Dienstag, 24. Februar 2009

Tag 72 bis 78, Woche 9

Der Montag Morgen begann erst einmal ziemlich düster. Nachts hatte es dermaßen geregnet und gestürmt, dass es einen wichtigen Stromverteiler zerlegt hatte. Ergebnis: Die gesamte Küste und Teile des Hinterlandes waren den ganzen Morgen ohne Strom. Für die Colline bedeutete das Alarmstufe rot. Alle Türen, die ins Freie führen und normaler Weise, elektronisch verschlossen, nur durch Eingabe eines Codes zu öffnen sind, waren jetzt ohne Probleme passierbar. Für den Alzheimer-Teil ergab sich daher die Situation, dass wir alle Ausgänge besonders bewachen mussten, damit keiner der Bewohner abhauen konnte. Eine total wahnwitzige Angelegenheit. Die Atmosphäre ähnelte in dem Moment wohl mehr der eines Gefängnisses mit inhaftierten Schwerverbrechern, als der eines Altersheimes mit schwerkranken Menschen. Diejenigen, die nicht Wache schoben, konnten sich größtenteils zurücklehnen. Ohne Strom keine Arbeit. Als ich meine Runde machte, um das Datum zu wechseln, kam ich am Empfang vorbei, der sich im Erdgeschoss des Batiment Centre befindet. Und drin saß im dunkeln die arme Christianne vor dem ebenso dunklen Bildschirm ihres Computers. Mit dem diffusen Licht, das vom Eingang am Ende des Ganges eindrang, konnte sie nicht mal Papierunterlagen durchgehen und so konnte sie nicht mehr tun, als da sitzen und warten.

Eine Etage über ihr sah es nicht anders aus. Dank der vielen Fenster war es zwar hell, aber da kein Aufzug funktionierte, war der Aufenthaltsraum wie ausgestorben, das Leben schien still zu stehen. Nur die Bewohner, die auf dieser Ebene ihre Zimmer hatten, konnten diese verlassen. Alle anderen waren wegen ihres Alters auf den Aufzug angewiesen und daher auf ihren Etagen gefangen. Um 11 Uhr war der Strom wieder da, die „Wachposten“ im Batiment Sud konnten abgezogen werden und alle Feuerschutztüren innerhalb der Gebäude konnten wieder geöffnet werden. Diese schließen sich bei Feueralarm und Stromausfällen automatisch, um in einem echten Notfall Brandherde einzuschließen. So ähnlich, wie die Schotten auf Schiffen. Nur halt für Feuer und nicht Wasser. Existiert diese Technik überhaupt noch? Ich weiß es nicht. Aber die Geschichte der Titanic kennt ja jeder. Diese war in mehrere Sektionen unterteilt, alle durch Schotten abriegelbar. Sollte eine Sektion mit Wasser voll laufen, war es Aufgabe der geschlossenen Schotten zu verhindern, dass die anderen Sektionen ebenfalls voll laufen würden. Trotz Leck würde damit keine weitere Gefahr für das Schiff und die Passagiere bestehen.

Na ja, das Ergebnis dieser damals, wir reden immerhin vom Jahr 1912, revolutionären Technik ist ja bekannt. Aus Überheblichkeit und dem Glauben an die Unsinkbarkeit der RMS Titanic wurden die Schotten nur bis zum E-Deck gebaut. Man war der Überzeugung, dass kein Objekt das Schiff so schwer beschädigen könnte, dass eindringende Wassermassen höhere Schotten rechtfertigen würden. Nach der Kollision mit dem Eisberg konnte das Wasser daher gemütlich über die Schotten schwappen und so war das Schicksal des vielleicht legendärsten Schiffes der Geschichte besiegelt. Denn nur mit maximal 5 vollgelaufen Sektionen war die Titanic im Stande, sich über Wasser zu halten. Klarer Fall von dumm gelaufen. Ich weiß das übrigens nicht, weil ich Fan von Kate Winslet oder Leonardo DiCaprio bin. Ich habe zu Hause ein Buch der originalen Konstruktionszeichnungen der Titanic. Die müssten aus den Jahren 1910 und 1911 stammen, bevor das Schiff bei Harland & Wolf in Belfast gebaut wurde. Eigentlich ziemlich interessant, wie die Schiffe sich seit dem verändert haben. Wie dem auch sei. Jedenfalls erfüllen unsere Feuerschutztüren im Grunde genommen den selben Zweck, nämlich eine Gefahrenquelle daran zu hindern, sich auszubreiten. Und nur wenige Minuten, nachdem der Strom wieder da war, kehrte der normale Alltag zurück und jeder konnte seiner gewohnten Arbeit nachgehen.

