Dienstag, 24. Februar 2009

Tag 72 bis 78, Woche 9

Der Montag Morgen begann erst einmal ziemlich düster. Nachts hatte es dermaßen geregnet und gestürmt, dass es einen wichtigen Stromverteiler zerlegt hatte. Ergebnis: Die gesamte Küste und Teile des Hinterlandes waren den ganzen Morgen ohne Strom. Für die Colline bedeutete das Alarmstufe rot. Alle Türen, die ins Freie führen und normaler Weise, elektronisch verschlossen, nur durch Eingabe eines Codes zu öffnen sind, waren jetzt ohne Probleme passierbar. Für den Alzheimer-Teil ergab sich daher die Situation, dass wir alle Ausgänge besonders bewachen mussten, damit keiner der Bewohner abhauen konnte. Eine total wahnwitzige Angelegenheit. Die Atmosphäre ähnelte in dem Moment wohl mehr der eines Gefängnisses mit inhaftierten Schwerverbrechern, als der eines Altersheimes mit schwerkranken Menschen. Diejenigen, die nicht Wache schoben, konnten sich größtenteils zurücklehnen. Ohne Strom keine Arbeit. Als ich meine Runde machte, um das Datum zu wechseln, kam ich am Empfang vorbei, der sich im Erdgeschoss des Batiment Centre befindet. Und drin saß im dunkeln die arme Christianne vor dem ebenso dunklen Bildschirm ihres Computers. Mit dem diffusen Licht, das vom Eingang am Ende des Ganges eindrang, konnte sie nicht mal Papierunterlagen durchgehen und so konnte sie nicht mehr tun, als da sitzen und warten.

Eine Etage über ihr sah es nicht anders aus. Dank der vielen Fenster war es zwar hell, aber da kein Aufzug funktionierte, war der Aufenthaltsraum wie ausgestorben, das Leben schien still zu stehen. Nur die Bewohner, die auf dieser Ebene ihre Zimmer hatten, konnten diese verlassen. Alle anderen waren wegen ihres Alters auf den Aufzug angewiesen und daher auf ihren Etagen gefangen. Um 11 Uhr war der Strom wieder da, die „Wachposten“ im Batiment Sud konnten abgezogen werden und alle Feuerschutztüren innerhalb der Gebäude konnten wieder geöffnet werden. Diese schließen sich bei Feueralarm und Stromausfällen automatisch, um in einem echten Notfall Brandherde einzuschließen. So ähnlich, wie die Schotten auf Schiffen. Nur halt für Feuer und nicht Wasser. Existiert diese Technik überhaupt noch? Ich weiß es nicht. Aber die Geschichte der Titanic kennt ja jeder. Diese war in mehrere Sektionen unterteilt, alle durch Schotten abriegelbar. Sollte eine Sektion mit Wasser voll laufen, war es Aufgabe der geschlossenen Schotten zu verhindern, dass die anderen Sektionen ebenfalls voll laufen würden. Trotz Leck würde damit keine weitere Gefahr für das Schiff und die Passagiere bestehen.

Na ja, das Ergebnis dieser damals, wir reden immerhin vom Jahr 1912, revolutionären Technik ist ja bekannt. Aus Überheblichkeit und dem Glauben an die Unsinkbarkeit der RMS Titanic wurden die Schotten nur bis zum E-Deck gebaut. Man war der Überzeugung, dass kein Objekt das Schiff so schwer beschädigen könnte, dass eindringende Wassermassen höhere Schotten rechtfertigen würden. Nach der Kollision mit dem Eisberg konnte das Wasser daher gemütlich über die Schotten schwappen und so war das Schicksal des vielleicht legendärsten Schiffes der Geschichte besiegelt. Denn nur mit maximal 5 vollgelaufen Sektionen war die Titanic im Stande, sich über Wasser zu halten. Klarer Fall von dumm gelaufen. Ich weiß das übrigens nicht, weil ich Fan von Kate Winslet oder Leonardo DiCaprio bin. Ich habe zu Hause ein Buch der originalen Konstruktionszeichnungen der Titanic. Die müssten aus den Jahren 1910 und 1911 stammen, bevor das Schiff bei Harland & Wolf in Belfast gebaut wurde. Eigentlich ziemlich interessant, wie die Schiffe sich seit dem verändert haben. Wie dem auch sei. Jedenfalls erfüllen unsere Feuerschutztüren im Grunde genommen den selben Zweck, nämlich eine Gefahrenquelle daran zu hindern, sich auszubreiten. Und nur wenige Minuten, nachdem der Strom wieder da war, kehrte der normale Alltag zurück und jeder konnte seiner gewohnten Arbeit nachgehen.

Auch der Rest der Woche wurde vom schlechten Wetter bestimmt, das jetzt im Spätherbst mehr und mehr zum Davonlaufen war. Die für die Jahreszeit typischen Stürme scheinen dieses Jahr aber besonders heftig auszufallen und auch was die Häufigkeit angeht, sagen selbst die Einheimischen, dass es ihnen ungewöhnlich oft vorkommt. Der Klimawandel lässt grüßen. Cathy kam alleine diese Woche zwei Mal zu spät, da wegen anhaltendem Sturm die Wellen an der Küstenstraße zwischen Antibes und Nizza 3 mal höher als die Autos waren. Dass es richtig gefährlich werden kann, wenn so eine Welle einen Smart erwischt, versteht sich von selbst, und so wurde die Straße komplett geschlossen. Und kalt ist es geworden. Alles, bloß kein Schnee höre ich immer wieder. In Deutschland keine Seltenheit und immer schön anzusehen, ist es hier eine Katastrophe, wenn es mal schneit. Das tut es etwa nur alle 10 Jahre so doll, dass der Verkehr gänzlich zum Erliegen kommt. Man ist nicht ausgerüstet für solch ein Wetter. Und angeblich lohnt es sich nicht, Schneeketten, ausreichend Streusalz und andere Utensilien gegen das weiße Wunder anzuschaffen.

Und da die Colline in den Bergen liegt, könnt ihr euch ja vorstellen, was Schnee für uns bedeuten würde. Wir wären von der Außenwelt dann mehr oder weniger abgeschnitten, da weder Busse noch andere Fahrzeuge die Straßen mit ihren heftigen Steigungen befahren könnten. Kaum einer würde zur Arbeit kommen. Schon bei gutem Wetter dauert ein Fußmarsch von der Innenstadt zur Colline mindestens eine Stunde. Würde sich keiner freiwillig antun. Daher lebt man hier ganz gut ohne Schnee und hofft, dass dieser woanders niedergeht, wo man besser damit umgehen kann. Aber in Zeiten des Klimawandels wird man sich auch hier auf ein Umdenken einstellen müssen. Für Cathy bedeutet das zum Beispiel, dass sie, bei einem Wetter wie diesem, einfach eine Stunde früher aus dem Haus muss, um pünktlich auf Arbeit zu erscheinen. Und auch die Anschaffung der nötigen Ausrüstung bei Schnee könnte vielleicht einmal unumgänglich sein, wenn dessen Häufigkeit zunimmt. Schon komisch. Man hört nur Klimaerwärmung, aber gleichzeitig werden auch die Winter teilweise kälter und extremer. Selbst dort, wo sonst gemäßigtes Klima herrscht.

Am Mittwoch informierte mich Madame Roche über eine Änderung in meinem Arbeitsplan. Ab sofort sollte es jeden Donnerstag einen Ausflug mit höchstens 5 Bewohnern geben. Dazu würde immer ein ehrenamtlicher Fahrer kommen, und ich sollte ihn und die Bewohner begleiten. Fand ich eine sehr gute Idee. Den Bewohnern würde es gut tun, mal was anderes zu sehen. Die meisten verliessen die Colline ja nie. Und ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt Nizza noch nie verlassen. Eigentlich unglaublich. Ich war jetzt fast 2 Monate hier. Und hatte es nicht hinbekommen, einmal nach Antibes, Cannes oder Monaco zu fahren. Ist ja keine große Sache. Es fahren Busse, die nur einen Euro kosten. Weit ist es auch nicht. Aber bisher gab es in Nizza genug zu entdecken und ich kenne die Stadt inzwischen ganz gut. Zeit also für was Neues. Die wöchentlichen Ausflüge kamen da gerade Recht. Und schon am nächsten Tag sollte es los gehen. Bei dem momentanen Wetter sollte man sich aber nicht zu früh freuen. Bei Regen und Sturm würde sich eine Spazierfahrt im Auto kaum lohnen. Aber am Donnerstag war der Himmel strahlend blau. Der Wind war allerdings geblieben. Sollte uns aber nicht weiter stören. Sylvie hatte mir eine Liste mit Namen der Bewohner gegeben, die ihrer Meinung nach fähig waren, teilzunehmen. Das waren diejenigen, die sowohl geistig als körperlich in der Lage waren, von einem Ausflug zu profitieren. Jemand, der, mit Medikamenten vollgepumpt, im Auto nur schläft und zu entkräftet zum Aussteigen ist, hätte nichts davon. Und da nur 5 Plätze zu vergeben waren, beschränkten wir uns auf die fitten Bewohner.

Abfahrt 13:30 Uhr. Bis dahin musste ich bestenfalls 5 Bewohner aufgetrieben haben, die Lust hatten, mitzukommen. War gar nicht so einfach. Das Alter hinterlässt seine Spuren. Viele sind schwerfällig, lustlos und unmotiviert und daher wurde die Suche zu einem Überzeugungskampf. Aber am Ende waren alle 5 Plätze besetzt, plus dem Fahrer und mir. Bevor wir losfuhren, musste ich aber noch eine wichtige Sache erledigen. Den zuständigen Krankenschwestern der jeweiligen Gebäude musste mitgeteilt werden, wer alles mit uns kommen würde. Nur ganz wenigen Bewohnern ist es überhaupt erlaubt, die Colline alleine zu verlassen und selbst dann müssen sie es vorher anmelden. Geschähe dies nicht, wäre das Chaos groß, weil niemand wüßte, ob es der betreffenden Person gut geht. Aus dem selben Grund muss auch in Zukunft vor jedem Ausflug die Liste der Bewohner den Krankenschwestern übergeben werden, die dann eine Abwesenheitsnotiz erstellen, um ein späteres Suchen nach Personen zu ersparen.

