Als ich aufwachte, fühlte ich mich wie von einem Bus überfahren. Das Kopfkissen war an einigen Stellen rötlich gefärbt. Wie eine Art Wegverfolgung meines Gesichtes konnte man auf dem Kissen genau erkennen, wo ich gelegen hatte. Das ganze Verbandszeug ging mir mächtig auf den Sender. Ich konnte nicht mal richtig mein Gesicht waschen. Fühlt sich so ein Halbinvalide? Ich frühstückte etwas, aber viel bekam ich nicht runter. Ich hatte das Gefühl, als würde sich mein Magen komplett umdrehen. Irgendwann wurde es mir dann zu bunt und ich entschied mich, ins batiment nord zu gehen und eine Krankenschwester zu suchen, damit diese mich wenigstens von diesen dämlichen Pflastern befreien konnte. Schließlich ist die Colline als medikalisiertes Altersheim ein halbes Krankenhaus. Warum also sollte ich mir das in meiner Lage nicht zu Nutzen machen? Ich brauchte für alle Treppen hinunter fast 10 Minuten. Mein Oberschenkel schmerzte höllisch. Abgesehen von der offenen Fleischwunde war er wohl auch ordentlich geprellt. Zumindest tat schon eine kleine Berührung ziemlich weh. Ein Arzt im Krankenhaus hatte mir gesagt, dass ich Glück hätte, relativ muskulöse Oberschenkel zu haben. So, wie ich ihm den Unfallhergang geschildert hatte, könne bei den Kräfteeinwirkungen eines solchen Sturzes ein untrainierter Oberschenkel auch schon mal einfach in der Mitte brechen. Mein lieber Herr Gesangsverein, die verstehen es hier aber echt, einem Mut zu machen...
In der Halle des batiment nord war keine Menschenseele. Entweder waren alle Bewohner auf ihren Zimmern, oder mit Verwandten unterwegs, die meistens nur an den Wochenenden Zeit haben, ihre Eltern, Großeltern oder Geschwister zu besuchen. Ich hielt einen Moment lang inne, schaute nach rechts den Gang hinunter, dann nach Links. Nichts. Ich hörte auch keinen Ton. Es war das erste Mal, dass ich außerhalb meiner Arbeitszeiten die Colline betrat. Sonst ist immer viel los, überall wuseln Angestellte hin und her und nicht selten kann es auch schon mal etwas lauter werden, wenn sich die Bewohner angiften. Kommt im batiment nord häufiger vor, als man es auf den ersten Blick vermuten mag. Es jetzt so ausgestorben zu erleben, war etwas seltsam. Auf einmal huschte eine Krankenschwester an mir vorbei. Es war Nadja, die Chef-Krankenschwester. Sie muss ungefähr Mitte 50 sein und nordafrikanische Wurzeln haben. Ich hatte noch nie groß mit ihr gesprochen, aber als sie mich da stehen sah, schaute sie kurz verdutzt und fragte, was denn nur mit mir passiert sei.

Ich erzählte ihr die Geschichte, während sie mich behandelte. Sie hat überhaupt nicht gezögert, sondern mich ohne zu fragen sofort ins Ärztezimmer neben dem Eingang geschoben. Als wüsste sie genau, warum ich hier war. Sie befreite mich von den Verbänden, reinigte die Wunden und legte mir neue Verbände an. Die solle ich erst vor dem Schlafengehen abmachen, sagte sie mir lächelnd. Ja, ich fühlte mich gut aufgehoben und sie hörte sich die ganze Geschichte an. Angefangen mit dem Moment, als ich nur noch die Reste von Lars’ Rad fand, bis hin zu der Odyssee am Vortag, die dann zu dem führte, was sie hier vor sich sah. Als alles medizinische getan war, ging sie kurz weg und kam mit einem Stück Kuchen und einem Becher Tee wieder. Ich hatte tatsächlich inzwischen ziemlichen Hunger und brauchte etwas, damit der Blutzuckerspiegel nicht in den Keller sackte. Wie machte sie das bloß? Ich hatte doch gar nichts gesagt.
Es war ein Stück von dem Geburtstagskuchen, der extra für die monatliche Feier gebacken worden war. Und was für ein Riesenstück sie da ergattert hatte. Er schmeckte fantastisch. Es waren sicherlich die Umstände, die mich diesen Kuchen ganz besonders genießen ließen. Der Tee war auch sehr lecker und gut gesüßt. Als ich fertig war, packte sie mir noch einige Kompressen, Pflaster, spezielle Medizin-Handschuhe und Schmerztabletten in eine Tüte. Falls die Schmerzen nicht aufhören sollten. Ich hab die Pillen bis heute nicht angerührt. Besser so. Und dann sagte sie mir noch, dass ich sofort zu ihr kommen solle, wenn ich innerhalb von 48 Stunden nach dem Unfall brechen müsse. Dann müsse ich wieder zurück ins Krankenhaus, da Erbrechen ein Zeichen für innere Verletzungen sein könnte. Aber ab sofort ging es mir deutlich besser und ich musste zum Glück nicht wieder ins Krankenhaus...
Das letzte, was sie sagte war, dass ich gegen 7 noch mal runter kommen sollte. Sie würde etwas warmes zu Essen für mich besorgen. Wow... Das nenne ich Rundumversorgung. So will sicher jeder Mensch behandelt und gepflegt werden nach einem Unfall. Tja, mit Nadja hatte ich wohl meinen Engel in weiß gefunden. Ich war ihr echt verdammt dankbar und bin es noch heute, dass sie sich so toll um mich gekümmert hat. Und als ich um 7 wieder in der Halle stand, wartete dort ein komplettes Menü auf mich. Man tat das gut. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was für ein Genuss ein langweiliges Omelette sein kann. Danach fühlte ich mich so richtig gestärkt. Nadja war schon gegangen. Auch Engel haben mal Feierabend. Ich brachte das Tablett in die Küche und ging wieder auf mein Zimmer. Dort schrieb ich noch etwas und hörte wie immer Musik.

Bevor ich ins Bett ging, entfernte ich dann wie empfohlen alle Verbände. Ich konnte es nicht lassen, einige Bilder von mir zu machen. Ist so ne Fotografenmacke, alles und jeden Scheiß festhalten zu müssen. Da bin ich inzwischen wie meine Mutter. Sie hat echt ganze Arbeit geleistet. So kann ich irgendwann mal meinen Kindern zeigen, wie ihr Vater aussah, als er ordentlich auf die Fresse gefallen war. Und irgendwie musste ich grinsen, als ich mit der Camera vorm Spiegel stand und mir ein Andenken der besonderen Art schoss. Ich hatte zwar noch Schmerzen, aber es ging mir wieder so gut, dass ich am nächsten Morgen sogar ganz normal zur Arbeit würde gehen können . Ich stellte mich gedanklich zudem drauf ein, meine Geschichte nicht nur ein Mal erzählen zu müssen. Sicher würde bestimmt jeder wissen wollen, was klein Simon wieder angestellt hat. Auf die Reaktionen der Leute, wenn sie mich sehen würden, war ich auch schon gespannt. Ich hoffte, sie würden nicht all zu geschockt sein.
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