Auch der Rest der Woche wurde vom schlechten Wetter bestimmt, das jetzt im Spätherbst mehr und mehr zum Davonlaufen war. Die für die Jahreszeit typischen Stürme scheinen dieses Jahr aber besonders heftig auszufallen und auch was die Häufigkeit angeht, sagen selbst die Einheimischen, dass es ihnen ungewöhnlich oft vorkommt. Der Klimawandel lässt grüßen. Cathy kam alleine diese Woche zwei Mal zu spät, da wegen anhaltendem Sturm die Wellen an der Küstenstraße zwischen Antibes und Nizza 3 mal höher als die Autos waren. Dass es richtig gefährlich werden kann, wenn so eine Welle einen Smart erwischt, versteht sich von selbst, und so wurde die Straße komplett geschlossen. Und kalt ist es geworden. Alles, bloß kein Schnee höre ich immer wieder. In Deutschland keine Seltenheit und immer schön anzusehen, ist es hier eine Katastrophe, wenn es mal schneit. Das tut es etwa nur alle 10 Jahre so doll, dass der Verkehr gänzlich zum Erliegen kommt. Man ist nicht ausgerüstet für solch ein Wetter. Und angeblich lohnt es sich nicht, Schneeketten, ausreichend Streusalz und andere Utensilien gegen das weiße Wunder anzuschaffen.

Und da die Colline in den Bergen liegt, könnt ihr euch ja vorstellen, was Schnee für uns bedeuten würde. Wir wären von der Außenwelt dann mehr oder weniger abgeschnitten, da weder Busse noch andere Fahrzeuge die Straßen mit ihren heftigen Steigungen befahren könnten. Kaum einer würde zur Arbeit kommen. Schon bei gutem Wetter dauert ein Fußmarsch von der Innenstadt zur Colline mindestens eine Stunde. Würde sich keiner freiwillig antun. Daher lebt man hier ganz gut ohne Schnee und hofft, dass dieser woanders niedergeht, wo man besser damit umgehen kann. Aber in Zeiten des Klimawandels wird man sich auch hier auf ein Umdenken einstellen müssen. Für Cathy bedeutet das zum Beispiel, dass sie, bei einem Wetter wie diesem, einfach eine Stunde früher aus dem Haus muss, um pünktlich auf Arbeit zu erscheinen. Und auch die Anschaffung der nötigen Ausrüstung bei Schnee könnte vielleicht einmal unumgänglich sein, wenn dessen Häufigkeit zunimmt. Schon komisch. Man hört nur Klimaerwärmung, aber gleichzeitig werden auch die Winter teilweise kälter und extremer. Selbst dort, wo sonst gemäßigtes Klima herrscht.