Unser erster Ausflug sollte nach Villefranche gehen, nur wenige Kilometer östlich von Nizza. Am Steuer sitzt ab sofort Guy, Mitte 50 und in Toulouse geboren. Er hat einen komischen Akzent und ich kann mir nicht vorstellen, dass er den aus seiner Geburtstadt hat. An der Côte d’Azur lebt er, wie er mir erzählt, schon über 14 Jahre. Er kennt sich aus hier und an jeder Ecke kann er irgendetwas erzählen. Er benimmt sich irgendwie genau wie ich in Berlin, wenn ich mit Auswärtigen unterwegs bin. Immer bemüht, ein guter Stadtführer zu sein. Und wie ich über Berlin, weiß er unheimlich viel über die Geschichte von Nizza und der Küste. Merkte ich schon nach wenigen Minuten. Wir fuhren an der Promenade des Anglais entlang und kamen am Hafen vorbei. Hier war ich vorher noch nie und erst jetzt sah ich die teilweise riesigen Privatjachten. Guy erzählte, dass die meisten davon irgendwelchen Ölscheichs gehören, die ihre Spielzeuge den Winter über an der Côte d’Azur parken, bevor sie sie im März wieder abholen. Ziemlich beeindruckende Teile. So große hatte ich live bisher noch nie gesehen. Zumindest nicht bewusst.

Ab dem Hafen führt die Straße nach Villefranche einige Kilometer nicht mehr am Meer entlang, sondern ein kurzes Stück an den für Nizza typischen, gemütlichen Wohnhäusern vorbei. Immer im Stil, den ich schon vom Place Masséna kenne. Rote Wände, dazu einige beige Elemente, sowie grüne Fensterrahmen. Der Einfluss Italiens ist hier unverkennbar. Noch deutlicher wird der am Ortsausgangsschild. Die sind hier alle zweisprachig, mit dem französischen und italienischen Namen versehen. Um genau zu sein, das ist aber nicht Italienisch, sondern Nicois. Das ist der Dialekt Nizzas, der dem Italienischen sehr ähnelt. Durchgestrichen steht dann da Nice und darunter Nissa. Nicht das japanische Auto, sondern mit langem i ausgesprochen. Nießa sozusagen. Das klingt schon sehr italienisch. Kurz dahinter das nächste Schild. Drauf steht Bienvenue á Villefranche und drunter Villafranca. Das klingt schön. So wie Lucca. Klein und gemütlich. Lucca ist ein kleines Städtchen in der Toskana, in der Nähe von Florenz. Im Sommer 2004 hatte ich mit meiner damaligen Klasse der HCO eine Klassenfahrt in die Toskana gemacht und da waren wir unter anderem in Florenz. Und eben in Lucca. Wunderschön. Ich liebe diese kleinen italienischen Städtchen, auf deren Marktplätzen die italienischen Mamas sitzen und sich unterhalten. Irgendwo aus einem Fenster strömt der Geruch von ofenfrischer Pizza oder gerade gemachter Bolognaise. Und überall hört man Ciao bella hier, ciao bello dort. Herrlich.

Die Straße gewinnt etwas an Höhe und folgt wieder direkt am beziehungs- weise über dem Meer einer kleinen Landzunge. Hinter der taucht dann schräg vor dem Reisenden, ganz verschlafen, Villefranche auf. Es bietet sich ein malerisches Bild einer Bucht mit Segelbooten. Hier muss ich mal mit dem Rad hin. Dann kann ich auch anhalten und Fotos machen. Villefranche selber ist mindestens so schön, wie der Blick, den wir aus dem Auto darauf hatten. So langsam bekomme ich einen Begriff davon, warum so viele Maler an die Côte zogen, um sich inspirieren zu lassen. Die vielen kleinen Küstendörfer sind wie geschaffen dafür, auf Leinwänden festgehalten zu werden. Zum Kaffee-Trinken heute aber nicht. Guy kennt in fast jedem Dorf kleine Bars, wo er schon früher mit Bewohnern war. Hier haben wir heute aber kein Glück. Wegen vieler Bauarbeiten am Hafen können wir den Wagen nirgends parken. Andere Parkmöglichkeiten waren für die Bewohner zu weit von unserem Ziel-Café entfernt. Man muss immer aufpassen, dass sich die alten Leute nicht überanstrengen und einen Schwächeanfall erleiden, weil sie zu weit laufen müssen.

Wir entschieden uns, ein Dorf weiter nach Beaulieu zu fahren. Dort würde er auch ein nettes Café kennen und weit sei es auch nicht. Stimmte, denn keine 10 Minuten später waren wir da. Zwischen den Ortschaften liegen die Straßen deutlich erhöht, um dann kurz vor dem Ortseingang auf Meeresniveau zurückzukehren. So kann man wunderschön die traumhafte Aussicht genießen, solange man nicht am Steuer sitzt. Hab keinen Führerschein, also bin ich fein raus. Und was soll ich sagen, ein Städtchen schöner als das andere. Beaulieu liegt allerdings, anders als Villefranche, am Rande von schroffen Felswänden, was die Kulisse ziemlich beeindruckend macht. Auf der einen Seite das blaue Meer, auf der anderen Seite die 300 Meter Hohe Wand und mittendrin das kleine Beaulieu mit seinem malerischen Hafen. Hier stehen eher kleine Boote im Vergleich zu Nizza. Aber auch die hier sind schick und sicher nicht billig. Die kleine Hafenpromenade wird von vielen kleinen Restaurants und Cafés gesäumt und wir parkten genau vor unserer Zielkneipe. Den Namen habe ich leider vergessen. Ich werds nachreichen.

Guy kannte den Besitzer, der uns nett empfing und schnell einige Tische zusammen rückte. Dann bestellte jeder etwas zu Trinken. Ich entschied mich für eine heiße Schokolade. Es war zwar herrliches Wetter, aber der Wind war unangenehm kalt. Die Schokolade würde schön wärmen. Die anderen nahmen entweder das gleiche, oder Tee oder Kaffee. Den Nachmittag so zu verbringen, war irgendwie viel angenehmer, als in der Colline. Kann man ja kaum Arbeit nennen, wenn man in einem malerischen Dorf am Hafen sitzt und was trinkt, während man sich in französischem Smalltalk übt. Und es brachte Abwechslung in die ganze Sache. Der Arbeitsablauf in der Colline war ja mittlerweile jede Woche der selbe, mit wenigen Ausnahmen. Ich bin inzwischen zunehmend der Meinung, dass ich mit meinem Projekt ziemliches Glück hatte, wenn man von der Wohnsituation mal absieht. Ich habe akzeptable Arbeitszeiten, für einen Freiwilligen erstaunlich viele Kompetenzen, ich bin eine Respektsperson gegenüber Kollegen und Bewohnern und jetzt darf ich ein Mal wöchentlich die Gegend kennenlernen. Und die gehört zufälliger Weise auch noch zu den schönsten ganz Europas. Ist doch super. Also ich fühl mich wohl.

Als jeder gemütlich sein Getränk getrunken hatte, machten wir uns ans Bezahlen. Das artete irgendwie aus, da Guy die Materie des Zählens wohl nicht so beherrscht. Gut, ich will jetzt nicht behaupten, dass ich bei 7 Leuten keine Schwierigkeiten hätte, den Überblick zu behalten, aber so umständlich wie er, würde ich es nicht machen. Zumal er dauernd vergaß, welcher Bewohner wen eingeladen hatte. Ich saß nur da, mein Geld bereits auf den Tisch gelegt und lies die Franzosen quasi machen. Viel Glück Leute. Am Ende dauerte die ganze Bezahlaktion fast länger als das Trinken. Aber immerhin war jeder zufrieden, die Zeche mussten wir nicht prellen und wir konnten uns wieder auf den Weg zum Minibus machen. So nennen die hier den kleinen Transporter. Aus Sicherheitsgründen dauerte auch das Anschnallen etwas länger. Die Bewohner kriegten das mit den vielen Gurten teilweise nicht mehr selber hin und Guy musste dann immer helfen. Ich konnte da nicht viel helfen. Ich kapiere das Gurtsystem von Renault nämlich auch nicht...

Auf dem Rückweg konnte ich mich wieder ganz der Landschaft widmen. Die Bewohner unterhielten sich miteinander und so musste ich nicht, wie von Sylvie betont, immer animieren und erzählen. Was sollte ich auch groß erzählen? Die Gegend kannte ich kaum und Guy war da der definitiv bessere Reiseführer. Und irgendwann machte mich das Geschaukel des Autos so müde, so dass ich eh nicht mehr in der Lage gewesen wäre, auf Teufel komm raus mir irgendwas aus den Rippen zu leiern, um die anderen gut zu unterhalten. Ich musste mir echt Mühe geben, damit mir nicht die Augen zufielen. Aber selbst wenn, glaubte ich nicht, dass Guy mich verpetzt hätte. Gegen 17 Uhr waren wir wieder in der Colline. Wir „luden“ die Bewohner aus, zwei von ihnen begleitete ich ins Batiment La Colline und dann verabschiedete ich Guy für diese Woche und ging in den Alzheimer-Teil. Die letzte halbe Stunde meines Arbeitstages sangen Cathy und ich mit den Bewohnern.

Am Samstag wollte ich zum ersten Mal eine größere Tour mit meinem Rad machen. Meine Wunden waren inzwischen fast alle verheilt, wenngleich man immer noch gut sehen konnte, wo sie gewesen waren. Das Wetter war (zum Glück) super und lud förmlich dazu ein, auf zwei Rädern am Meer entlang zu fahren. Ich entschloss mich, Richtung Flughafen zu radeln. Den kannte ich ja noch nicht und ich war neugierig, ob man dort leicht Flugzeuge beobachten konnte. Der Flughafen Nice Côte d’Azur, so der offizielle Name, ist nach den Pariser Flughäfen Charles de Gaule und Orly der drittgrößte Airport Frankreichs, mit jährlich 10 Millionen Passagieren. Easyjet fliegt einmal täglich nach Berlin-Schönefeld, Delta Airlines täglich nach New York JFK und 5 mal in der Woche kann man die gigantische Emirates Boeing 777-300ER beobachten, wie sie nach Dubai entschwebt. Emirates, die größte Airline der Emirate hat 53 Airbus A380 bestellt und ist daher mit Abstand der größte Abnehmer des neues Super-Jumbos.

