Montag, 8. Dezember 2008

Tag 43 bis 49, Woche 5

Manchmal muss ich zwei mal aufs Datum schauen, damit ich glaube, dass ich schon einen Monat in Nizza bin. Die Zeit scheint zu fliegen. Mir kommt es auf jeden Fall so vor, als sei ich erst gestern angekommen. Aber ist ja auch kein Wunder, denn ich komme eher selten dazu, mir über Zeitliches Gedanken zu machen. Kein Tag ist wie der andere und ständig gibt es was Neues zu entdecken oder zu lernen. Gut, nach 5 Wochen ist das natürlich nicht mehr ganz so krass, wie ganz am Anfang. Aber trotzdem lässt es mich die Zeit vergessen, die ich nun schon von zu Hause weg bin. Ist doch eigentlich auch gut so, denn das Letzte, was ich gebrauchen könnte, wäre Heimweh. Aber dazu ist es hier viel zu aufregend. Auch, wenn der Dienstplan jetzt etwas Schwung aus der Sache genommen hat. Dafür bringt er Kontinuität und Übung mit sich. Die drei mal wöchentlich stattfindenden Animationen am morgen, die Cathy und ich im centre durchführen, sind echt hart. Wir werden zwar Stück für Stück besser, aber es kommt nicht selten vor, dass wir uns im Aufzug gegenseitig motivieren müssen, kurz bevor wir aussteigen. Nach dem Motto Augen zu und durch. Und wenn wir unser Arbeitsmaterial wieder zusammenpacken und uns auf den Weg zur gemeinsamen Mittagspause machen, sind wir jedes Mal froh, dass der schwierigste Part des Tages hiermit vorbei ist. Wir essen immer gemeinsam zu Mittag, wenn wir von einer Animation im centre kommen. Ich finds toll, denn mit Cathy kann man viel lachen und anschweigen tun wir uns eigentlich nie. Sylvie hat uns letztens so beschrieben, dass wir inzwischen wie Geschwister rumhängen, unzertrennlich. Ja, gegen eine 6 Jahre ältere Schwester wie Cathy hätte ich sicher nichts einzuwenden, aber meine Eltern haben es mal wieder verbockt. Auf jeden Fall bin ich froh, mich mit ihr so gut zu verstehen. Das erleichtert mir die Arbeit ungemein, da so die Atmosphäre immer angenehm ist.

Die Nachmittage sind immer etwas verschieden. Montags nach dem atelier informatique und der Mittagspause arbeite ich mit Sylvie zusammen und helfe ihr bei den verschiedensten Dingen. Dann kommen um 14:30 Uhr zwei Freiwillige, die sich Les Blouses Roses nennen. Sie sind komplett in rosa gekleidet, daher der Name. Die zwei Damen, die beide so Mitte 50 sein dürften, arbeiten umsonst und singen mit den Bewohnern. Meine Aufgabe besteht jetzt also jeden Montag darin, die vorgesehenen Bewohner zu fragen, ob sie teilnehmen wollen und wenn ja, sie in den Essenssaal des batiment la colline zu begleiten. Den habe ich vorher dementsprechend vorbereitet. Mehr als Stühle und Tische rücken bedarf es allerdings nicht. Aber meine erste Begegnung mit den Blouses Roses war mehr oder weniger zum schreien. Ich setzte mich zu den Bewohnern, um auf die beiden Damen zu warten. Besonders pünktlich sind sie bis heute nicht gerade. Jetzt müsst ihr wissen, dass die beiden relativ zeitgleich mit mir ihre Arbeit hier aufnahmen und sich daher zuerst vorstellten und etwas einarbeiteten. Die eine hat sich dabei aber so künstlich freundlich präsentiert, dass ich mich irgendwann ernsthaft fragte, was für Drogen sie wohl genommen habe. Ihre Lieblingswörter waren dabei „trèèèès bieeeeen“ (kurz: très bien, übersetzt bedeutet es sehr gut und sie hat es auch wirklich genau so lange betont, wie dargestellt) und „paaaarfait“ (parfait bedeutet perfekt). Und immer grinsend, bis die Mundwinkel beinahe über den Ohren hängen. Ich saß da also auf meinem Stuhl ganz Still und nur meine Augen verfolgten weit aufgerissen und ungläubig diese Frohnatur. Okay, dachte ich, irgendwas stimmt nicht mit dir Lady, aber hör auf so zu grinsen. Die Leute hier sind vielleicht alt, aber nicht doof. Sie werden nicht früher sterben, wenn du dich mal normal benimmst, keine Sorge. Das ganze war echt ein wahnwitziges Schauspiel und als ich später Sylvie darauf ansprach, fing sie laut an zu lachen und sagte nur, dass sie das selbe gedacht hatte. Wir haben uns bestimmt ne halbe Stunde darüber totgelacht. Und jeden Montag früh, wenn es darum geht, wie die Woche aussieht, sagt sie dann grinsend: „Ach, du musst ja nachher wieder zu den Schreckschrauben in rosa.“ Ja, vielen Dank“, hab ich beim ersten Mal nur augenrollend und lachend geantwortet.