Am Mittwoch informierte mich Madame Roche über eine Änderung in meinem Arbeitsplan. Ab sofort sollte es jeden Donnerstag einen Ausflug mit höchstens 5 Bewohnern geben. Dazu würde immer ein ehrenamtlicher Fahrer kommen, und ich sollte ihn und die Bewohner begleiten. Fand ich eine sehr gute Idee. Den Bewohnern würde es gut tun, mal was anderes zu sehen. Die meisten verliessen die Colline ja nie. Und ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt Nizza noch nie verlassen. Eigentlich unglaublich. Ich war jetzt fast 2 Monate hier. Und hatte es nicht hinbekommen, einmal nach Antibes, Cannes oder Monaco zu fahren. Ist ja keine große Sache. Es fahren Busse, die nur einen Euro kosten. Weit ist es auch nicht. Aber bisher gab es in Nizza genug zu entdecken und ich kenne die Stadt inzwischen ganz gut. Zeit also für was Neues. Die wöchentlichen Ausflüge kamen da gerade Recht. Und schon am nächsten Tag sollte es los gehen. Bei dem momentanen Wetter sollte man sich aber nicht zu früh freuen. Bei Regen und Sturm würde sich eine Spazierfahrt im Auto kaum lohnen. Aber am Donnerstag war der Himmel strahlend blau. Der Wind war allerdings geblieben. Sollte uns aber nicht weiter stören. Sylvie hatte mir eine Liste mit Namen der Bewohner gegeben, die ihrer Meinung nach fähig waren, teilzunehmen. Das waren diejenigen, die sowohl geistig als körperlich in der Lage waren, von einem Ausflug zu profitieren. Jemand, der, mit Medikamenten vollgepumpt, im Auto nur schläft und zu entkräftet zum Aussteigen ist, hätte nichts davon. Und da nur 5 Plätze zu vergeben waren, beschränkten wir uns auf die fitten Bewohner.

Abfahrt 13:30 Uhr. Bis dahin musste ich bestenfalls 5 Bewohner aufgetrieben haben, die Lust hatten, mitzukommen. War gar nicht so einfach. Das Alter hinterlässt seine Spuren. Viele sind schwerfällig, lustlos und unmotiviert und daher wurde die Suche zu einem Überzeugungskampf. Aber am Ende waren alle 5 Plätze besetzt, plus dem Fahrer und mir. Bevor wir losfuhren, musste ich aber noch eine wichtige Sache erledigen. Den zuständigen Krankenschwestern der jeweiligen Gebäude musste mitgeteilt werden, wer alles mit uns kommen würde. Nur ganz wenigen Bewohnern ist es überhaupt erlaubt, die Colline alleine zu verlassen und selbst dann müssen sie es vorher anmelden. Geschähe dies nicht, wäre das Chaos groß, weil niemand wüßte, ob es der betreffenden Person gut geht. Aus dem selben Grund muss auch in Zukunft vor jedem Ausflug die Liste der Bewohner den Krankenschwestern übergeben werden, die dann eine Abwesenheitsnotiz erstellen, um ein späteres Suchen nach Personen zu ersparen.

Unser erster Ausflug sollte nach Villefranche gehen, nur wenige Kilometer östlich von Nizza. Am Steuer sitzt ab sofort Guy, Mitte 50 und in Toulouse geboren. Er hat einen komischen Akzent und ich kann mir nicht vorstellen, dass er den aus seiner Geburtstadt hat. An der Côte d’Azur lebt er, wie er mir erzählt, schon über 14 Jahre. Er kennt sich aus hier und an jeder Ecke kann er irgendetwas erzählen. Er benimmt sich irgendwie genau wie ich in Berlin, wenn ich mit Auswärtigen unterwegs bin. Immer bemüht, ein guter Stadtführer zu sein. Und wie ich über Berlin, weiß er unheimlich viel über die Geschichte von Nizza und der Küste. Merkte ich schon nach wenigen Minuten. Wir fuhren an der Promenade des Anglais entlang und kamen am Hafen vorbei. Hier war ich vorher noch nie und erst jetzt sah ich die teilweise riesigen Privatjachten. Guy erzählte, dass die meisten davon irgendwelchen Ölscheichs gehören, die ihre Spielzeuge den Winter über an der Côte d’Azur parken, bevor sie sie im März wieder abholen. Ziemlich beeindruckende Teile. So große hatte ich live bisher noch nie gesehen. Zumindest nicht bewusst.