Zum Vergleich. Lufthansa hat nur 15 A380 bestellt. Die Scheichs aus Dubai wissen nicht, wohin mit ihrem vielen Geld. In ihrem Größenwahn lassen sie vor ihren Küsten künstliche Inseln aufschütten, die als Ganzes von oben betrachtet die Form der Welt und ihrer Kontinente haben, errichten die höchsten Gebäude, die teuersten und pompösesten Hotels und bestellen 53 Flugzeuge, von denen jedes einzelne 300 Millionen Euro kostet. Drei A380 wurden bereits an Emirates ausgeliefert, die bisher aber nur die Strecken von Dubai nach London und Sydney bedienen. Und ratet mal, welches französische Ziel das erste sein soll, dass Emirates mit ihrem neuen Flaggschiff bedienen will? Genau. Irgendwann 2009, je nach dem, ob Airbus mit dem Bau hinterher kommt und termingerecht ausliefern kann, wird Nizza von Boeing 777-300ER auf Airbus A380 umgestellt. Für mich bedeutet das mehr oder weniger Jackpot. Aber warum gerade Nizza und nicht Paris? Das hatte ich mich am Anfang gefragt, als ich es las. Das war bevor ich wusste, dass ich ein Jahr ins Ausland gehen würde. Normaler Weise sind es nur die großen Drehkreuze der jeweiligen Länder, London, Paris, Frankfurt, die die größten Flugzeuge abkriegen. Aber als wir Donnerstag am Hafen vorbeikamen und Guy erzählte, wem größtenteils die Luxusjachten gehörten, ging mir ein Licht auf und es begann Sinn zu machen. Die Côte d’Azur ist alles andere als ein armer Küstenabschnitt, und scheinbar genau nach dem Geschmack von viel zu reichen Scheichs, die mal was anderes sehen wollen als Sand.

Ich machte mich also Samstag Mittag auf den Weg zum Ausgangspunkt aller Ausflüge, der Promenade des Anglais. Die führt gen Westen direkt zum Flughafen und weiter nach Antibes und Cannes. Nach wenigen Minuten beginnt bereits das Flughafengelände. Und gleich das erste Flugzeug, das dort steht, zwang mich zum Anhalten. Der Radweg führt ja genau am Flughafenzaun entlang. Und dahinter steht eine echte Caravelle. Ich wusste gar nicht, dass es außerhalb von Museen davon überhaupt noch welche gibt. Die Caravelle war eines der ersten Düsenverkehrsflugzeuge und gilt noch heute als eines der schönsten Flugzeuge, das jemals gebaut wurde. Und das stimmt. Jetzt, wo ich sie vor mir sah, war sie selbst über 50 Jahre nach ihrer Inbetriebnahme um Längen eleganter und formschöner als der moderne Airbus A319, der in dem Moment im Hintergrund abhob. Was das angeht, haben die Franzosen schon immer mehr Stil bewiesen, als die anderen. Ältere Modelle von Renault und Citroen gelten als formvollendet und elegant und auch bei den Flugzeugen hatten sie mit der Concorde und der Caravelle zwei der schönsten Flugzeuge aller Zeiten entwickelt. Chapeau!

Hinter der Caravelle erstreckt sich der Teil eines jeden Groß- flughafens, der sich GAT nennt. Das steht für General Aviation Terminal. Alles, was nicht-gewerblicher Luftverkehr ist, wird hier abgestellt. Das sind dann zum Beispiel Geschäfts- oder Privatflugzeuge. Und von denen stehen hier ne ganze Menge rum. Das modernste und teuerste, was der Markt hergibt. Und ich musste nicht mal raten, woher die Leute kommen, denen sie gehören. Wahrscheinlich den selben Heinis, deren Schiffe im Hafen liegen. So eine Gulfstream V oder Cessna Citation kostet je nach Ausstattung schon mal 30 Millionen Euro. Von Landegebühren und dem Treibstoff wollen wir erst gar nicht anfangen. Man muss auf jeden Fall seeeehr reich sein. Aber praktisch sind die Teile. Nie mehr Flüge bei Airlines buchen, die zu teuer, zu unpünktlich und zu eng bestuhlt sind. Man ruft einfach seinen James an und eine Stunde später steht die Maschine startklar auf dem Vorfeld. Wenn man dann zwei Stunden nach dem Start keinen Bock mehr auf Malle hat, sagt man dem Piloten einfach, dass es stattdessen nach Rio geht. Ja, das muss ein Leben sein. Aber ich glaub, ich bleib lieber normal. Geld verdirbt den Charakter...

Ich fuhr nach genügend gemachten Fotos weiter, immer entlang am Zaun. Schon bald erreichte ich die erste Abfahrt zum Terminal 1. Ein sehr modernes Terminal. Zumindest sah es von außen danach aus. Es führte aber kein Radweg hin und ich traute den geisteskranken Autofahrern nicht, daher blieb ich auf meinem sicheren Radweg. Da konnte mir nix passieren. Es sei denn, ich packte mich selber auf die Fresse. Moment, da war doch was... Ich lies das Terminal 1 links liegen und fuhr geradeaus weiter. Schon bald kamen die nächsten Aus- Ab – und Einfahrten. Diesmal für das Terminal 2. Das war aber außer Sichtweite, da es nicht genau an der Promenade liegt, die inzwischen nicht mehr Promenade des Anglais heißt, sondern irgendwie anders. Hatte kein Straßenschild gesehen. Ich fuhr weiter geradeaus und irgendwann schien der größte Teil des öffentlichen Flughafengeländes erreicht zu sein. Ich überlegte, ob ich gleich weiter nach Antibes fahren sollte. Das wären aber gute 20 Kilometer. Nein, ich war zu faul. Ich fuhr nur noch wenige Kilometer weiter, bis zu dem Punkt, wo der gut ausgebaute Radweg endete. Dort hielt ich an und trank etwas. Ich müsste etwa auf Höhe des Beginns der Startbahnen sein. Ich blieb nicht lange stehen, da eine stark befahrene Straße nicht unbedingt der einladenste Ort für ein Picknick war.

Ich stieg also wieder auf und fuhr gemütlich zurück. Die Sonne war inzwischen am untergehen, und an der Caravelle stoppte ich nochmals, da sie nun etwas rötlich leuchtete. Zum Glück hatte ich daran gedacht, meine Lichter mitzunehmen. Durch die, im Vergleich zu Deutschland, hohen Temperaturen ist mein Körper irgendwie nicht in Winterstimmung, daher vergesse ich auch oft, dass es um 5 schon dunkel wird. Ich steckte also meine Lichter an und fuhr weiter. An der Stelle, an der die Straße nicht mehr durch den Flughafen vom Meer getrennt ist, sind mehrere kleine Boulefelder angelegt, auf denen ältere Leute eifrig am Spielen waren. Boule gilt trotz größerer Popularität von Fußball und Tennis immer noch als Nationalsport in Frankreich. In Deutschland ist es wenig bekannt, aber in meiner Familie hat es einen gewissen Stellenwert. Mein Cousin Janick und der Mann meiner Tante Heidi aus Mannheim spielen es im Verein, oft gemeinsam oder auch mal gegeneinander. Und das sehr erfolgreich. Janick wurde 2007 bei der Weltmeisterschaft in Phuket Fünfter. Nicht übel was?

Ich schaute den Leuten einige Minuten zu und genoss den Anblick der Küste, die mehr und mehr rötlich wurde. Überall in den entfernten Bergen konnte man sehen, wie kleine Lichter angingen. Es tat gut, sich zwei Wochen nach meinem schweren Unfall die Meeresbriese um die Nase wehen zu lassen. Und es tat gut, mal wieder eine längere Tour mit dem Rad gemacht zu haben. Das bewahrte mich aber nicht davor, dass ich auf dem Rückweg in die Hügel wieder schieben musste. Aber ich lies mir Zeit und so war nicht zu anstregend. Besser als Busfahren war es allemal.

Montag, 16. Februar 2009

Tag 65 bis 71, Woche 8

Es ging Monsieur L nicht besser, als ich am Montag morgen in den Alzheimer-Teil kam. War er vor wenigen Tagen noch alleine durch die Gänge des Batiment Sud gelaufen, fehlte ihm jetzt jede Kraft, selber aufzustehen. Er sah schlecht aus... Er war ja geistig noch nie der Fitteste gewesen, aber jetzt schien er überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, was um ihn herum geschah. Schaute man ihm in diesen Tagen in die Augen, hatte man das Gefühl, sie wären aus Glas. Er schaute einfach durch einen hindurch, als wäre man gar nicht da. Ich fragte mich, wie man einem Menschen helfen könnte, wenn dieser durch seine Krankheit längst nicht mehr in der Lage war, seinen eigenen Namen zu nennen, geschweige denn seine Beschwerden oder Schmerzen. Und irgendwie hatte ich das Gefühl, als könnte man in solchen Situationen gar nicht helfen. Der Mensch ist inzwischen im Stande, Herzen zu transplantieren, Blinde wieder sehen zu lassen und einem Pianisten eine amputierte Hand wieder anzunähen, sodass dieser danach Mozarts kleine Nachtmusik spielen kann, wie er es vorher getan hatte. Aber diesem alten Monsieur L sollte keiner helfen können? Das schien mir unmöglich nachzuvollziehen.

Die Stimmung im Alzheimer-Teil war ziemlich getrübt. Ich glaube, man kann 10 Jahre in einem Altersheim arbeiten. An das Gefühl, Seite an Seite mit dem Tod zu arbeiten gewöhnt man sich aber nie. Man akzeptiert es. Aber man gewöhnt sich nicht daran. Alles, was man tun kann, ist sich in den besonders harten Momenten, wie es dieser offensichtlich war, mit irgendetwas abzulenken. Daher konnte ich mal wieder froh sein, dass da eine Cathy war, die mir half, während der Mittagspause auf andere Gedanken zu kommen. Wir waren inzwischen ganz gut darin, uns gegenseitig, zumindest für diese gemeinsame halbe Stunde, so abzulenken, dass der Typ mit der Sense weit weg war. Man redet einfach über allen möglichen Mist. Und so fanden wir auch gleichzeitig einiges über den jeweils anderen raus. Cathy hat mich zum Beispiel ziemlich überrascht, als raus kam, was für Tiere sie zu Hause ihr eigen nennt. Überraschend deswegen, weil sie als hübsche und junge Frau nicht in das Schema (oder vielleicht auch Klischee) passt, absolut verrückt nach Ratten zu sein.

