseits hatte ich aber auch noch nie solche Steigungen zu bewältigen.

Ich schob über eine halbe Stunde und auf Höhe des Krankenhauses L’Archet, wo die Steigung mehr oder weniger auf Normalmaß abflacht, stieg ich wieder auf und fuhr die letzten 800 Meter zur Colline. Das Schieben hatte mich noch fertiger gemacht und ich war froh, als ich im Sattel sitzend vorm Tor ankam, den Code eintippte und das erste Mal die gewohnte Strecke radelte. Ich stellte das Rad auf die Terrasse und ging auf mein Zimmer. Ich machte den Laptop an und hörte etwas Musik, während ich mich im Bad etwas frisch machte. Es war gerade mal 14 Uhr und ich konnte es kaum erwarten, ein erstes Mal die Berge runterzusausen, die mich gerade zum Absteigen gezwungen hatten. Ein erstes Mal ohne Bus. Gott war das schön. Ich machte mich also fertig, packte den Laptop wieder in seine Tasche und packte diese in meinen Rucksack. Der war schließlich viel angenehmer zu transportieren. Und dann ging es los.

Der Bewegungsmelder vor dem Tor nahm mich und mein Rad nicht war, scheinbar war er wirklich nur auf Autos ausgerichtet. Also wieder Code eingetippt und endlich war der Weg frei. Bis zum Krankenhaus L’Archet hält sich das Gefälle wie gesagt in Grenzen, und trotzdem holte ich schon nach wenigen Metern die ersten Autos ein, die vor mir fuhren. Ja, so muss das sein. Ich musste sogar bremsen, damit ich dem Fahrzeug vor mir nicht hinten rein rauschte. Kurz hinter dem Krankenhaus bog ich rechts ab, so wie auch der Bus fuhr. Und jetzt ging es steiler bergab. Mit ordentlich Karacho jagte ich dem Meer entgegen. Ich genoss, wie der warme Wind durch meine Haare wehte, machte eine Linkskurve und steuerte auf meine Aussichtskurve zu. Hier wird das Gefälle noch mal etwas steiler, ein Warnschild zeigte 16 Prozent an. Aber dafür war die Aussicht am besten. Auf einmal merkte ich, wie schnell ich eigentlich war. Aber da war es schon zu spät.

Für den Radius meiner Aussichtskurve war meine Geschwindigkeit viel zu hoch, und als ich das bemerkte, probierte ich noch, den Lenker rumzureißen und die Bremsen zu betätigen. Ohne Erfolg. Sie blockierten und ich krachte ungebremst, mit annähernd 50 Sachen, in die Leitplanke. Es ging alles so unglaublich schnell. Ich spürte deutlich, wie ich mit meiner rechten Gesichtshälfte hinter der Leitplanke aufschlug und wie sie den Asphalt des Gehweges entlang schrammte. Ich war mit dem Schwung vom Aufprall sofort wieder auf den Beinen und instinktiv ging meine rechte Hand zum Gesicht. Als ich sie mir anschaute, war sie blutverschmiert. Ein Auto, das bergauf fuhr, bremste und hielt an, dann ein weiteres, das bergab fuhr. Ich sah zwar, wie sie anhielten, aber der Moment, bis die Leute zu mir gerannt waren, verschwamm. Ich stand total unter Schock. Eine Frau und ihr Sohn standen bei mir. Der Mann aus dem Auto, das bergab fuhr, stieg gerade aus. Das erste, was die Frau sagte, war, dass sie alles genau gesehen hätte und im ersten Moment dachte, ich würde nicht wieder aufstehen. So schlimm sah es aus. Sie fragte, was denn los gewesen wäre, aber mehr, als dass ich zu schnell war und die Kontrolle verloren hatte, brachte ich nicht zustande.