Ab dem Hafen führt die Straße nach Villefranche einige Kilometer nicht mehr am Meer entlang, sondern ein kurzes Stück an den für Nizza typischen, gemütlichen Wohnhäusern vorbei. Immer im Stil, den ich schon vom Place Masséna kenne. Rote Wände, dazu einige beige Elemente, sowie grüne Fensterrahmen. Der Einfluss Italiens ist hier unverkennbar. Noch deutlicher wird der am Ortsausgangsschild. Die sind hier alle zweisprachig, mit dem französischen und italienischen Namen versehen. Um genau zu sein, das ist aber nicht Italienisch, sondern Nicois. Das ist der Dialekt Nizzas, der dem Italienischen sehr ähnelt. Durchgestrichen steht dann da Nice und darunter Nissa. Nicht das japanische Auto, sondern mit langem i ausgesprochen. Nießa sozusagen. Das klingt schon sehr italienisch. Kurz dahinter das nächste Schild. Drauf steht Bienvenue á Villefranche und drunter Villafranca. Das klingt schön. So wie Lucca. Klein und gemütlich. Lucca ist ein kleines Städtchen in der Toskana, in der Nähe von Florenz. Im Sommer 2004 hatte ich mit meiner damaligen Klasse der HCO eine Klassenfahrt in die Toskana gemacht und da waren wir unter anderem in Florenz. Und eben in Lucca. Wunderschön. Ich liebe diese kleinen italienischen Städtchen, auf deren Marktplätzen die italienischen Mamas sitzen und sich unterhalten. Irgendwo aus einem Fenster strömt der Geruch von ofenfrischer Pizza oder gerade gemachter Bolognaise. Und überall hört man Ciao bella hier, ciao bello dort. Herrlich.

Die Straße gewinnt etwas an Höhe und folgt wieder direkt am beziehungs- weise über dem Meer einer kleinen Landzunge. Hinter der taucht dann schräg vor dem Reisenden, ganz verschlafen, Villefranche auf. Es bietet sich ein malerisches Bild einer Bucht mit Segelbooten. Hier muss ich mal mit dem Rad hin. Dann kann ich auch anhalten und Fotos machen. Villefranche selber ist mindestens so schön, wie der Blick, den wir aus dem Auto darauf hatten. So langsam bekomme ich einen Begriff davon, warum so viele Maler an die Côte zogen, um sich inspirieren zu lassen. Die vielen kleinen Küstendörfer sind wie geschaffen dafür, auf Leinwänden festgehalten zu werden. Zum Kaffee-Trinken heute aber nicht. Guy kennt in fast jedem Dorf kleine Bars, wo er schon früher mit Bewohnern war. Hier haben wir heute aber kein Glück. Wegen vieler Bauarbeiten am Hafen können wir den Wagen nirgends parken. Andere Parkmöglichkeiten waren für die Bewohner zu weit von unserem Ziel-Café entfernt. Man muss immer aufpassen, dass sich die alten Leute nicht überanstrengen und einen Schwächeanfall erleiden, weil sie zu weit laufen müssen.

Wir entschieden uns, ein Dorf weiter nach Beaulieu zu fahren. Dort würde er auch ein nettes Café kennen und weit sei es auch nicht. Stimmte, denn keine 10 Minuten später waren wir da. Zwischen den Ortschaften liegen die Straßen deutlich erhöht, um dann kurz vor dem Ortseingang auf Meeresniveau zurückzukehren. So kann man wunderschön die traumhafte Aussicht genießen, solange man nicht am Steuer sitzt. Hab keinen Führerschein, also bin ich fein raus. Und was soll ich sagen, ein Städtchen schöner als das andere. Beaulieu liegt allerdings, anders als Villefranche, am Rande von schroffen Felswänden, was die Kulisse ziemlich beeindruckend macht. Auf der einen Seite das blaue Meer, auf der anderen Seite die 300 Meter Hohe Wand und mittendrin das kleine Beaulieu mit seinem malerischen Hafen. Hier stehen eher kleine Boote im Vergleich zu Nizza. Aber auch die hier sind schick und sicher nicht billig. Die kleine Hafenpromenade wird von vielen kleinen Restaurants und Cafés gesäumt und wir parkten genau vor unserer Zielkneipe. Den Namen habe ich leider vergessen. Ich werds nachreichen.