Ja, als Haustiere hält sie sich zwei Ratten. Eine erwachsene und eine Baby-Ratte. Und ihre Augen wurden ganz glänzend, als sie erzählte, dass ihr die kleine Ratten letztens zum ersten Mal aus der Hand gefressen hatte. Die Große habe ja schon lange keine Angst mehr und sei zahm, aber die Kleine wär immer zu ängstlich gewesen. Wie Menschen doch so unterschiedlich sein können. Die einen hassen Ratten und die anderen erfreuen sich an ihnen, als gäbe es nichts Schöneres. Ich mag Ratten wie die meisten Menschen nicht besonders. Sie sind hässlich und haben ein schlechtes Image. Aber seit Cathy mir ab und zu von ihren kleinen Haustieren erzählt, habe ich angefangen, etwas differenzierter darüber zu denken und letztendlich sind das genau die Geschichten, die man zwischen Tod und Alzheimer braucht, um mal den Kopf frei zu bekommen.

Aber auch abgesehen von Ratten gab es am Anfang dieser Woche genügend Gesprächsstoff. Ich sage nur “Yes we can!” Dienstag würden die Vereinigten Staaten einen neuen Präsidenten wählen und wie in Deutschland halten die Franzosen nicht sonderlich viel von Bush, McKain und den anderen Republikanern. Aber nicht nur deswegen ist Barak Obama uneingeschränkter Sympathieträger. In Europa setzt man sehr viel Hoffnung in diese junge und dynamische Person. Ich auch, wobei ich mir keine Illusionen mache, dass ein einziger Mann in einem System wie der amerikanischen Politik viel ändern wird. Aber alleine durch seine Hautfarbe könnte er in vielen Köpfen einiges bewegen. Da ist es auch interessant zu wissen, dass die Franzosen die Amis für ziemliche Rassisten halten. Und so sehr man sich einen Sieg von Obama wünscht, so wirklich trauen tut den Amis hier keiner. Bush haben sie wiedergewählt, und trotz des angeblichen Verdrusses nach 8 Jahren Republikanern an der Macht, muss dieses Land erst einmal beweisen, dass es auch nur die Hälfte von europäischem Politikbewußtsein besitzt. In einem Land von „Niggern“ und dem KKK würde ein schwarzer Präsident daher vielleicht für einen Hallo-Wach-Effekt sorgen. Ach ja, fast alle Putzfrauen bei uns sind schwarz, daher war klar, dass auch die Colline fest in Obama-Hand war.

Als Obama im August seine einzige öffentliche Rede in Europa vor der Siegessäule im Herzen Berlins hielt, entschieden sich Melly und ich, auch hinzugehen. Sind ja eh nur 1.000 Meter von mir bis zum Großen Stern, auf dem die Siegessäule steht. Und es waren tatsächlich 200.000 Menschen, die in den Tiergarten strömten, um zu sehen, wie weit dieser Mann sein offensichtliches Ziel erreichen würde, hier in die Fußstapfen von John F. Kennedy zu treten. Das ist allerdings unmöglich. Kennedy hat sich mit nur drei Worten in Berlin unsterblich gemacht, und manche böse Zungen in den USA warfen Obama ein unerhört arrogantes Verhalten vor, als Präsidentschaftskandidat sich bereits als sicherer Sieger feiern zu lassen. Diese Reaktionen waren meiner Meinung nach aber nicht groß verwunderlich, denn eines musste man Obama und seinen Planern lassen. Die einzige Rede in Europa gerade in Berlin zu halten, war ein verdammt geschickter Schachzug. Berlin spielte schon immer eine besondere Rolle für die USA. London und Paris sind nur zwei wichtige Hauptstädte, aber im geteilten Berlin spielte sich der Kalte Krieg gegen die Sowjetunion ab. Und nach dem Fall der Mauer gilt Berlin in vielen Staaten als Stadt der Freiheit und des Wandels. Kann ich als Berliner nur unterschreiben.

Seit dem Fall der Mauer hat sich Berlin gewandelt, wie keine andere Stadt zuvor. Und sie hat sich still und heimlich aufgemacht, den einst unbestrittenen Weltstädten Paris und London in Europa den Rang abzulaufen. Würde man Berlin personifizieren, wäre es vielleicht eher eine wunderschöne, stolze aber schüchterne Dame, die es den anderen nicht so gerne auf die Nase bindet, dass sie den Vergleich mit anderen Weltstädten nicht mehr zu scheuen braucht. Eine stille Genießerin trifft es vielleicht ganz gut. Für amerikanische Präsidenten gilt Berlin zudem als Stimmungsbarometer. Ich erinnere mich noch, als Bush zum Antrittsbesuch herkam. Die ganze Innenstadt wurde abgeriegelt. Und das nicht, weil die Berliner es nicht hätten erwarten konnten, den neuen Präsidenten in Empfang zu nehmen und ihm alles Gute für seine Amtszeit zu wünschen. Ich weiß nicht, wann es in Deutschland zuletzt brennende US-Flaggen gab, aber Bush hat sicher bemerkt, dass er zwar in seinem eigenen Volk viele Anhänger hatte, in Berlin aber nicht willkommen war. Und jetzt kam Obama nach Berlin, ohne überhaupt Präsident zu sein. Ich glaube nicht, dass seit Kennedy ein amerikanischer Politiker so viele Sympathien erhalten hat. Diesbezüglich hat er sein Ziel auf jeden Fall erreicht. Fast jeder Berliner ist sich sicher, dass Obama die Wahl gewinnen wird und das damit das deutsch-amerikanische Verhältnis wieder etwas gerade gerückt werden kann, nachdem 8 Jahre Bush so ihre Spuren hinterlassen haben. Und wieder einmal wird es Berlin gewesen sein, das indirekt einen Wandel eingeleitet hat.

Das Wetter an diesem August Tag war perfekt für eine Rede gewesen. Die war aber nicht besonders weltbewegend. Rhetorisch nahezu perfekt, war der Inhalt dagegen wenig überraschend gewesen. Er beschwor das deutsch-amerikanische Verhältnis und die Bedeutung Berlins für die Amerikaner. Er sei stolz, hier seine einzige Rede in Europa halten zu können, auch wenn der Berliner Senat ihm den Marsch durchs Brandenburger Tor verwehrt hatte. Das ist dann wohl doch nur ein Privileg bereits gewählter Präsidenten, aber Wowereit hat ja bereits angekündigt, dass er das bei seinem nächsten Besuch in Berlin gerne nachholen könne. Auch hier gibt es wohl wenig Zweifel, dass Obama die Wahl nicht gewinnen würde. Alles in Allem wurde Obama von den 200.000 Menschen auf der Strasse des 17. Juni frenetisch gefeiert. Und eines ist sicher. Vergessen wird man diesen Auftritt, wie den von Kennedy, so schnell nicht.

Aber kehren wir wieder nach Nizza im November zurück. Als ich Mittwoch früh in die Colline kam, lag eine komisch fröhliche Stimmung in der Luft. Müde, wie ich war, dauerte es einige Minuten, bis ich begriff, dass wohl gerade die Wahlergebnisse aus Washington über den großen Teich geschwappt waren. Und der neue Präsident der Vereinigten Staaten war natürlich und zum Glück Barak Obama. Ich hatte zwar eigentlich die Daten zu wechseln, aber ich setzte mich kurz in den salle d’animation, in dem der Fernseher lief und verfolgte einige Minuten CNN. Bin hier eh irgendwie der einzige, der Englisch versteht. In dem Fall war das aber egal, das wichtigste versteht man auch so. Hinter mir standen zwei schwarze Putzfrauen und bei den Bildern der jubelnden Menschen irgendwo in Afrika brauchten sie die Worte der Kommentatorin gar nicht zu verstehen, um überglücklich zu sein. Sie sagten nichts, aber irgendwie merkte man ihnen an, wie stolz sie waren, die gleiche Hautfarbe des neuen amerikanischen Präsidenten zu haben. Für mich waren diese zwei Putzfrauen das Paradebeispiel dafür, dass die Welt schon Minuten nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses mehr gewonnen hatte, als in 8 Jahren Bush.

Am Samstag war das Wetter wieder einmal sehr warm und sonnig. Also zu schön, um den ganzen Tag in der Bude hocken zu bleiben. Ich ging für meine Verhältnisse relativ früh aus dem Haus. Mit meinem kleinen Foto bewaffnet, fuhr ich zum Place Masséna, um wieder einige Bilder zu machen. Ich glaube, das Fotografen-Gen hat man dann, wenn einem das Gefühl beschleicht, ohne Fotoaparat etwas zu verpassen. Hat man den nicht dabei, vermisst man etwas und fühlt sich irgendwie unterbeschäftigt, wenn man bei strahlender Sonne mit leeren Händen auf einem der schönsten Plätze Europas steht.

Solche Teile wurden gebaut, um fotografiert zu werden. Gut, das war den Erbauern damals sicher nicht bewusst. Aber ich denke, heute sind solche Orte dafür da, zum Beispiel meinen Blog zu schmücken. Ich liebe den Place Masséna. Die Synthese des Brunnens mit dem blauen Himmel und den rötlichen Gebäuden aus der belle époque ist einfach wunderschön. (Seit mal ehrlich, der Satz hat was, oder?) Aber erst die Menschen machen die Szene komplett. Ohne sie wäre es leblos. Aber Menschen muss man hier zum Glück nie suchen. Sind immer welche da, auch jetzt, wo die Nebensaison bereits begonnen hat und es etwas ruhiger im Vergleich zum September geworden ist.