Außer im Gesicht, hatte ich komischer Weise keine Schmerzen. Meine Hände waren voller Blut, das aber nicht nur aus dem Gesicht kam. Ich bemerkte die offenen Wunden an beiden Händen. Ich nahm das alles aber nur sehr schwammig wahr, auch bemerkte ich nicht, dass der Junge zum Auto gelaufen war und mit einer Wasserflasche zurück kam. Mit dem Wasser reinigte ich etwas meine Hände, während die Frau per Handy einen Krankenwagen rief. Ich konnte stehen, gebrochen schien auf den ersten Blick nichts. Ich fragte, ob mein Gesicht schlimm aussah und die Frau sagte, dass ich stark bluten würde, es aber nur nach Schürfwunden aussähe. Dann entdeckte sie meine Jeans, die oberhalb des rechten Knies total zerfetzt waren. Als sie es sich genauer anschaute, bemerkte ich erst die klaffende Wunde auf dem Oberschenkel. Der Mann aus dem zweiten Auto hatte inzwischen meinen Rucksack und mein Rad geholt, die einige Meter weiter geflogen waren. Unter Schock hatte ich daran gar nicht gedacht. Das Reden fiel mir recht schwer, da meine rechte Gesichtshälfte stark schmerzte und meine Oberlippe wohl auch etwas abbekommen hatte. Dann wurde mir schwarz vor Augen und ich setzte mich vorsichtshalber hin. Bis der Krankenwagen kam, kümmerten sich die Leute ganz lieb um mich.

Der Krankenwagen kam recht schnell und drei junge Ärzte stiegen aus und begutachteten mich. Sie halfen mir auch, mein Rad an Ort und Stelle anzuschließen und nahmen zudem meinen Rucksack. Ich bedankte mich bei der Frau und dem Jungen, die mir echt nett geholfen hatten, soweit es ihnen möglich war. Mit Blaulicht ging es dann ins Krankenhaus in die Innenstadt. Es war erst das zweite Mal, dass ich so einen Wagen von innen "benutzte". Das erste Mal war auf Fuerteventura, als mein Vater am Strand in ein Loch getreten war und sich einen Muskelfaserriss zugezogen hatte. Ich glaube zumindest, dass Mama und ich da mitgefahren waren. Ich war vielleicht 5. Jetzt lag ich auf der Trage und wurde während der Fahrt schon mal vorsorglich verarztet. War nicht so einfach, da es ja wie in Autos üblich, wackelte. Ich war inzwischen wieder klar im Kopf und realisierte, dass ich mich festhalten musste, um nicht von der Trage zu kullern. Zudem wurde ich über meine Personalien befragt, sogar im Krankenwagen ist man vor Papierkrieg nicht sicher. Als wir da waren, wurde ich noch schnell gefragt, ob ich alleine laufen oder auf der Trage bleiben wollte. Ich entschied mich für letzteres. Wenn, dann wenigstens stilecht. Außerdem war geschoben werden viel bequemer, oder?

Also wurde ich gemütlich in die Notaufnahme geschoben. Vor der Türe standen einige Ärzte und rauchten; die Türe beziehungsweise alle Türen waren weit offen. Wer von der Straße auf den Parkplatz kam, konnte von dort also ganz gemächlich einen Blick in die Notaufnahme und die Patienten werfen, die dort lagen und auf die Behandlung warteten. Ich lag also quasi auf dem Präsentierteller. Geil. Fand ich nicht schlimm, es hatte irgendwie was Sympathisches. Normaler Weise sind Krankenhäuser hermetisch abgeriegelt, damit die „armen“ Menschen auf der Straße auch ja nichts mitkriegen von den täglichen Unfällen Anderer, keine verstümmelten Unfallopfer sehen und wie gewohnt unreflektiert bei rot mit dem Roller über die Kreuzung donnern. Nein, so öffentlich war das hier nun auch wieder nicht. Man gibt sich zwar keine Mühe, die Sicht auf verletzte Menschen zu versperren, aber man muss schon den gewissen Kick suchen, um nur deswegen auf den Parkplatz zu gehen. Wer´s braucht, bitte. Jedenfalls war hier drinnen gute Luft.