Dienstags nach der Mittagspause arbeite ich ebenfalls mit Sylvie zusammen und helfe ihr, das Lotto vorzubereiten und auch durchzuführen. Wie Madame Roche mir sagte, sei geplant, dass ich das Lotto irgendwann auch mal alleine durchführen kann. Bis ich dazu in der Lage bin, helfe ich beim Aufbau und spiele mit den Bewohnern, die es nicht alleine schaffen, weil Augen oder Ohren sie im Stich lassen. Um 15:30 Uhr müssen wir mit unseren drei Partien fertig sein, denn dann gibt es den Nachmittags-Snack. Da Kontinuität sehr wichtig für die Bewohner ist, müssen sich auch die Aktivitäten an den Zeitplan der Mahlzeiten halten. Das setzt uns aber ab und zu unter ziemlichen Zeitdruck. Wenn sich aus irgendeinem Grund der Beginn einer Animation verzögert, gilt es, diese Verzögerung wett zu machen oder durch Improvisation auszugleichen. Aber auch darin bekommt man irgendwann Übung. Nachdem wir wieder alle Sachen eingepackt haben, die man zum Lotto spielen benötigt, geht es meistens in den salle d’animation, um dort verschiedene Dinge vorzubereiten. Für mich bedeutet das oft basteln. Da Sylvie für die Dekoration der Colline zu den verschiedenen jüdischen Festen zuständig ist, bin ich als ihr sozusagen persönlicher Assistent voll in ihre Angelegenheiten involviert. Ich bin momentan oft damit beschäftigt, die von den Bewohnern angefertigten Zeichnungen auszuschneiden. Diese folgen immer einem bestimmten Thema, das sich meistens um die jüdischen Feste dreht. Demnächst ist es die semaine bleu, die blaue Woche. Ihre Bedeutung habe ich vergessen, aber Sylvie hat dazu mit einigen Bewohnern Herzen auf Din-A-4-Blättern blau ausgemalt und ich schneide diese dann aus, damit wir sie später in der Colline zur Dekoration an Fensterfronten und Wänden anbringen können. Dabei legt Sylvie großen Wert darauf, dass die Dekoration immer aktuell bleibt und so wechselt sie diese ständig. Je nach dem, welches Fest der jüdische Kalender als nächstes vorsieht. Es gibt also immer etwas zu tun.

Mittwochs arbeite ich schon am morgen mit Sylvie zusammen, gleich nach dem ich die Kalenderdaten gewechselt habe. Das dauert meistens etwa eine halbe Stunde und so habe ich danach ebenfalls etwa eine halbe Stunde Zeit, um die ausgewählten Bewohner in den salle d’animation zu begleiten, damit Sylvie dort um 10:30 Uhr mit der revue de presse beginnen kann. Davon hatte ich ja bereits berichtet. Auch hier sind Verzögerungen immer etwa stressig, da bereits um 11:15 Uhr mit der gemeinsamen Gymnastik, eine Etage höher in der großen Eingangshalle, der nächste Punkt auf dem Programm steht. Auch hier begleite ich die Bewohner aus dem salle d’animation. Die Gymnastik ist überaus wichtig, damit die Bewohner körperlich nicht eingehen. Außer der Gymnastik haben sie sonst nämlich kaum Bewegung. Und viele von denen, die noch nicht im Rollstuhl sitzen, sind sich durchaus bewusst, dass es gerade die Gymnastik ist, die dazu beiträgt, dies zu verhindern.