Die kleine Parkanlage neben dem Place Masséna ist Treffpunkt der Jugendlichen Nizzas. Mir fällt grad kein besserer Vergleich ein, aber die Popularität dieses Ortes für die Jungen dürfte in etwa so, wie die der roten Telefonzelle vor dem Rathaus Spandau, sein. Der ehemaligen Telefonzelle muss man leider sagen. Irgendwelche Idioten haben an ihr immer wieder ihre Aggressionsstaus oder Pubertätsschübe ausgelassen, bis sie letztendlich abtransportiert wurde. Sie war Kult und ist es immer noch. Denn irgendwie sagen immer noch alle, dass sie sich vor der roten Telefonzelle treffen. Der Ort ist durch sie zu ner Art Pilgerstätte für Jugendliche geworden. Es gibt sogar Gruppen im schueler- und studiVZ, die sich um sie drehen. Auf jeden Fall erinnerte mich dieser Ort in Nizza an den Ort der roten Telefonzelle Spandaus. Hier ist es aber definitiv schöner und ruhiger. Nicht so viel Verkehr wie auf dem Altstädter Ring, der großen Straße vorm Rathaus Spandau. Palmen gibt es dort auch keine. Hier säumen sie überall Wege und Parkanlagen, und vermitteln einen Hauch von Urlaub. Ich muss mich oft daran erinnern, dass ich aber gar nicht im Urlaub bin, sondern ein Jahr habe, diesen wunderschönen Ort zu genießen. Hach, bin ich ein Glückspilz.

Nachdem ich etwas durch den kleinen Park geschlendert war, hier und da ein Foto geschossen und den kleinen Springbrunnen zugesehen hatte, lief ich weiter. Ich wollte zu C&A, um mir eine neue Jeans zu kaufen. So viele hatte ich nicht hier und bevor meine Mutter Geld für Porto ausgeben würde, um mir welche zu schicken, konnte ich mir auch gleich hier eine kaufen. Geht zudem schneller. So schnell dann aber auch wieder nicht. Es war ja Samstag und dieser Tag ist erfahrungsgemäß der Tag, an dem die Leute all ihre Einkäufe erledigen.

Dementsprechend voll war die Avenue Jean Médecin und ich glaube nicht, dass es in Berlin viele Orte gibt, an denen so viele Fußgänger unterwegs sind. Dort verteilen sich die Massen nun mal auf mehrere Zentren. Nizza hat nur ein richtiges Zentrum und das ist die Avenue Jean Médecin. Ich blieb wieder alle paar Meter stehen, um Bilder von der Fußgänger-Rushhour zu machen, so dass ich irgendwann keinen Bock mehr hatte, mich ins Getümmel bei C&A zu stürzen. Kann ich genauso gut unter der Woche machen, wenn weniger los ist. So lief ich umher und lies mich von den Massen treiben. Bei so tollem Wetter im November sind alle natürlich super drauf. Muss man ja nutzen. Und so ist dieses Foto mit einer Gruppe Jugendlicher entstanden, die sich mir vor die Kamera gestellt haben. Mitten auf den Strassenbahnschienen. Die stand aber noch hinter uns an der Haltestelle. Und da die hier eh nur Schritttempo wegen der vielen Passanten fahren können, kann eh nix passieren. Ich finde das Bild cool. Es spiegelt schön die Atmosphäre wieder.

Als es langsam dunkel wurde, machte ich mich auf den Weg zu McDonalds. Ich hatte eine Mail von meinem Vater erhalten. Er hatte inzwischen die Umbuchung meines Fluges nach Paris vorgenommen. Kostete über 30 € Gebühr und war daher fast so teuer, wie der eigentliche Flug. Ich würde jetzt also den selben Flug wie vorher, nur einen Tag früher nehmen. Easyjet 4066, der um 10:20 Uhr startet und um 11:50 Uhr in Paris ankommt. Da das geschäftliche damit erledigt war, konnte ich mich bei McDonalds ganz entspannt zurücklehnen und mich MSN widmen. Oder wieder neue Dinge entdecken. Wenn man, so oft wie ich, in ein und dem selben Laden sitzt, kennt man irgendwann jeden, der wie ich auf kostenloses WLAN angewiesen ist und daher regelmäßig zu McDonalds pilgert. Aber ich erkenne auch immer öfter Leute ohne Laptop wieder, die einfach regelmäßig zum Essen her kommen. Die vielleicht markantesten Personen sind drei betagte Damen. Ich sehe sie nie essen. Nur quatschen. Deswegen markant, weil ein McDonalds nicht unbedingt der Laden ist, in dem man drei elegante, sicherlich wohlhabende Freundinnen erwartet, die scheinbar nur herkommen, um den neuesten Tratsch und Klatsch auszutauschen. Seit einigen Wochen sind sie fast immer da, wenn ich gegen 19 Uhr dort auftauche.

Sie sitzen immer auf dem selben Platz. Meinen ehemaligen Stammplatz am Fenster mit Blick aufs Meer habe ich inzwischen gegen einen anderen Platz eingetauscht. Und wisst ihr warum? Ich hab da nebenan ne Steckdose gefunden. Nach was weiß ich wie vielen Wochen, habe ich durch Zufall bemerkt, dass aus dem Laptop anderer Leute erstaunlich viele Kabel führten und als ich diese verfolgte, endeten sie in besagter Steckdose. Ich hab echt nicht schlecht gestaunt, dass mir das vorher nicht aufgefallen war. Zu Manon habe ich noch lachend gesagt, dass es bei McDonalds doch keine Steckdosen gäbe... Nächstes Mal sehe ich genauer nach, ehe ich meinen vorlauten Mund aufmache. Ich ärgerte mich nur, dass ich so viele Wochen lang immer gegangen war, wenn mein Akku leer war. Und das nur, weil ich nicht richtig geschaut hatte.

Dadurch, dass es aber nur eine Steckdose ist, habe ich keine Garantie, auch wirklich an Strom zu kommen. Je nach dem, wie viele Leute mit ihren Laptops da sind. Das nächste Problem geht von den Angestellten aus. Eines Tages, ich hing gerade am Strom, kam eine Frau zu mir und sagte, dass es verboten sei, hier Strom zu ziehen. Ich fragte nur etwas frech, wozu die Steckdose denn dann da sei. Konnte sie mir nicht beantworten. Es würde McDonalds aber viel kosten, wenn sich dauernd die Leute mit ihren Laptops dort anschließen würden. Ja nee, ist klar. Eine Firma wie McDonalds, die im Jahr unzählige Milliarden an Umsatz macht, mault rum, weil sich Leute der Steckdose bedienen. Dann müssen die pro Tag eben nen Hamburger mehr verkaufen und gut is. Absolut lächerlich. Zudem die an uns doch gut verdienen. Schließlich essen viele Leute hier, nachdem sie im Internet waren. Ich inzwischen nicht mehr. Ist nicht gesund und geht auf Dauer ziemlich aufs Geld. Daher schließe ich meinen Laptop meistens wieder an, wenn die Angestellten weg sind. Die können mich mal.

Und dann sind da noch zwei obdachlose Damen, die jeden Tag herkommen. Jetzt, wo es nachts empfindlich kalt wird, haben sie hier wenigstens bis zur Schließung einen Ort, an dem sie sich wärmen können. Sie werden toleriert und kennen einige Angestellte sogar so gut, dass sie sich ab und zu mit ihnen unterhalten. Die zwei Frauen unter sich sprechen aber nicht miteinander. Habe ich zumindest noch nicht bemerkt. Und getrennt sitzen sie. Anscheinend kennen sie sich gar nicht. Ich finde das eine schöne Geste der Angestellten, dass sie zumindest die eine Dame immer grüßen und fragen, wie es ihr geht. Ich frage mich dann immer, wie das wohl in Deutschland ablaufen würde. Aus irgendeinem Grund kann ich mir nicht vorstellen, dass man sie dort tolerieren, geschweige denn mit ihr reden würde. Ist doch unangenehm für die anderen Gäste und damit geschäftsschädigend... Vermutlich denke ich so, weil ich mein Land zu gut kenne. Spiegelt aber meine Einschätzung wieder, dass in Frankreich mehr soziale Toleranz und Zivilcourage gegenüber älteren oder sozial benachteiligten Menschen vorhanden ist. Am deutlichsten ist da der Unterschied zu Deutschland in den Bussen, wo wir mal wieder bei meinem Lieblingsthema wären. Steigen alte Leute in nicht selten überfüllte Busse, wird ihnen in 99 % der Fälle sofort ein Sitzplatz angeboten. Und zwar auch von Jugendlichen. Find ich enorm. In Berlin glotzen die Jugendlichen die alten Leute meist noch frech an oder drehen den mp3-Player lauter, um auf beschäftigt zu tun.

Mir sind da aber noch paar andere Besonderheiten aufgefallen, wenn ich mit dem Bus unterwegs bin. Ich weiß, es hängt euch mittlerweile bestimmt zum Hals raus, so viel davon zu hören, aber mein Versuch, dank meines Rades endlich nie mehr Bus fahren zu müssen, ist ja kräftig in die Hose gegangen. So stehe ich jetzt wieder jeden zweiten Abend gegen 21:30 Uhr an der Bushaltestelle und warte. Machen wir mal kurz einen Crashkurs zum Thema „Andere Länder, andere Sitten“. Um in einen Bus einzusteigen, muss man in Berlin einfach nur dastehen. Gehen wir mal davon aus, dass aus dem ankommenden Bus niemand aussteigen will. Er wird (in der Regel) anhalten und man kann einsteigen. Und egal, ob es der richtige Bus ist, stehen Leute an der Haltestelle, wird ein Berliner Bus fast immer anhalten. Gilt natürlich größtenteils nur für Stationen, an denen mehrere Linien halten. Denn der Busfahrer weiß ja nicht, wer von den wartenden Leuten in seine Linie einsteigen will.

Die gleiche Situation mit den gleichen Voraussetzungen in Nizza. Eine Station, an der 4 Linien halten. Mein 22er kommt und niemand will aussteigen. Ich stehe zwar da, aber der Bus fährt, ohne zu halten, weiter. Und wieso? Weil ich ihm kein Zeichen gegeben habe, dass ich einsteigen will. Ein kurzes Heben der Hand reicht und der Fahrer weiß Bescheid. Besonders abends, wenn wenig los ist, tut man als Auswärtiger gut daran, sich diese Geste schnell anzugewöhnen. Das habe ich und bisher ist kein Bus an mir vorbei gefahren. Liegt vielleicht auch daran, dass unter der Woche der Busfahrer fast immer der selbe ist. Der kennt mich inzwischen schon. Ist ähnlich, wie bei McDonalds. Wenn man oft genug an den selben Orten ist, oder einen Bus um immer die selbe Zeit nimmt, kennt man irgendwann jeden. Das sind die Facetten einer Stadt, in denen sie zum Dorf wird. Das aber nur, wenn man etwas genauer hinsieht. Aber darin bin ich ja ganz gut.