Guy kannte den Besitzer, der uns nett empfing und schnell einige Tische zusammen rückte. Dann bestellte jeder etwas zu Trinken. Ich entschied mich für eine heiße Schokolade. Es war zwar herrliches Wetter, aber der Wind war unangenehm kalt. Die Schokolade würde schön wärmen. Die anderen nahmen entweder das gleiche, oder Tee oder Kaffee. Den Nachmittag so zu verbringen, war irgendwie viel angenehmer, als in der Colline. Kann man ja kaum Arbeit nennen, wenn man in einem malerischen Dorf am Hafen sitzt und was trinkt, während man sich in französischem Smalltalk übt. Und es brachte Abwechslung in die ganze Sache. Der Arbeitsablauf in der Colline war ja mittlerweile jede Woche der selbe, mit wenigen Ausnahmen. Ich bin inzwischen zunehmend der Meinung, dass ich mit meinem Projekt ziemliches Glück hatte, wenn man von der Wohnsituation mal absieht. Ich habe akzeptable Arbeitszeiten, für einen Freiwilligen erstaunlich viele Kompetenzen, ich bin eine Respektsperson gegenüber Kollegen und Bewohnern und jetzt darf ich ein Mal wöchentlich die Gegend kennenlernen. Und die gehört zufälliger Weise auch noch zu den schönsten ganz Europas. Ist doch super. Also ich fühl mich wohl.

Als jeder gemütlich sein Getränk getrunken hatte, machten wir uns ans Bezahlen. Das artete irgendwie aus, da Guy die Materie des Zählens wohl nicht so beherrscht. Gut, ich will jetzt nicht behaupten, dass ich bei 7 Leuten keine Schwierigkeiten hätte, den Überblick zu behalten, aber so umständlich wie er, würde ich es nicht machen. Zumal er dauernd vergaß, welcher Bewohner wen eingeladen hatte. Ich saß nur da, mein Geld bereits auf den Tisch gelegt und lies die Franzosen quasi machen. Viel Glück Leute. Am Ende dauerte die ganze Bezahlaktion fast länger als das Trinken. Aber immerhin war jeder zufrieden, die Zeche mussten wir nicht prellen und wir konnten uns wieder auf den Weg zum Minibus machen. So nennen die hier den kleinen Transporter. Aus Sicherheitsgründen dauerte auch das Anschnallen etwas länger. Die Bewohner kriegten das mit den vielen Gurten teilweise nicht mehr selber hin und Guy musste dann immer helfen. Ich konnte da nicht viel helfen. Ich kapiere das Gurtsystem von Renault nämlich auch nicht...

Auf dem Rückweg konnte ich mich wieder ganz der Landschaft widmen. Die Bewohner unterhielten sich miteinander und so musste ich nicht, wie von Sylvie betont, immer animieren und erzählen. Was sollte ich auch groß erzählen? Die Gegend kannte ich kaum und Guy war da der definitiv bessere Reiseführer. Und irgendwann machte mich das Geschaukel des Autos so müde, so dass ich eh nicht mehr in der Lage gewesen wäre, auf Teufel komm raus mir irgendwas aus den Rippen zu leiern, um die anderen gut zu unterhalten. Ich musste mir echt Mühe geben, damit mir nicht die Augen zufielen. Aber selbst wenn, glaubte ich nicht, dass Guy mich verpetzt hätte. Gegen 17 Uhr waren wir wieder in der Colline. Wir „luden“ die Bewohner aus, zwei von ihnen begleitete ich ins Batiment La Colline und dann verabschiedete ich Guy für diese Woche und ging in den Alzheimer-Teil. Die letzte halbe Stunde meines Arbeitstages sangen Cathy und ich mit den Bewohnern.

Am Samstag wollte ich zum ersten Mal eine größere Tour mit meinem Rad machen. Meine Wunden waren inzwischen fast alle verheilt, wenngleich man immer noch gut sehen konnte, wo sie gewesen waren. Das Wetter war (zum Glück) super und lud förmlich dazu ein, auf zwei Rädern am Meer entlang zu fahren. Ich entschloss mich, Richtung Flughafen zu radeln. Den kannte ich ja noch nicht und ich war neugierig, ob man dort leicht Flugzeuge beobachten konnte. Der Flughafen Nice Côte d’Azur, so der offizielle Name, ist nach den Pariser Flughäfen Charles de Gaule und Orly der drittgrößte Airport Frankreichs, mit jährlich 10 Millionen Passagieren. Easyjet fliegt einmal täglich nach Berlin-Schönefeld, Delta Airlines täglich nach New York JFK und 5 mal in der Woche kann man die gigantische Emirates Boeing 777-300ER beobachten, wie sie nach Dubai entschwebt. Emirates, die größte Airline der Emirate hat 53 Airbus A380 bestellt und ist daher mit Abstand der größte Abnehmer des neues Super-Jumbos.