Ich hatte inzwischen heftige Schmerzen im Gesicht, das zu brennen schien. Ich wusste aber nicht, wie ich aussah und was im Gesicht eigentlich los war. Hatte ja keinen Spiegel dabei. Nach einigen Minuten wurde ich in einen anderen Raum geschoben und sollte mich ausziehen, damit ich auf mögliche Verletzungen untersucht werden konnte. Ich wurde gefragt, wo ich Schmerzen hätte und ob ich das Bewusstsein verloren hätte. Hatte ich nicht, aber mein Oberschenkel schmerzte inzwischen wie verrückt und ich konnte auch das Bein nicht mehr bewegen.

Danach wurden alle Wunden gereinigt und desinfiziert. Das Übliche eben. Und während dessen wurde mir ein Wisch unter die Nase gehalten, den ich unterschreiben sollte. Wegen meiner Sachen, wie mir erklärt wurde. Die würden solange aufbewahrt, bis die Untersuchung abgeschlossen wäre. Sollte mir recht sein. Was hätte ich auch groß anderes sagen können, während eine französische Krankenschwester mit Alkohol in meiner Wunde rumpult. Waren aber alle sehr nett. Sie woltlen wissen, was ich denn angestellt hätte und woher ich käme. Smalltalk eben und die eine scherzte dann, ich könnte ja jetzt meinen Freunden stolz erzählen, wie toll französische Krankenhäuser von innen wären. Abgesehen davon, dass ich auf die Ursache meines Krankenhausaufenthalts lieber verzichtet hätte, war es wirklich angenehm, wie freundlich hier mit mir umgegangen wurde. Ich für meinen Teil fühlte mich gut aufgehoben. Der medizinische Standart ist natürlich der Gleiche, wie in Deutschland. West-Europäischer Standart eben.

Da ich mit dem Kopf aufgeprallt war und aussagte, dass ich mein Bein nicht mehr bewegen könne und Angst hätte, es wäre gebrochen, entschied man, mich zu röntgen. Ich erinnerte mich zwar, dass ich unmittelbar nach dem Unfall stehen und das Bein auch bewegen konnte, aber in gewissen Situationen kann Adrenalin dazu führen, dass der Körper eine schwerere Verletzung, wie einen Bruch, zuerst nicht wahrnimmt. Das Stresshormon Adrenalin versetzt den Körper in eine Art Alarmbereitschaft, die ihn leistungs- und widerstandsfähiger macht. Soldaten beispielsweise können daher noch eine gewisse Zeit weiter kämpfen, nachdem sie verwundet wurden. Da Adrenalin die Schmerzen kurzfristig unterdrücken kann, sollte dies dem Überleben dienen. Das stammt aus Zeiten, in denen der Mensch noch natürliche Feinde wie Säbelzahntiger hatte. Außerdem wird Schmerz eh im Gehirn erzeugt und nicht etwa an der verletzten Stelle. Merkt man schön daran, dass es, nachdem man sich geschnitten hat, erst dann anfängt weh zu tun, wenn man sieht, wie man blutet. Vorher merkt man davon überhaupt nichts. Denn der Sehnerv, der die Verletzung wahrnimmt, ist mit dem Gehirn gekoppelt, das daraufhin an die entsprechende Stelle die Nachricht sendet, dass sie gefälligst zu schmerzen hat. So viel zu einem kleinen Crashkurs in Bio.