Montag, 9. Februar 2009

Tag 58 bis 64, Woche 7

So schlimm, wie ich es mir vorgestellt hatte, war das Aufstehen am Montag Morgen gar nicht. Mir taten zwar immer noch sämtliche Knochen und Muskeln weh, aber das war kein Grund, nicht zu arbeiten. Den ganzen Tag im Bett liegend, würde ich mich wahrscheinlich zu Tode langweilen. Ich frühstückte ausgiebig. Ein weiteres Zeichen dafür, dass es mir wieder besser ging. Wenn der Hunger stimmt. Die Treppen hinunter zur Arbeit waren aber immer noch eine zeitaufwendige Sache. Humpeln würde ich wohl noch mindestens eine Woche. Schon auf dem Hof zwischen Batiment Sud und Batiment La Colline kam mir eine Krankenpflegerin entgegen und sah mich total entsetzt an, als sie so nah war, um mein Gesicht zu erkennen. Ich blieb nicht stehen, um ihr alles haarklein zu erzählen, sondern rief ihr im Gehen nur zu, dass ich einen Unfall gehabt hätte. So ging das den ganzen Morgen, an dem ich, wie üblich, in allen 4 Teilen das Datum änderte. Irgendwann lief ich dann auch Monsieur Fel, dem kleinen Hausmeister über den Weg. Und was soll ich sagen, der Arme war so mitgenommen, dass er kein Wort mehr heraus bekam. Man könnte meinen, ich hätte ihm den Schock seines Lebens beschert. Irgendwie tat er mir ja fast schon leid. Na ja, nicht wirklich, aber wenn ihr diesen kleinen, fast wie ein Kind hilflos dastehenden Kerl gesehen hättet, ihr hätte sicher auch grinsen müssen.

Im Grunde genommen bestand der Tag, wie die gesamte Woche, eigentlich nur darin, meine Geschichte zu wiederholen. Bei 150 Bewohnern und fast so vielen Mitarbeitern dauert es eben seine Zeit, bis jeder Bescheid weiß. Besonders „lustig“ war das, wie könnte man es sich auch anders vorstellen, im Alzheimer-Teil. Tja, da habe ich zuerst auch nicht dran gedacht, dass es irgendwie anders laufen könnte, als bei den anderen Bewohnern. Aber schon im Aufzug, auf dem Weg in den Alzheimer-Teil, dämmerte es mir. Scheiße, was machst du eigentlich, wenn die dauernd vergessen, dass du ihnen gerade von deinem Unfall erzählt hast? Aber bevor ich mir darüber weitere Gedanken machen konnte, wurde ich schon von Julie in Empfang genommen. Sie hätte schon Samstag Abend davon gehört und nachts kaum geschlafen, weil sie nicht wusste, wie schlimm es war. Wie süß. Ich war richtig gerührt, dass sie sich echt Sorgen gemacht hatte. Und scheinbar war es schon zu einigen Mitarbeitern durchgesickert. Julie drückte mich einmal ganz lieb und war sichtlich erleichtert, als ich ihr sagte, dass ich nur 2 Stunden im Krankenhaus gewesen und außer den oberflächlichen Wunden mit einem blauen Auge davon gekommen war. Mach so was nie wieder, sagte sie schmollend. Ich versprach es

Und dann kam das, was ich befürchtet hatte. Die Alzheimer-Patienten konnten sich keine 2 Minuten merken, was ich ihnen erzählte. Das lief in etwa so ab:

- Simon kommt in den Raum und begrüßt alle
- Bewohnerin: Guten Tag junger Ma... Oh was haben sie denn da gemacht?
- Simon (lächelnd): Hallo Madame L. Ich hatte einen Fahrrad-Unfall.
- Bewohnerin: Uh lala, das ist gefährlich mit den Rädern hier.
- Simon dreht den Kopf weg, um Bewohnerin am Nachbartisch zu begrüßen
- Simon dreht den Kopf mit der betroffenen Gesichtshälfte wieder zurück
- Bewohnerin: Ach du Sch... was ist denn mit Ihnen passiert?
- Simon (noch geduldig lächeln): Bin mit meinem Rad gestürzt.
- Bewohnerin: Oh je, das ist böse.
- Simon geht aus dem Raum oder zum Waschbecken, um sich etwas zu Trinken einzugießen
- Simon kommt wieder oder dreht sich mit der einen Gesichtshälfte wieder den Bewohnern zu
- Bewohnerin: Oh, was ist ihnen denn zugefahren?
- Simon (mit regungsloser Mine): Fahrrad-Unfall...
- Bewohnerin: Jaja, damit muss man hier höllisch aufpassen.
- Simon: Was sie nicht sagen...


So ging das eine halbe Stunde und ich war noch nie so froh, dass ich Montag morgens immer das atelier informatique habe. Bei so was dreht man auf Dauer doch durch... Und es war erschreckend, dass ich mich nur wegdrehen musste, und alles im Gedächtnis der Bewohner gelöscht zu sein schien. Sie stellten zwar keine Fragen mehr, wer ich wäre, da ich ihnen im Unterbewusstsein inzwischen bekannt war, aber jede äußere Änderung oder Auffälligkeit überforderte ihr Kurzzeitgedächtnis und zwang sie, Fragen zu stellen. Wieder und wieder. Bis die Information im Unterbewusstsein angekommen war. Das ist das typische Muster von Alzheimer.

Nach dem Ende der Arbeit fragte ich mich, was eigentlich anstrengender gewesen war. Die eigentliche Arbeit, oder das sich Anglotzen lassen, weil man aussieht wie der letzte Hänger. War mir dann aber auch egal. Das Schlimmste hatte ich hinter mir. Eigentlich müssten es inzwischen fast alle wissen. Ich mochte es nicht, so im Rampenlicht zu stehen. Der Deutsche, der immer seinen besonderen Auftritt braucht. Das wurde nicht über mich erzählt. Vielmehr war es meine eigene Wahrnehmung. Ich vermute, dass diese aus meiner Unzufriedenheit darüber resultierte, mich fast selber ins Grab befördert zu haben.

Diese unvorsichtige Draufgängeraura, die da so um mich rum zu wehen schien, passte überhaupt nicht zu mir. Sich kopflos auf zwei Rädern die Berge runterstürzen wird mir dafür aber kein zweites Mal passieren. Trotz allen Bemühungen meinerseits, den Unfall runterzuspielen, war er noch die ganze Woche Gesprächsthema Nummer Eins in der Colline. Die Entwicklung meiner Wunden schien jeden brennend zu interessieren. Dann kamen Sätze wie: Och, das sieht doch schon viel besser aus. Ja, danke. Sehe ich selber, hab nen Spiegel im Bad hängen. Tatsächlich schienen die Wunden erstaunlich schnell zu verheilen. Bereits am Ende der Woche lösten sich sie ersten Krusten und man konnte die neue gebildete Haut sehen. Nur die Wunden an den Händen hielten sich hartnäckig. Sie schienen tiefer zu sein, als die Schürfwunden im Gesicht.

Auf meinem Zimmer, endlich meine Ruhe findend, machte ich an diesem Montag noch mal einige Bilder von mir, jetzt das erste Mal ohne Verbände und Pflaster. Und als ich sie mir auf dem Laptop anschaute, sah ich da einen Sträfling, vermutlich Waffendealer an der Mexikanischen Grenze, der in Guantanamo noch mal schnell ein Andenken-Bild bekommt. So düster habe ich mich auf jeden Fall noch nie gesehen. Der passende Blick dazu ist aber auch wirklich gut gelungen...

Um mal wieder von etwas Anderem zu reden, erzähl ich einfach mal vom Wetter. Das wurde, zum Ende der Woche hin, immer schlechter. Der Herbst begann sich richtig auszutoben. Mit viel Regen, teilweise sinnflutartig, gepaart mit heftigem Wind. Ich hatte, außer zum Arbeiten, seit Dienstag das Haus nicht mehr verlassen und so langsam die Schnauze gestrichen voll. Am dollsten war es am Donnerstag. So viel Regen über einen so langen Zeitraum hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Es war tagsüber so dunkel, dass es schon fast einer Sonnenfinsternis glich.

Das Meer zu sehen, konnte man sowieso knicken, aber dass die Welt nun genau über Nizza untergehen musste, war doch etwas nervig. Ich habe das natürlich festgehalten. Der Palme auf dem ersten Bild sieht man doch förmlich an, wie sie mit den Wassermassen zu kämpfen hat, oder? Entstanden sind die Bilder übrigens nicht mitten in der Nacht, wie es vielleicht den Anschein hat, sondern am (normaler Weise) helllichten Tag. Und wenn man vor lauter Regen nicht aus seiner Bude raus kann und alle Filme schon rückwärts mitdudeln kann, muss man sich irgendwas gegen die Langeweile suchen. Ich bekam vor lauter Regen aber erst mal nur Heimweh. Bestimmt ist das Wetter in Berlin nicht so schlecht und meine Freunde sitzen in Berlin in einem Park und genießen die letzten Sonnenstrahlen des Tages...

Kennt ihr den Film "Weil es dich gibt"? In diesem Film macht Jonathan, kurz vor Weihnachten, beim Geschenke Einkaufen die Bekanntschaft von Sara. Beide greifen nach dem selben Handschuhpaar, das sie ihren Partnern schenken wollen. Noch während sie überlegen, wer die Handschuhe letztendlich mit nach Hause nehmen darf, greift sie sich ein älterer Herr. Gemeinsam tischen sie ihm eine so unglaubwürdige Geschichte auf, dass der Mann sie ihnen zurückgibt. Die spontane Zusammenarbeit veranlasst die beiden, in ein Cafe zu gehen. Sie verstehen sich sofort super und man spürt deutlich, wie es knistert. Jetzt sind aber beide in festen Händen und, anständig, wie sie nun mal sind, lässt Sara den armen Jonathan nach dem Kaffee mit nicht mehr als einem kleinen Kuss auf der Wange im kalten Manhattan stehen. Sie hat ihm weder ihren Namen, noch ihre Nummer gegeben. Sie glaubt an das Schicksal. Wenn es bestimmt sei, würden sie sich wieder sehen, auch ohne die Nummer. Jonathan bleibt ganz betröppelt und niedergeschlagen zurück, und erst auf dem Weg zur Metro bemerkt er, dass er seinen Schal im Cafe vergessen hat. Noch bevor er den Tisch erreicht, an dem sie gesessen hatten, sieht er dort Sara stehen. Sie hatte ihre Tüte mit den Handschuhen vergessen. Jetzt muss sie an das Schicksal glauben und ihm ihre Nummer geben. Aber ein Windstoß auf der Straße weht den Zettel weg, noch bevor Jonathan ihn zu fassen bekommt.