Wenn es sich nicht anders ergibt, esse ich Mittwochs mit Sylvie zu Mittag. Dabei sind mir zwei Marotten von ihr aufgefallen. Eigentlich drei. Sie isst nie viel. Sie ist auch recht dürr. Und sie isst immer Käse. Sie steht auf Käse. Sie hat jeden Tag ein großes Stück dabei. Dazu gibt es meistens zwei Scheiben Brot. Gut, mir würde das erstens niemals reichen und zweitens wahrscheinlich irgendwann zum Hals raushängen, aber ihr scheint es so am liebsten zu sein und ich grinse jedes Mal, wenn sie wieder ihren Käse rausholt. Ihr drittes Laster ist die Zigarette danach. Ich nenne es so, denn sobald sie aufgegessen hat, holt sie ihre Zigaretten raus und sagt immer den gleichen Spruch: „ Je vais fumer ma cigarette.“ (Heißt so viel wie: Ich werde dann mal meine Zigarette rauchen.) Sie begibt sich anschliessend mit Kippe und Sonnenbrille bewaffnet (sie hat extrem lichtempfindliche Augen) auf die Veranda und sitzt dann auf einem Stuhl genüsslich in der Sonne. Wir reden dann meistens durch die Verandatür weiter. Wir reden generell viel. Kann man mit ihr auch extrem gut, da sie immer Rat weiß, wenn ich mal ne Frage habe. Sie gehört zu der Sorte Mensch, dem man Sachen anvertrauen kann und weiß, dass sie es sicher nicht dem Chef petzten wird, wenn ich vor ihr über ihn schimpfe. Viel mehr grinst sie dann und stimmt zu. Sie mag Monsieur Perez genauso wenig wie ich. Und sie verbessert mich oft, wenn ich sprachlich danebengreife. Ist auch gut so, denn so lerne ich am schnellsten.

Von der Veranda des salle d’animation, wo sie immer ihre Kippe pafft, hat man einen schönen Blick auf das Mini-Tal und rechter Hand auch auf die Berge. Nach einer, und auch wirklich nur einer, Zigarette kommt sie dann zufrieden wieder rein. Sie ist wirklich eine urige Person. Urig, aber absolut klasse und angenehm. Immer unter Spannung und scheinbar nur durch Käse mal innehaltend, sagt sie selber über sich, dass es genau das sei, was die alten Bewohner brauchen, nämlich eine dynamische Person. Und das trifft es eigentlich auf den Punkt. Sie scheint für ihren Job wirklich wie geboren zu sein. Sie schafft es immer, alles und jeden zu motivieren und ihr fällt auch immer was Neues ein. Sie ist sehr kreativ. Ja, irgendwie ist sie eine Art Vorbild für mich geworden. Ich lerne viel von ihr und oft ist es selbst für mich Jungspund schwierig, ihrem Tempo zu folgen. Aber auch ich lerne und werde schneller.

Nachdem ich mein plateau in die Küche zurück gebracht habe, begebe ich mich in den Alzheimer-Teil. Da Cathy Mittwochs frei hat, soll ich dort den aide-soignante helfen, den Tagesablauf zu bewerkstelligen. Noch mache ich mehr oder weniger das, was die anderen vorschlagen und mehr als helfen tue ich nicht, aber auch hier hat Madame Roche vorgesehen, dass ich im Laufe der Zeit in der Lage sein werde, ganz alleine Aktivitäten durchzuführen, sodass die aide-soignante mir helfen und nicht umgekehrt. Na mal sehen, wann das sein wird und wie schnell ich Fortschritte machen werde. Macht Spaß, sich beim Besser-Werden zu beobachten.

Für Donnerstags und Freitags hat sich Madame Roche ausgedacht, jeweils zwei Bewohner des batiment la colline in den Alzheimer-Teil einzuladen, um dort die Nachmittage zu verbringen. Sie verspricht sich davon wohl ein bisschen Abwechslung für die Bewohner, denn diese sind selten in den anderen Gebäuden, und daher Tag ein, Tag aus, mit den selben Leuten zusammen. Ich fand die Idee deshalb sehr gut. So sprechen Madame Roche und ich uns jede Woche ab, welche zwei Bewohner wir einladen. Meine Meinung fällt inzwischen merklich ins Gewicht, da ich viele Bewohner mittlerweile gut kenne und sie daher etwas einschätzen kann, wozu sie fähig sind und wozu sie Lust haben könnten.