Ich musste, mit einem Tuch gegen die Kälte bedeckt, relativ lange warten, bis ich abgeholt wurde. Ich war inzwischen müde und so döste ich vor mich hin. Dann wurde ich in den Röntgen-Saal gebracht und von oben bis unten durchleuchtet. Dann ging es wieder zurück in die zentrale Halle, um auf die Auswertung der Bilder zu warten. Dauerte wieder etwas, aber dann kam der Arzt und erklärte, dass alles okay und nichts gebrochen wäre. Ein Glück. Ich wurde wieder in den Raum geschoben, wo ich untersucht wurde und durfte mich anziehen. Was ziemlich lange dauerte, da ich meinen Oberschenkel nur unter starken Schmerzen bewegen konnte. Da ich ja keinen hier kannte und daher nicht abgeholt werden konnte, musste ich mit dem Bus heim. Der Gedanke kam mir zuerst ziemlich abenteuerlich vor. Ich wohnte bei meiner Mutter gegenüber von einem großen Krankenhaus und ich hatte dort noch niemanden in den 134ger Bus einsteigen sehen, der noch etwas mitgenommen und leicht blutend aus der Notaufnahme kommt.

Ich bekam noch meine Unterlagen für die Krankenkasse und ging. Weit kam ich aber nicht, denn schon nach wenigen Metern löste sich der Verband um die Wunde am Oberschenkel. Ich humpelte zurück und schnappte mir den erstbesten Pfleger, damit der mir das richtig fest macht. Ich sah ja so schon schlimm aus mit meinen Pflastern und Kompressen im Gesicht, da muss ne offene Wunde am Oberschenkel im Bus nicht auch noch zur Schau gestellt werden. War außerdem auch nicht so hygienisch. Dann ging’s wieder los Richtung Bus. Ich hatte aber keine Ahnung, wo ich war. Weit wäre es aber nicht, sagte man mir im Krankenhaus.

Kurzer Hand änderte ich aber meine Pläne, als ich ein Schild sah, das den Place de Masséna ausschilderte. Ich könnte also zu McDonalds gehen und von dort meine Eltern benach- richtigen. Die wussten ja schließlich noch von gar nichts. Letztendlich war es aber doch ziemlich weit und nach über einer halben Sunde war ich bei McDonalds. Aber wie es der Zufall so wollte, funktionierte das w-lan mal wieder nicht und so ging ich zum Bus. Während ich dorthin humpelte, rief ich meine Eltern per Handy an. War zwar teuer, aber was soll’s. Ich musste sie schließlich informieren. Ich bin zwar jetzt ganz offiziell erwachsen, habe ich beschlossen, aber gewisse Dinge sollten sie trotzdem noch wissen. Sie waren natürlich beide geschockt, aber heilfroh, dass noch alles dran war. Ich auch. Erst so langsam sickerte es in mein Bewusstsein, was da passiert und wie dicht ich einer Katastrophe entgangen war. Nicht jeder, der mit Volltempo in eine Leitplanke rast und mit dem Kopf auf dem Asphalt aufschlägt, steht danach wieder auf. Ich merkte, dass da wohl ein großes Danke an meinen Schutzengel angebracht war. DANKE!

Der Weg vom Bus zur Villa Esperanza kam mir am diesem Abend unendlich weit vor. Ich quälte mich humpelnd alle Treppen hoch und ging als erstes ins Bad zum Spiegel. Als ich mich sah, bekam ich einen richtigen Schrecken. Muss sich so Frankenstein gefühlt haben, als er sich das erste Mal im Spiegel betrachtete? Ich sah echt aus, als käme ich gerade aus Afghanistan. Oder als wäre ich mit ner PKK-Flagge durch Kreuzberg gelaufen. Ich fühlte mich richtig beschissen. Mir tat alles weh. Jede Bewegung schmerzte und mein Gesicht pochte und brannte, als hätte jemand Tabasco in die Wunden getan. Bevor ich ins Bett ging, packte ich meine Sachen aus. Ich hatte gar nicht mehr dran gedacht, zu prüfen, ob der Laptop noch in Ordnung war. Er war es. Keinen Kratzer. Im Gegensatz zu mir. Er war ja auch ausreichend geschützt gewesen. Ich dagegen hatte nicht mal einen Helm aufgehabt. Das sollte mir eine Lehre sein.