Sie deutet es als Zeichen des Schicksals, dass es besser wäre, an dieser Stelle aufzuhören. Es soll wohl nicht sein. Aber da auch sie zwischen den Zeichen des Schicksals und dem wunderschönen Abend mit Jonathan schwankt, bittet sie ihn, auf einen 5-Dollar-Schein seinen Namen und seine Nummer zu schreiben. Damit kauft sie eine Kleinigkeit und sollte ihr jemals wieder dieser Geldschein als Wechselgeld in die Hände fallen, müsse er wohl spätestens dann ans Schicksal glauben, wenn er ihre Stimme am Telefon hört. Aber er versteht die Welt nicht mehr. Er glaubt nicht so recht an diesen übersinnlichen Schnickschnack, und kann nicht begreifen, warum er jemanden nach einem so tollen Abend einfach gehen lassen soll. Sie solle doch ebenfalls etwas von sich auf den Weg schicken, damit auch er die Chance habe, durch das Schicksal, an das er nicht glaubt, über ihren Namen und ihre Nummer zu stolpern. Das leuchtet ihr ein und kurzerhand schnappt sie sich ein Buch, das sie dabei hat und schreibt auf die erste Seite ihre Daten. Am nächsten Tag, so erklärt sie ihm, werde sie damit zu einem Antiquariat gehen und es verkaufen. Natürlich sagt sie ihm nicht, welches das sein wird. Er soll ab jetzt immer, wenn er an einem vorbei kommt, schauen, ob das Buch da ist.

Jahre später sind beide kurz davor, ihre jeweiligen Partner zu heiraten. Das Schicksal hat ihnen nicht, wie erhofft, den Geldschein oder das Buch zukommen lassen. Sie sind aber auch so glücklich und kurz vor dem Ziel; gemeinsam mit dem Menschen, den sie am meisten lieben. Aber mit einem Mal häufen sich Zeichen und damit die Zweifel. Zeichen, die sie an den Abend in New York erinnern, an dem zwei Menschen die selben Handschuhe kaufen wollten und sich so kennenlernten. 3 Tage vor seiner Hochzeit fängt es bei Jonathan an, dass er andauernd über den Namen Sara stolpert. Die Vertretung seiner Frisöse heißt Sara und als er mit dem Taxi, ohne neue Frisur, flüchtet, steht im Stau neben ihm ein Radfahrer, der laut, viel zu laut, ein Lied mit dem Titel Sara singt. Verzweifelt fragt er seinen besten Kumpel um Rat, der allerdings sein Trauzeuge sein würde und daher relativ wenig Verständnis für diese kopflose Aktion aufbringt. Aber die Pflicht eines besten Kumpels ist es natürlich, zu helfen. Gemeinsam durchstöbern sie Antiquariat um Antiquariat, immer auf der Suche nach dem Buch mit Sara’s Nummer. Nur finden können sie es nicht. Als Jonathan am Abend nach Hause kommt, ist seine Verlobte schon dabei, für die Flitterwochen zu packen, wofür sie die ganzen Schrankinhalte auf dem Bett verteilt hat. Und dort findet Jonathan die Tüte mit dem einen Handschuh, den ihm Sara als Andenken zugeworfen hatte.

Warum ich das alles erzähle? Weil ich irgendwie in einer ähnlichen Lage bin. Nur etwas anders. In den Momenten, in denen ich mich einsam fühle, oder voll Heimweh, habe ich das Gefühl, dauernd auf Sachen zu stoßen, die mich an meine Heimat erinnern. Ob das jetzt Deutschland oder Berlin ist, ganz egal. Oder ich stoße auf Sachen, die eine Verbindung zwischen meiner Herkunft und meinem Auslandsdienst herzustellen scheinen. Es ist mir unheimlich. Und dieser Film hat mir ein Deja-vu nach dem anderen besorgt. Es begann damit, dass ich wegen des Regens aus Langweile in meinem Zimmer angefangen hatte, Verpackungen durchzulesen. Meine Mutter hatte mir zwei Zahnbürsten gekauft, von denen die eine noch nicht geöffnet war. Also habe ich mir die Zahnbürste geschnappt und die Verpackung gelesen. Sie war, da in Deutschland gekauft und verkauft, logischer Weise auf Deutsch. Und auf Französisch! Aber kein Englisch. Das klingt jetzt albern, aber habt ihr euch jemals gefragt, mit welchen Sprachen die Verpackung einer Zahnbürste beschriftet ist? Wahrscheinlich nicht, aber es war für mich in diesem Moment so offensichtlich, dass da eine Verbindung besteht, und mir das nur auffallen konnte, weil ich in Nizza saß, aber lieber in Berlin wäre. Wäre es auf Deutsch und Englisch gewesen, hätte es mich nicht gewundert, aber warum fällt mir in Frankreich gerade dann eine in Deutschland gekaufte Zahnbürstenverpackung auf Französisch in die Hände, wenn ich Heimweh habe?

Mal kurz was Anderes. Wir machen jetzt ein kleines Spiel. Stellt euch Folgendes vor: Ihr seid weit weg von eurer Heimat. Ihr arbeitet noch nicht sehr lange im Ausland, und ab und zu packt euch das Heimweh, die Sehnsucht nach eurem Zuhause. Es sind Kleinigkeiten, die euch fehlen, aber genau aus diesen Kleinigkeiten setzte sich euer Leben zusammen. Und wenn ihr an diese Kleinigkeiten denkt, geht in eurem Herzen eine kleine Sonne auf. Und trotzdem habt ihr manchmal Angst, dass sich zu viel verändert haben könnte, wenn ihr wieder nach Hause zurückkommt. Ihr schwankt zwischen Freude, Dinge wahrzunehmen, die euch vorher nicht aufgefallen waren, neuen Erfahrungen, an denen ihr euch messen könnt, und auf der anderen Seite dem Gedanken an das alte Leben, dessen Kleinigkeiten ihr so geschätzt und mit denen ihr so gut gelebt hattet. Wie viele von ihnen werden ihr wiederfinden? Wie viele neue Kleinigkeiten werdet ihr entdecken, die eurem Leben ganz neue Facetten geben könnten.

Ihr seid auf jeden Fall sehr gespannt. Aber ihr seht die Zeit, die ihr euch noch gedulden müsst, bis es soweit ist. Und im Augenblick wünscht ihr einfach nur, es wäre schon September und ihr könntet zurückkehren. Nicht, weil es an dem Ort, an dem ihr zur Zeit seid, nicht schön ist. Zu Hause ist es einfach viel schöner. Und dementsprechend oft denkt ihr an diesen Ort, was es nicht unbedingt leichter macht. Aber so richtig schwer machen es euch erst die Momente, an denen ihr anfangt, wegen gewisser Sachen, die ihr als Zeichen deutet, an übersinnliche Dinge und das Schicksal zu glauben. Meist nur für wenige Augenblicke, aber diese haben es in sich. Und dann stellt euch vor, ihr wärt ich. Wie also würdet ihr euch fühlen, wenn euch folgendes passieren würde, nachdem euch schon eine Zahnbürstenverpackung vor den Kopf zu stoßen scheint, dass ihr glaubt, im falschen Film zu sein:

Ich legte die Zahnbürste weg und nahm mir ein Glas Billig-Nutella zur Hand. Schmeckt fast so gut wie das Original, kostet aber weniger als die Hälfte. Irgendwann beim Studieren des Etiketts war ich dann beim Herstellungsort angekommen. Langsam schweiften meine Augen über das, was da stand, jeden Buchstaben einzeln und langsam lesend.

Elaboré et conditionné en Allemagne par Wilhelm Reuss GmbH & Co.KG

Und dahinter stand in Klammern: (12057 Berlin). Ähhhhhhh, wie bitte? Meine Augen gingen jetzt sehr schnell auf und zu. Was steht da? Steht da, dass das Zeug in 12057 Berlin hergestellt wird? Schnell noch mal gelesen. Ja, eindeutig. Entschuldigung, aber WOLLT IHR MICH HIER GERADE VERARSCHEN??? Das mit der Zahnbürste, okay. Kann passieren. Aber das? Jetzt bin ich aber entgültig im falschen Film. Ich habe Heimweh und was kommt mir in die Hände? Nen Haselnuss-Schoko-Nutella-was-auch-immer-Ersatz, der in Berlin hergestellt wird... Ich dachte immer, so ne Scheiße kommt aus Ost-Europa. Rumänien oder so. Nein, da steht Berlin. HALLOOOO, gehts noch? Ich fasse es nicht. Ich wusste gar nicht, dass in Berlin so was hergestellt wird. Von wegen da gibt es keine Wirtschaft. Die kopieren Nutella und verschleudern das beim französischen Lidl-Abklatsch. Super.

Und? Wie wäre das für euch? Übertreibe ich eurer Meinung nach? Als kleine Aufgabe bitte ich euch, mir unter diesen Beitrag als Kommentar zu schreiben, wie ihr diese zwei Vorkommnisse deuten würdet. Und ob ihr so reagiert habt, wie ich es versucht habe, zu beschreiben. Vielleicht würde euch das ja völlig kalt lassen. Ich bin auf eure Antworten gespannt.

Am Freitag war der Himmel so blau, als wäre nichts gewesen und es hätte nie anders ausgesehen. Auch das ist die Côte d’Azur. Extreme Wetterum- schwünge im Herbst. Einer konnte leider nicht davon profitieren, dass das schlechte Wetter vorerst vorbei war. Monsieur L, einem der beiden Herren im Batiment Sud, schien es plötzlich deutlich schlechter zu gehen. Er konnte mit einem Mal nicht mehr selber laufen und schien noch geistesabwesender als sonst. Er musste sogar gefüttert werden. Bisher konnte er immer alleine essen. Es tat weh, ihn so zu sehen. Alzheimer ist eine Krankheit mit sehr schwankenden Symptomen, die, bildlich vorgestellt, wahrscheinlich wie eine Sinuskurve aussehen würde. Aber nicht bei allen Betroffenen fallen diese Schwankungen ihres Zustandes signifikant auf. Das, was wir hier bei Monsieur L sahen, war hoffentlich nur eine ganz besonders heftige Schwankung. Und nicht mehr.