Jetzt wisst ihr also, wie meine Woche auf Arbeit abläuft. Ich fühle mich weiterhin sehr wohl und in meiner Entscheidung bestätigt, ein Jahr ins Ausland zu gehen. Und trist ist die Arbeit hier sicher nicht, dafür sorgen die Bewohner mit skurilen Aktionen von ganz alleine. So wie zum Beispiel Monsieur L. im Alzheimer-Teil. Cathy und ich verteilten die Musikinstrumente, da wir gemeinsam mit allen Bewohnern dort singen wollten. Monsieur L. bekam von ihr die Kastanietten in die Hand gedrückt. Auch, wenn er eigentlich nichts damit anfangen kann, ist es doch wichtig, ihn von solchen Dingen nicht auszuschließen. Seine Reaktion war aber ziemlich unerwartet. Er nahm die Kastanietten, klappte sie auf, hielt sie sich ans Ohr und fragte mehrmals „Hallo, hallo?“. Wir bekamen das quasi alle zeitgleich mit und Julie fragte nur leise und schon halb prustend: „Komisch. Keiner dran?“ Da konnte auch ich nicht mehr und ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal so dermaßen lachen musste. Julie hielt sich gerade noch am Türrahmen fest, um nicht vor Lachen auf dem Boden zu landen. Cathy konnte sich ein lautes Grölen irgendwie verkneifen und zischte nur leise, wir sollten aufhören, aber dabei grinste sie natürlich auch. Kann man in so einer Situation auch nicht anders, aber sie probiert immer, so gut wie möglich die Professionalität zu wahren. Julie ist das total wurscht. Sie ist ne ziemliche Frohnatur, immer gut drauf und auch gerne mal einen Spruch reißend, den andere vielleicht leise sagen, wenn keiner zuhört. Man könnte sie zu den Menschen zählen, von denen man sagt, man könne Pferde mit ihnen stehlen. Das stimmt, mit ihr kann man sicher jeden Scheiß anstellen und sich nachher darüber schlapplachen. Cathy ist zwar auch alles andere als ernst, aber vielleicht merkt man hier, dass Julie mit 23 drei Jahre weniger als sie auf dem Buckel hat. Auf jeden Fall mag ich beide sehr. Macht Spaß, mit ihnen zu arbeiten. Wir lachen immer viel.

Es hat sich inzwischen so eingependelt, dass ich etwa alle zwei Tage mit dem Bus in die Stadt fahre, um Einkäufe zu erledigen und mich mit meinem Laptop zu McDonalds begebe, um wenigstens etwas auf dem neuesten Stand der Dinge in der Heimat und der Welt zu sein. Und natürlich chatte ich mit meinen Freunden. Ich vermisse sie wirklich sehr. Dass sie mir alles bedeuten, war mir klar, aber erst jetzt wird mir die Dimension bewusst, kann ich die Bedeutung meiner Freunde in eine Skala von 1 bis 10 eintragen. In dem Fall also eher 11... Und da ist noch etwas, was mir fehlt. Elliot. Julie, ihr Freund und Elliot wohnen nicht mehr unter mir. War wohl nur übergangsweise. Auf jeden Fall fehlt mir sein Gekläffe, wenn ich spät abends aus der Stadt zurück komme. Zum Abschied hat mir Julie zwei Eis ins Gefrierfach gelegt. Was heißt Abschied, wir arbeiten ja weiterhin zusammen. Nur wohnen wir nicht mehr im selben Haus. Und hätte es keinen Elliot gegeben, der mich jeden Abend in Empfang nahm, wäre mir wohl kaum aufgefallen, dass Julie nicht mehr dort wohnt. Erst, als eine Woche lang kein quirliger Hund auf mich wartete, fragte ich sie und sie sagte, dass sie nun wieder in der Stadt wohne und nur übergangsweise unter mir gewohnt hatte. Schade. Jetzt fehlt der Villa Esperanza, so der Name des Hauses, etwas Leben.