Ich schlief lange nicht ein. Zumal ich ja nur auf einer Gesichtshälfte schlafen konnte. Ich bin aber einer, der oft die Position verändert, während er schläft. Macht es nicht unbedingt einfach. Irgendwann schlief ich aber doch ein. Was für ein Tag. So surreal, aber doch schmerzhaft wahr.

Mittwoch, 21. Januar 2009

Tag 50 bis 54, Woche 6

Der Herbst ist da. Ja, ich weiß, nach dem Kalender ist das schon lange der Fall, aber im Süden dauert es eben etwas länger, bis die ersten Blätter fallen. Zumal es hier nicht so viele Bäume gibt, die das überhaupt tun. Viele Laubbäume gibt es im Vergleich zu Deutschland nicht und Palmen verlieren ihre Blätter generell nicht. Aber man merkt, dass es nun etwas unbeständiger ist. Das ganze Tal riecht jetzt nach dem wenigen Laub, das überall bergeweise verbrannt wird und je nach dem, wie der Wind steht, riecht es bei uns ab und zu wie in einer Räucherkammer. Ich liebe diesen Geruch. Das Wetter zur Zeit eher weniger. Die Sonne lässt sich jetzt nicht mehr so oft blicken und eines morgens war die Temperatur so extrem gefallen, dass alle besonders schnell zwischen den Gebäuden hin und her liefen, um nicht zu frieren. An diesem Morgen schien die kleine Region in den Bergen in eine Art Dornröschen-Schlaf verfallen zu sein. Die Palmen waren mit Raureif bedeckt, es drang kein Geräusch von der Küste zu uns hinauf und die Vögel schienen auch schockgefrostet zu sein. Sie gaben keinen Laut von sich. Den Tag zuvor war es noch angenehm warm gewesen und heute konnte man seinen Atem sehen, so kalt war es auf einmal. So einen Temperatursturz habe ich selten erlebt. Und auch die Menschen schienen etwas schwerfällig und beeindruckt von der kalten Atmosphäre zu sein. Generelle Müdigkeit war anzutreffen und der Konsum von Kaffee legte noch mal einen Zahn zu. Und wenn man aus dem Essenssaal des Alzheimer-Teils auf Meer blicken wollte, sah man nichts als eine große, wabernde weiße Suppe aus Nebel. Voll deprimierend, wie Julie feststellte.

Mit Sylvie bereitete ich diese Woche die Geburtstage der Bewohner des batiment nord vor, die im Oktober geboren sind. Um es nicht zu kompliziert zu machen, werden alle Geburtstage an einem Tag gefeiert, zusammen in großer Runde. Sylvie kauft dazu kleine Geschenke, wahrscheinlich im gleichen Laden, wo sie auch die Sachen fürs Lotto kauft. Diese verpacken wir dann schön. Und ist der große Tag gekommen, ist es wieder meine Aufgabe, alle vorgesehenen Bewohner einzusammeln und in den großen Essenssaal des batiment nord zu bringen. Inzwischen weiß ich auch schon, wer gerne neben wem sitzt und kann daher auf diese Wünsche eingehen. Während der Zeremonie, die immer gleich abläuft, wird jedem Geburtstagssenior einzeln sein Geschenk überreicht, was meistens mir überlassen wird und auch das übliche Geburtstagsständchen wird für jeden einzelnen wiederholt. Ist alles vorbei, bringe ich einzelne Bewohner wieder in ihre Zimmer, Aufenthaltsräume, oder wo sie eben gerade hinwollen. Alles in allem sind die Geburtstagsfeiern immer ziemlich stressig. Es sind immer viel zu viele Bewohner für den Essenssaal, es wird gequetscht, rangiert und umdisponiert. Und auch zeitlich stehen Sylvie und ich unter Druck, da um 15:30 Uhr wie immer der Nachmittags-Snack serviert wird. Bis dahin müssen wir fertig sein, was oft in Stress ausartet. Ist ja nix Neues. Daher bin ich froh, dass ich nur einmal im Monat die Ehre habe, an dieser Hetze teilzunehmen. Hätte ich etwas zu sagen, würde ich gewisse Dinge hier anders gestalten und organisieren.