Nach der Arbeit nutzte ich das seltene gute Wetter, um mal wieder in die Stadt zu fahren. Und als ich bei McDonalds meine Mails checkte, war dort eine Mail von Idan und Nicola. Es war wegen des Seminars im Dezember. Da man eine Gruppe französischer Freiwilliger gefunden hätte, die bereit waren, das Seminar gemeinsam mit uns zu durchzuführen, würde das Seminar schon am 16. Dezember, und damit einen Tag früher als geplant, beginnen. Wir sollten im Rahmen unserer Möglichkeiten eine Umbuchung unserer Züge vornehmen. ASF würde alles bezahlen. Ich war scheinbar der Einzige, der mit dem Flugzeug anreisen würde. Ich mailte die neuen Daten meinem Vater, damit dieser mir sagen konnte, wie teuer eine Umbuchung auf den selben Flug am Vortag sein würde. Solange ich es nicht bezahlen musste, hätte ich ja nichts dagegen, einen Tag früher nach Paris zu fliegen. Dort hält man es gut aus.

Es war schön, nach fast einer Woche mal wieder mit Freunden zu schreiben. Und ich amüsierte mich über die Blicke, die mir wegen meines Aussehens bei McDonalds zugeworfen wurden. Schmerzen hatte ich keine mehr, humpeln tat ich fast nicht mehr, und so konnte ich mich darauf konzentrieren, anderen dabei zuzusehen, wie sie bei meinem Anblick fast mehr Schmerzen hatten, als ich.

Und am Samstag passierte das, was keiner gedacht hätte. Ich am wenigsten. Ich bin genau eine Woche nach meinem Unfall wieder auf mein Rad gestiegen. Das Wetter war wieder super. Ich bin, verständlicher Weise, sehr langsam gefahren. Ich hab mich total beschissen gefühlt. Und als ich an der Unfallstelle vorbeikam, haben meine Arme und Hände total gezittert. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich eine kleine Panikattacke. Mir kamen wieder die Bilder vor Augen, wie ich gestürzt war. Und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst, auf einem Fahrrad zu sitzen. Ein ekliges Gefühl. Es fühlte sich an, als hätte das Rad die Kontrolle über mich und nicht umgekehrt. Und dann kam ich zum ersten Mal mit dem Rad in der Innenstadt an. Ein komisches Gefühl. Hatte ich mir logischer Weise anders vorgestellt. Aber wie sagt man so schön auf Französisch? C’est la vie.

Ich fuhr etwas die Promenade des Anglais entlang und jetzt, wo es flach war, hatte ich keine Angst mehr. Es war sogar richtig toll, unter Palmen am türkisblauen Meer entlang zu fahren. Und es war schön warm. Für Anfang November nicht schlecht. Aber als ich wieder hochfuhr, war es bereits dunkel und deutlich kälter. Und ich musste ein weiteres Mal schieben. Das ist aber auch wirkliche eine sehr unangenehme Strecke. Ich müsste auf jeden Fall ganz schön zulegen, um diese Strecke in absehbarer Zeit ohne Pause fahren konnte. Wünscht mir Glück...

Montag, 2. Februar 2009

Tag 57, der Tag danach

Als ich aufwachte, fühlte ich mich wie von einem Bus überfahren. Das Kopfkissen war an einigen Stellen rötlich gefärbt. Wie eine Art Wegverfolgung meines Gesichtes konnte man auf dem Kissen genau erkennen, wo ich gelegen hatte. Das ganze Verbandszeug ging mir mächtig auf den Sender. Ich konnte nicht mal richtig mein Gesicht waschen. Fühlt sich so ein Halbinvalide? Ich frühstückte etwas, aber viel bekam ich nicht runter. Ich hatte das Gefühl, als würde sich mein Magen komplett umdrehen. Irgendwann wurde es mir dann zu bunt und ich entschied mich, ins batiment nord zu gehen und eine Krankenschwester zu suchen, damit diese mich wenigstens von diesen dämlichen Pflastern befreien konnte. Schließlich ist die Colline als medikalisiertes Altersheim ein halbes Krankenhaus. Warum also sollte ich mir das in meiner Lage nicht zu Nutzen machen? Ich brauchte für alle Treppen hinunter fast 10 Minuten. Mein Oberschenkel schmerzte höllisch. Abgesehen von der offenen Fleischwunde war er wohl auch ordentlich geprellt. Zumindest tat schon eine kleine Berührung ziemlich weh. Ein Arzt im Krankenhaus hatte mir gesagt, dass ich Glück hätte, relativ muskulöse Oberschenkel zu haben. So, wie ich ihm den Unfallhergang geschildert hatte, könne bei den Kräfteeinwirkungen eines solchen Sturzes ein untrainierter Oberschenkel auch schon mal einfach in der Mitte brechen. Mein lieber Herr Gesangsverein, die verstehen es hier aber echt, einem Mut zu machen...

In der Halle des batiment nord war keine Menschenseele. Entweder waren alle Bewohner auf ihren Zimmern, oder mit Verwandten unterwegs, die meistens nur an den Wochenenden Zeit haben, ihre Eltern, Großeltern oder Geschwister zu besuchen. Ich hielt einen Moment lang inne, schaute nach rechts den Gang hinunter, dann nach Links. Nichts. Ich hörte auch keinen Ton. Es war das erste Mal, dass ich außerhalb meiner Arbeitszeiten die Colline betrat. Sonst ist immer viel los, überall wuseln Angestellte hin und her und nicht selten kann es auch schon mal etwas lauter werden, wenn sich die Bewohner angiften. Kommt im batiment nord häufiger vor, als man es auf den ersten Blick vermuten mag. Es jetzt so ausgestorben zu erleben, war etwas seltsam. Auf einmal huschte eine Krankenschwester an mir vorbei. Es war Nadja, die Chef-Krankenschwester. Sie muss ungefähr Mitte 50 sein und nordafrikanische Wurzeln haben. Ich hatte noch nie groß mit ihr gesprochen, aber als sie mich da stehen sah, schaute sie kurz verdutzt und fragte, was denn nur mit mir passiert sei.

Ich erzählte ihr die Geschichte, während sie mich behandelte. Sie hat überhaupt nicht gezögert, sondern mich ohne zu fragen sofort ins Ärztezimmer neben dem Eingang geschoben. Als wüsste sie genau, warum ich hier war. Sie befreite mich von den Verbänden, reinigte die Wunden und legte mir neue Verbände an. Die solle ich erst vor dem Schlafengehen abmachen, sagte sie mir lächelnd. Ja, ich fühlte mich gut aufgehoben und sie hörte sich die ganze Geschichte an. Angefangen mit dem Moment, als ich nur noch die Reste von Lars’ Rad fand, bis hin zu der Odyssee am Vortag, die dann zu dem führte, was sie hier vor sich sah. Als alles medizinische getan war, ging sie kurz weg und kam mit einem Stück Kuchen und einem Becher Tee wieder. Ich hatte tatsächlich inzwischen ziemlichen Hunger und brauchte etwas, damit der Blutzuckerspiegel nicht in den Keller sackte. Wie machte sie das bloß? Ich hatte doch gar nichts gesagt.

Es war ein Stück von dem Geburtstagskuchen, der extra für die monatliche Feier gebacken worden war. Und was für ein Riesenstück sie da ergattert hatte. Er schmeckte fantastisch. Es waren sicherlich die Umstände, die mich diesen Kuchen ganz besonders genießen ließen. Der Tee war auch sehr lecker und gut gesüßt. Als ich fertig war, packte sie mir noch einige Kompressen, Pflaster, spezielle Medizin-Handschuhe und Schmerztabletten in eine Tüte. Falls die Schmerzen nicht aufhören sollten. Ich hab die Pillen bis heute nicht angerührt. Besser so. Und dann sagte sie mir noch, dass ich sofort zu ihr kommen solle, wenn ich innerhalb von 48 Stunden nach dem Unfall brechen müsse. Dann müsse ich wieder zurück ins Krankenhaus, da Erbrechen ein Zeichen für innere Verletzungen sein könnte. Aber ab sofort ging es mir deutlich besser und ich musste zum Glück nicht wieder ins Krankenhaus...

Das letzte, was sie sagte war, dass ich gegen 7 noch mal runter kommen sollte. Sie würde etwas warmes zu Essen für mich besorgen. Wow... Das nenne ich Rundumversorgung. So will sicher jeder Mensch behandelt und gepflegt werden nach einem Unfall. Tja, mit Nadja hatte ich wohl meinen Engel in weiß gefunden. Ich war ihr echt verdammt dankbar und bin es noch heute, dass sie sich so toll um mich gekümmert hat. Und als ich um 7 wieder in der Halle stand, wartete dort ein komplettes Menü auf mich. Man tat das gut. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Genuss ein langweiliges Omelette sein kann. Danach fühlte ich mich so richtig gestärkt. Nadja war schon gegangen. Auch Engel haben mal Feierabend. Ich brachte das Tablett in die Küche und ging wieder auf mein Zimmer. Dort schrieb ich noch etwas und hörte wie immer Musik.

Bevor ich ins Bett ging, entfernte ich dann wie empfohlen alle Verbände. Ich konnte es nicht lassen, einige Bilder von mir zu machen. Ist so ne Fotografenmacke, alles und jeden Scheiß festhalten zu müssen. Da bin ich inzwischen wie meine Mutter. Sie hat echt ganze Arbeit geleistet. So kann ich irgendwann mal meinen Kindern zeigen, wie ihr Vater aussah, als er ordentlich auf die Fresse gefallen war. Und irgendwie musste ich grinsen, als ich mit der Camera vorm Spiegel stand und mir ein Andenken der besonderen Art schoss. Ich hatte zwar noch Schmerzen, aber es ging mir wieder so gut, dass ich am nächsten Morgen sogar ganz normal zur Arbeit würde gehen können . Ich stellte mich gedanklich zudem drauf ein, meine Geschichte nicht nur ein Mal erzählen zu müssen. Sicher würde bestimmt jeder wissen wollen, was klein Simon wieder angestellt hat. Auf die Reaktionen der Leute, wenn sie mich sehen würden, war ich auch schon gespannt. Ich hoffte, sie würden nicht all zu geschockt sein.