Und dann war ich noch sehr damit beschäftigt, mir Alternativen für das gestohlene Rad von Lars einfallen zu lassen. Ich war weiterhin fest entschlossen, den Bus in Zukunft nur im Notfall zu benutzen und ansonsten mit sportlichem Einsatz ans Ziel zu gelangen. Was immer das heißen soll. Um mir hier ein Rad zu kaufen, fehlt es aber am nötigen Kleingeld. Und als ich eines Tages mal wieder auf dem Boulevard am Meer entlang schlenderte und mir sehr viele Skater entgegen kamen, ging mir ein kleines Licht auf. Warum eigentlich nicht? Schlittschuhe habe ich ja auch, also warum sollte ich mir nicht einfach Rollerskates kaufen und damit wie die anderen schnell von A nach B kommen? Wenn man gut ist, kann man mit den Dingern verdammt schnell werden. Durch meine Wohnlage wurde mir aber schnell klar, dass es nicht einfach sein würde, ohne große Übung lebendig auf Rollen die 15 Prozent Gefälle zu überstehen. Wie bremst man mit so Dingern eigentlich? So überlegte ich etwas hin und her und letztendlich kam ich zum Schluss, dass ich ja zumindest bergab den Bus nehmen könnte und bergauf es dann mit den Skates probieren könnte. Wäre auf jeden Fall weitaus weniger gefährlich und würde auch die Busrechnung halbieren. So machte ich mich bereits Montag nach der Arbeit in die Stadt auf, um dort zu schauen, wie teuer so Skates überhaupt sind. Drei Sportgeschäfte kannte ich zum Glück schon, daher musste ich nicht erst noch suchen. Aber nur in einem gab es Rollerskates und zwar im Go Sport am Place Masséna. Gab auch einige, die mir gefielen. Aber 170 € war ich dann doch nicht bereit auszugeben und so fiel ein Modell in den Fokus, dass mit 79,99 € schon etwas realistischer war. Aber da es ja nicht so einfach sein konnte, gab es das Modell nicht in meiner Größe. Nur in 36 und 45 und neue Bestände würden auf meine Nachfrage hin erst Anfang der folgenden Woche geliefert.

So machte ich mich auf die Suche nach weiteren Sportgeschäften, in der Hoffnung, dort etwas Passendes zu finden. Ich lief ungefähr 4 Stunden durch die Stadt, aber ob ihr es glaubt oder nicht, ich habe kein einziges Geschäft gefunden, das Rollschuhe oder ähnliches verkauft. Woher zum Teufel haben denn dann die ganzen Skater ihre Teile her? In ner anderen Stadt gekauft? Auf jeden Fall war ich schon ziemlich stinkig, in einer großen Stadt wie Nizza nur ein einziges Geschäft mit Rollerskates gefunden zu haben. Na ja, eigentlich zwei. Mir wurde von einem Verkäufer, den ich fragte, ob er noch andere Geschäfte kenne, ein Laden auf der Promenade des Anglais empfohlen. Aber das schien ein Profigeschäft zu sein, denn unter 300 € bekommt man dort nichts. Aber etwas positives konnte ich dann doch meinen erfolglosen Touren abgewinnen. Dadurch habe ich nämlich wieder Ecken kennengelernt, die ich so vielleicht nie oder erst viel später gefunden hätte.

Da es mir am naheliegendsten erschien, dort nach Sportgeschäften zu suchen, wo die meisten Touris waren, lief ich wieder die Avenue Jean Médecin entlang. Diesmal kam ich auch weiter, als nur bis zu McDonalds und dem Einkaufszentrum Nicetoile. Ein Sportgeschäft fand ich aber trotzdem nicht. Dafür aber den großen Bahnhof, der irgendwann linker Hand kommt. Ich bin zwar dort mit dem TGV angekommen, aber da es damals schon dunkel war, habe ich die Gegend absolut nicht in Erinnerung. Die Eisenbahntrasse kreuzt hier in einiger Höhe die Avenue Jean Médecin, genau wie die Autobahn, die parallel zur Bahn und noch eine Etage höher verläuft. Hier bündelt sich ziemlich viel Verkehr. Lässt man die Bahnhofsgegend hinter sich und unterquert Eisen- und Autobahn, scheint man auf einen Schlag in einer anderen Welt zu sein. War die Straße vorher noch überfüllt von Passanten, ist sie dahinter wie ausgestorben. Keine Touristen mehr. Nur Einheimische. Wie eine unsichtbare Grenze erschien es mir, als ich kurz zurück blickte. Ich folgte der Avenue Jean Médecin noch einige hundert Meter, bis ich auf einen kleinen Platz kam, auf dem gerade einige Leute beschäftigt waren, einen Markt abzubauen und den Boden mit Hochdruckschläuchen zu reinigen. Dem Geruch nach zu urteilen, handelte es sich hierbei wohl um einen Fischmarkt. Jetzt kannte ich also schon zwei Märkte. Cool, schaden kann es auf jeden Fall nicht, die Insidergegenden zu kennen. Hier scheint sich wirklich kein Tourist hin zu verirren. Eigentlich schade.