Am Donnerstag stellte uns, das heißt mir und Sylvie, Madame Roche zwei junge Damen vor. Leyla und Charlotte, beide Psychologie-Studentinnen im 8. Semester, die an der Colline bis März eine Art Praktikum machen werden. Als praktische Ergänzung zum theoretischen Unterricht an der Uni sozusagen. Jeden Donnerstag und Freitag werden die beiden jetzt also teilweise mit mir und Cathy oder mit Madame Roche zusammenarbeiten. Die ganze Truppe verstand sich sofort gut mit den zwei Mädels, 23 und 28 Jahre alt, wenn ich das richtig gehört habe. Und sofort schlossen sich die beiden uns beim Mittagessen an. Jetzt waren wir also mindestens 4. So werden die Pausen auf jeden Fall nicht langweilig. Waren sie mit Cathy alleine ja aber auch nie. Um sich ein Bild von der Lage verschaffen zu können, hatte Madame Roche Leyla und Charlotte ins Centre gebeten, um zuzuschauen, wie Cathy und ich dort die Animationen durchführten. Zum Glück lief es inzwischen mehr oder weniger rund, so dass wir kein allzu jämmerliches Bild ablieferten. Die wichtigsten Namen sitzen inzwischen und wir wissen nun auch von fast allen ihren Sitzplatz beim Mittagessen, das genau nach der Animation serviert wird. Daher ist es auch unsere Aufgabe, die Bewohner, die an der Animation teilgenommen haben, an ihre Plätze zurückzubringen. Dabei hilft uns meistens ein junger Krankenpfleger, der auf den passenden Namen James hört. James ist irgendwie so was wie der Depp vom Dienst, immer am hetzen, immer am Bewohner hin und her schieben. Wenn wir mal nicht wissen, wer wo sitzt, hallt es immer ganz laut Jaaaaames durch die Halle und er kommt angewetzt. Irgendwie ist er seltsam. Jeden Morgen glotzt er mir auf mein Schild, weil er mal wieder meinen Namen vergessen hat. Und bei meinem Nachnamen muss er immer an diesen deutschen Fussball-Club denken, wie er immer sagt. Jeden Morgen sagt er das. Und jeden Morgen muss ich ihm inzwischen etwas genervt sagen, dass ich Schaake und nicht Schalke heiße. Schaake verdammt, wie kann man das mit Schalke verwechseln? Na ja, besser als Bayern...

Das Warten auf mein Rad machte mich teilweise echt kirre und jeden Tag, an dem es nicht kam, wurde meine Laune schlechter, wenn ich von Kollegen gefragt wurde, ob es denn nun endlich da sei. Schließlich wusste inzwischen die ganze Colline, dass ich es sehnlichst erwartete. Und viele haben mich gewarnt, ich solle ja vorsichtig sein, da man das Gefälle hier gerne unterschätzt. Kann ich mir gut vorstellen, hier geht es auch echt steil bergab und man bekommt bestimmt einen ziemlichen Zacken drauf, ohne überhaupt treten zu müssen. Aber schließlich bin ich ein erfahrener Fahrradfahrer, der jährlich über 2.000 Kilometer auf dem Sattel zurücklegt und ich kenne mein Rad gut. Ich bin eigentlich überhaupt kein Draufgänger-Typ, aber trotzdem freute ich mich schon darauf, das erste Mal dem Bus davon zu fahren und endlich unabhängig zu sein. Benny hatte mir mal erzählt, wie er mit seinem Vater Steffen Serpentinen hinunterjagte und wie geil das war. Seit dem hätte ich das auch mal gerne gemacht. So was ist das Highlight für Radfahrer wie mich. Ist zwar nur ne relative kurze Strecke hier, aber dafür kann ich es jeden Tag machen, wenn ich will. Das wird ein Spaß.