Zum Vergleich. Lufthansa hat nur 15 A380 bestellt. Die Scheichs aus Dubai wissen nicht, wohin mit ihrem vielen Geld. In ihrem Größenwahn lassen sie vor ihren Küsten künstliche Inseln aufschütten, die als Ganzes von oben betrachtet die Form der Welt und ihrer Kontinente haben, errichten die höchsten Gebäude, die teuersten und pompösesten Hotels und bestellen 53 Flugzeuge, von denen jedes einzelne 300 Millionen Euro kostet. Drei A380 wurden bereits an Emirates ausgeliefert, die bisher aber nur die Strecken von Dubai nach London und Sydney bedienen. Und ratet mal, welches französische Ziel das erste sein soll, dass Emirates mit ihrem neuen Flaggschiff bedienen will? Genau. Irgendwann 2009, je nach dem, ob Airbus mit dem Bau hinterher kommt und termingerecht ausliefern kann, wird Nizza von Boeing 777-300ER auf Airbus A380 umgestellt. Für mich bedeutet das mehr oder weniger Jackpot. Aber warum gerade Nizza und nicht Paris? Das hatte ich mich am Anfang gefragt, als ich es las. Das war bevor ich wusste, dass ich ein Jahr ins Ausland gehen würde. Normaler Weise sind es nur die großen Drehkreuze der jeweiligen Länder, London, Paris, Frankfurt, die die größten Flugzeuge abkriegen. Aber als wir Donnerstag am Hafen vorbeikamen und Guy erzählte, wem größtenteils die Luxusjachten gehörten, ging mir ein Licht auf und es begann Sinn zu machen. Die Côte d’Azur ist alles andere als ein armer Küstenabschnitt, und scheinbar genau nach dem Geschmack von viel zu reichen Scheichs, die mal was anderes sehen wollen als Sand.

Ich machte mich also Samstag Mittag auf den Weg zum Ausgangspunkt aller Ausflüge, der Promenade des Anglais. Die führt gen Westen direkt zum Flughafen und weiter nach Antibes und Cannes. Nach wenigen Minuten beginnt bereits das Flughafengelände. Und gleich das erste Flugzeug, das dort steht, zwang mich zum Anhalten. Der Radweg führt ja genau am Flughafenzaun entlang. Und dahinter steht eine echte Caravelle. Ich wusste gar nicht, dass es außerhalb von Museen davon überhaupt noch welche gibt. Die Caravelle war eines der ersten Düsenverkehrsflugzeuge und gilt noch heute als eines der schönsten Flugzeuge, das jemals gebaut wurde. Und das stimmt. Jetzt, wo ich sie vor mir sah, war sie selbst über 50 Jahre nach ihrer Inbetriebnahme um Längen eleganter und formschöner als der moderne Airbus A319, der in dem Moment im Hintergrund abhob. Was das angeht, haben die Franzosen schon immer mehr Stil bewiesen, als die anderen. Ältere Modelle von Renault und Citroen gelten als formvollendet und elegant und auch bei den Flugzeugen hatten sie mit der Concorde und der Caravelle zwei der schönsten Flugzeuge aller Zeiten entwickelt. Chapeau!

Hinter der Caravelle erstreckt sich der Teil eines jeden Groß- flughafens, der sich GAT nennt. Das steht für General Aviation Terminal. Alles, was nicht-gewerblicher Luftverkehr ist, wird hier abgestellt. Das sind dann zum Beispiel Geschäfts- oder Privatflugzeuge. Und von denen stehen hier ne ganze Menge rum. Das modernste und teuerste, was der Markt hergibt. Und ich musste nicht mal raten, woher die Leute kommen, denen sie gehören. Wahrscheinlich den selben Heinis, deren Schiffe im Hafen liegen. So eine Gulfstream V oder Cessna Citation kostet je nach Ausstattung schon mal 30 Millionen Euro. Von Landegebühren und dem Treibstoff wollen wir erst gar nicht anfangen. Man muss auf jeden Fall seeeehr reich sein. Aber praktisch sind die Teile. Nie mehr Flüge bei Airlines buchen, die zu teuer, zu unpünktlich und zu eng bestuhlt sind. Man ruft einfach seinen James an und eine Stunde später steht die Maschine startklar auf dem Vorfeld. Wenn man dann zwei Stunden nach dem Start keinen Bock mehr auf Malle hat, sagt man dem Piloten einfach, dass es stattdessen nach Rio geht. Ja, das muss ein Leben sein. Aber ich glaub, ich bleib lieber normal. Geld verdirbt den Charakter...