Ich bog links ab und lief einige Ecken weiter geradeaus, auch wenn ich nicht glaubte, hier ein Sportgeschäft zu finden, aber wenn ich schon mal hier war, konnte ich mir auch gleich etwas die Gegend anschauen. Ich fand anstelle von Sportgeschäften eine Apotheke nach der anderen. Wie uns Nicola auf dem Seminar in Paris sagte, sei das eine Macke der Franzosen. Bei jedem kleinen Pups rennen sie zum Arzt und später in die Apotheke. Daher die im Vergleich zu Deutschland extreme Dichte. Nicht selten liegen zwischen zwei Straßenecken zwei oder drei Apotheken nebeneinander. Kannte ich so bisher nur von Dönerläden aus Kreuzberg, aber man lernt ja nie aus. Irgendwann bog ich dann nochmals links ab, um wieder in Richtung Promenade des Anglais zu laufen. Frustriert landete ich dann wieder bei McDonalds. Ich rief meinen Vater an und irgendwann sagte er, er würde mir mein Rad aus Berlin hierher schicken, mit Hermes. Sei auch gar nicht so teuer. Erschien mir nach dem Fehlschlag mit den Rollerskates als das Beste. Je nach dem, wie schnell er es losschicken würde, könnte ich schon nächste Woche auf meinem geliebtem Rad am Meer entlang fahren. Es dauerte aber einige Tage, bis Papa mir per sms bescheid gab, dass das Rad nun unterwegs sei. Da war ich echt erleichtert. Und ich freute mich drauf. Denn ich bin ja ein begeisterter Fahrradfahrer und eine Tour entlang der Côte d’Azur würde da der absolute Höhepunkt meiner kleinen Leidenschaft sein. Aber zuerst einmal hieß es geduldig warten. Wer weiß, wie lange die Post beziehungsweise Hermes braucht, ein ganzes Rad von Berlin nach Nizza zu befördern.

Dienstag, 2. Dezember 2008

Tag 36 bis 42, Woche 4

Wie gesagt, ich reise gerne und so oft es geht und das Jahr 2008 stellt das bisher reiselustigste dar. Im März war ich in Irland, das bis dahin tollste Land, das ich bereist habe. Des weiteren war ich in der ersten Jahreshälfte in Mannheim, Braunschweig und schliesslich, im Juni 2008, das erste Mal in Paris. Wenn ich heute daran denke, dass ich unglaubliche 20 Jahre gebraucht habe, um einmal in diese unbeschreibliche Stadt zu kommen, kann ich es fast nicht glauben. Inzwischen ist der Gedanke, „geschäftlich“ nach Paris zu müssen nämlich zur Gewohnheit geworden. Das Entsendungsseminar vom 11. bis 15. September fand dort statt und am 17. Dezember muss ich wieder hin, erneut zu einem Seminar mit allen Frankreich-Freiwilligen. Die Daten der nächsten Seminare wurden uns nämlich letzte Woche mitgeteilt, damit wir schon jetzt die Tickets für die An- und Abreise kaufen können. Kennt man ja inzwischen. Je früher, desto billiger. Ich freue mich jetzt schon. Paris ist wie Berlin, es wird nie langweilig. Wobei ich sagen muss, dass ich an meinen ersten Aufenthalt in Paris nicht unbedingt die besten Erinnerungen habe. An die Stadt schon, aber nicht an die Umstände. Und das kam so:

Als ich im März die Zusage von Aktion Sühnezeichen erhielt, war ich natürlich überglücklich. Ich hatte selbst nicht wirklich dran geglaubt, zudem ich ja eigentlich nach New York wollte, aber nach der Zusage war ich an dem Punkt angekommen zu sagen, dass ich jedes Land nehmen würde, Hauptsache mal weg aus Deutschland. Frankreich rangierte zwar auf meiner Prioritätenliste an zweiter Stelle hinter den Vereinigten Staaten, stellte für mich aber im Grunde genommen nur eine Notlösung dar, falls es mit den USA nicht klappen sollte. Außerdem befremdete mich der Gedanke, in ein Land zu gehen, mit dessen Sprache ich ja mal überhaupt nicht zurecht kam. Aber wie gesagt, ich glaube an das Schicksal und nach der Absage für die USA und der Zusage für Frankreich dachte ich irgendwann, dass es schon für irgendwas gut sein würde.