Noch mehr kirre als das Warten auf mein Rad, machte mich diese Woche das große weiße Ding, das man nachts am Himmel sehen kann. Ich habe mich bisher immer dagegen gewehrt, wenn meine Mutter sagte, dass es sie nicht wundern würde, wenn auch ich, wie sie, mondsüchtig sei. Mondsüchtig klingt voll krank und abgedreht, aber damit meint sie im Grunde genommen nur, dass der Mond gewisse Auswirkungen auf ihren Körper oder gewisse Dinge hat. Sie ist dann bei Vollmond ab und an recht mies drauf. Zum Glück wurde sie bisher noch nicht zum Werwolf. Diese Woche war Vollmond. Ich habe kaum geschlafen. Das könnte jetzt viele Gründe haben. Aber irgendwie zeigt das Psychogeschwafel meiner Mutter Wirkung. Es scheint mir tatsächlich die plausibelste Erklärung, dass ich mein aktuelles Schlafproblem dem Mond zu verdanken habe. Die Nacht von Mittwoch auf Donnerstag war die Krönung. Ich habe ohne Scheiß kein Auge zugetan. Ich habe keine Sekunde geschlafen. Und der nächste Tag war echt der Horror. Wie soll man arbeiten, wenn man nicht geschlafen hat? Ich habe es aber irgendwie geschafft. Aber lustig war es nicht. Und ich hatte ein Grauen vor der nächsten Nacht. Ich wünschte mir nichts mehr als ein bisschen Schlaf. Den bekam ich zum Glück auch. Nicht viel, aber besser als gar nichts. Und als der Mond wieder abnahm, schlief ich wieder wie gewohnt. Wie ein Murmeltier. Aber in dieser gesamten Woche habe ich so wenig geschlafen wie noch nie in meinem Leben.

Am 24. Oktober, dieses Jahr ein Freitag, hat mein Vater Geburtstag. Der Gute wird schon 59, aber er hat immer noch Träume, was er gerne noch alles machen würde. Das unterscheidet ihn glaube ich von meiner Mutter. Sie hat schon lange aufgehört zu träumen, habe ich oft das Gefühl. Das macht mich traurig. Resignierende Menschen machen mich traurig. Und Menschen ohne Träume sind Menschen ohne Zukunft, das sollte man nie vergessen. Träume sind es doch, die das Leben spannend bleiben lässt. Ich wünschte, Mama würde endlich wieder anfangen zu träumen. Es steckt doch so viel in ihr. Aber wenn einem der Glaube an sich fehlt, ist das wie ein Teufelskreis. Man strahlt nach außen immer nur das ab, wie man sich tief im Inneren fühlt. Papa ist da in der Hinsicht wie ein Käfer, der auf dem Rücken liegt und strampelt. Er probiert immer wieder aufzustehen, wenn ihn etwas aus der Bahn geworfen hat. Und nach einigen Versuchen schafft er es auch und macht weiter. Das macht ihn vielleicht für viele Leute so interessant. Er strahlt Zuversicht und Kontinuität aus.

Letztes Jahr hatte ich ihm einen Überraschungsausflug nach Mailand geschenkt. Als es bei Easyjet mal wieder ein Sonderangebot gab, habe ich ohne lange zu überlegen zugeschlagen. Morgens hin und abends mit der letzten Maschine wieder zurück, ohne dass er morgens wusste, wohin es geht, für insgesamt 50 €, für zwei Personen wohlgemerkt. Pro Strecke und Person also knappe 13 €. Hey Benny, weißte noch, wie viel wir damals für die Bahnfahrt nach Gransee (das liegt irgendwo 100 km nordöstlich von Berlin glaube ich) gezahlt haben, um da den Erste-Hilfe-Kurs zu machen? Müsste auf das Gleiche rauskommen. Dank Billigfliegern kommt man damit sogar nach Mailand und es war echt eines der sinnigsten Geschenke, das mir je eingefallen ist. Ich hatte schließlich auch was von, war ja dabei. Dieses Jahr bin ich also in Südfrankreich und mehr als einen Brief habe ich nicht zustande bekommen. Ist ja aber auch nicht schlimm, freuen tut er sich auch so. Und im März hat Mama Geburtstag, bis dahin kann ich mir auch noch was schönes für sie einfallen lassen.