Ich fuhr nach genügend gemachten Fotos weiter, immer entlang am Zaun. Schon bald erreichte ich die erste Abfahrt zum Terminal 1. Ein sehr modernes Terminal. Zumindest sah es von außen danach aus. Es führte aber kein Radweg hin und ich traute den geisteskranken Autofahrern nicht, daher blieb ich auf meinem sicheren Radweg. Da konnte mir nix passieren. Es sei denn, ich packte mich selber auf die Fresse. Moment, da war doch was... Ich lies das Terminal 1 links liegen und fuhr geradeaus weiter. Schon bald kamen die nächsten Aus- Ab – und Einfahrten. Diesmal für das Terminal 2. Das war aber außer Sichtweite, da es nicht genau an der Promenade liegt, die inzwischen nicht mehr Promenade des Anglais heißt, sondern irgendwie anders. Hatte kein Straßenschild gesehen. Ich fuhr weiter geradeaus und irgendwann schien der größte Teil des öffentlichen Flughafengeländes erreicht zu sein. Ich überlegte, ob ich gleich weiter nach Antibes fahren sollte. Das wären aber gute 20 Kilometer. Nein, ich war zu faul. Ich fuhr nur noch wenige Kilometer weiter, bis zu dem Punkt, wo der gut ausgebaute Radweg endete. Dort hielt ich an und trank etwas. Ich müsste etwa auf Höhe des Beginns der Startbahnen sein. Ich blieb nicht lange stehen, da eine stark befahrene Straße nicht unbedingt der einladenste Ort für ein Picknick war.

Ich stieg also wieder auf und fuhr gemütlich zurück. Die Sonne war inzwischen am untergehen, und an der Caravelle stoppte ich nochmals, da sie nun etwas rötlich leuchtete. Zum Glück hatte ich daran gedacht, meine Lichter mitzunehmen. Durch die, im Vergleich zu Deutschland, hohen Temperaturen ist mein Körper irgendwie nicht in Winterstimmung, daher vergesse ich auch oft, dass es um 5 schon dunkel wird. Ich steckte also meine Lichter an und fuhr weiter. An der Stelle, an der die Straße nicht mehr durch den Flughafen vom Meer getrennt ist, sind mehrere kleine Boulefelder angelegt, auf denen ältere Leute eifrig am Spielen waren. Boule gilt trotz größerer Popularität von Fußball und Tennis immer noch als Nationalsport in Frankreich. In Deutschland ist es wenig bekannt, aber in meiner Familie hat es einen gewissen Stellenwert. Mein Cousin Janick und der Mann meiner Tante Heidi aus Mannheim spielen es im Verein, oft gemeinsam oder auch mal gegeneinander. Und das sehr erfolgreich. Janick wurde 2007 bei der Weltmeisterschaft in Phuket Fünfter. Nicht übel was?

Ich schaute den Leuten einige Minuten zu und genoss den Anblick der Küste, die mehr und mehr rötlich wurde. Überall in den entfernten Bergen konnte man sehen, wie kleine Lichter angingen. Es tat gut, sich zwei Wochen nach meinem schweren Unfall die Meeresbriese um die Nase wehen zu lassen. Und es tat gut, mal wieder eine längere Tour mit dem Rad gemacht zu haben. Das bewahrte mich aber nicht davor, dass ich auf dem Rückweg in die Hügel wieder schieben musste. Aber ich lies mir Zeit und so war nicht zu anstregend. Besser als Busfahren war es allemal.

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