Nach meiner Rückkehr aus der Mittagspause an besagtem Freitag den 24. Oktober wurde mir dann endlich berichtet, worauf ich so lange hatte warten müssen. Mein Rad sei da, allerdings müsste ich es abholen, da es durch einen angeblichen Schreibfehler in der Adresse in ein Lager gebracht wurde. Ich bekam den Lieferschein in die Hand gedrückt, auf dem auch irgendwie stand, wo ich hin müsste. Cathy war so lieb, für mich bei der angegebenen Nummer anzurufen, um etwas genauer rauszufinden, wo mein Rad war. Sie fand aber auch nicht mehr raus und zu viert rätselten wir weiter, wie man da am besten vorgehen könnte. Letztendlich fiel, wie so oft als Rettung, nur noch google-maps ein. Auch konnte die Dame am Telefon nicht sagen, ob das Lager, Postamt, oder um was auch immer es sich handelte, an Samstagen offen sei. Bis Montag wollte ich natürlich nicht warten, ein weiteres Wochenende im Bus war keine Option. Also nach der Arbeit ab zu McDonalds und auf gut Glück anfangen zu suchen. Die Adresse auf dem Lieferschein war sehr schwammig und wenig aussagekräftig. Ich wusste nur, dass ich in den Westen Nizzas musste, in ein Industriegebiet. Das konnte ja heiter werden. Ich musste wirklich einiges rätseln und variieren, bis google etwas einigermaßen hilfreiches ausspuckte. Einen genauen Straßennamen hatte ich aber weiterhin nicht. Nur die grobe Ecke. Gab zwar nicht so viele Straßen da, aber wenn man am falschen Ende anfängt zu suchen...

Ich wusste jetzt schon, dass ich einiges an Glück brauchen würde, um am nächsten Tag im Sattel zu sitzen. Ich glaubte ehrlich gesagt nicht daran, dass ich es finden würde. Zur Sicherheit machte ich einige Screenshots von dem google-maps-Ausschnitt und von der Wegbeschreibung zur Poststation, von der ich annahm, dass dort mein Rad sein könnte; dann zurück zur Colline. Falls ich es wirklich finden sollte. Ich wurde gerade noch fertig, um 21:30 Uhr kam schließlich der letzte Bus. An der Haltestelle schaute ich auf eine Karte aller Linien und probierte sie mit der Karte in meinem Kopf zu vergleichen, um rauszufinden, mit welchem Bus ich fahren müsste. Ich habe eine ausgesprochen gute Orientierung und dieses Mal würde eine echte Probe für sie darstellen. In die Ecke meines Zielgebietes fährt nur ein Bus, die Nummer 11. Na ja eigentlich zwei, die 33 auch. Die fährt aber nur während der Schulperioden und ich war mir nicht sicher, ob hier nicht zufälliger Weise gerade Herbstferien waren. Gibt es das in Frankreich überhaupt? Ich hatte keine Ahnung. Aber die 11 schien zumindest schon mal ein Anfang zu sein. Sie fährt die Promenade des Anglais lang und biegt dann kurz vor dem Airport nach Norden in die Berge ab. Mal sehen, wie weit ich morgen kommen würde und wo ich überhaupt landen würde, sagte ich mir innerlich. Ich ging früh ins Bett, da ich ja auch früh raus wollte, falls der Laden nur bis 12 Uhr Mittags aufhaben sollte.

Ich schlief sehr gut. Ich konnte ja nicht ahnen, was mich an diesem Samstag den 25. Oktober 2008 erwarten würde...