So gewöhnte ich mich an den Gedanken, ins Land der Weintrinker und Froschschenkelesser zu gehen. So viel zu allgemeinen Klischees. Als Projekt wurde mir die Arche in Paris zugeteilt und je länger ich darüber nachdachte, desto besser gefiel mir der Gedanke auch. Paris. Da war ich noch nie. Die ganze Welt schwärmt von ihr, der Stadt der Liebe und außerdem entsprach es wie New York meinem gewohnten Großstadtschema. Ich hatte ASF nämlich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich für ein Projekt auf dem Land oder in einer kleinen Stadt nicht zur Verfügung stehen würde. Ich kann einfach nur dort leben, wo auch wirklich Leben stattfindet. In pulsierenden Großstädten. Alles andere macht mich auf Dauer nur depressiv und würde mich wahrscheinlich eingehen lassen wie eine Primel. Und oft entspricht der Horizont von Kleinbürgern auch der Größe ihres Dorfes. Definitiv nix für mich. Mannheim ist sicherlich kein Dorf, im Gegenteil. Dort leben über 320.000 Menschen, die ganze Region mit Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg hat rund 1 Mio. Einwohner und liegt in mitten einer der wirtschaftstärksten Regionen Europas, vielleicht sogar der Welt. Aber internationales Flair gibt es dort nicht. Keine Touris aus 100 Nationen, eben keine Weltstadt.

Versteht mich nicht falsch, ich liebe Mannheim, schließlich bin ich dort geboren und habe die ersten drei Lebensjahre verbracht. Und ich bin gerne dort, um meine Familie und Freunde zu besuchen. Für die Zeit eines Besuches ist es toll, dass fast die gesamte Familie innerhalb von 20 Minuten mit dem Rad abgeklappert werden kann, da alle im selben Stadtteil leben beziehungsweise die Entfernungen einfach nicht sehr groß sind. Aber irgendwann fehlt mir die Weite, die eine Metropole bietet, eine Stadt wie Mannheim aber nun mal nicht. Ich bin es einfach gewohnt, mir auf bvg.de die schnellste Verbindung rauszusuchen, wenn ich mal nicht weiß, wie ich am besten in die Disko oder eine neue Bar komme. Fahr ich Ringbahn oder Stadtbahn, S-, U- oder Regionalbahn? Bus oder vielleicht sogar Straßenbahn? Wo kreuzen sich die Linien, wo muss ich umsteigen, welche Station liegt dem Ziel am nächsten? Fragen, die Mannheimer wahrscheinlich überfordern würden, für mich aber zum ganz normalen Alltag in einer Weltstadt gehören. Aber genau so was brauche ich. Ich muss es fühlen können, die Großstadt. Ich will sie riechen und hören können, den täglichen Wahnsinn auf überfüllten Straßen erleben. Menschen aus der ganzen Welt, egal ob Studenten, Touristen, oder Zugezogene an der Kasse eines Supermarktes treffen. In einer Stadt wie Berlin oder Paris trifft sich die Welt. Ja, das, genau das ist Leben. Aber eines kann mir Berlin nicht bieten und das sind meine Wurzeln. Die liegen nun mal in Mannheim, darauf bin ich stolz und das ist auch gut so. In mir schlagen nun mal zwei Herzen. Eines für die Kurpfalz, eines für Berlin.

Nicht lange nach meiner Zusage bei ASF wurde mir klar, dass ich zur Vorbereitung einen Sprachkurs belegen müsste. Vier Jahre Französisch in der Schule waren größtenteils spurlos an mir vorbei gegangen und mehr als einige wenige Vokabeln und die allergröbsten Grundlagen der Grammatik fand ich beim Kramen im Gedächtnis nicht wieder. So konnte ich auf keinen Fall meinen Dienst beginnen. ASF rät auch allen Freiwilligen, sich durch einen Sprachkurs zumindest etwas vorzubereiten. Aus Erfahrungen wisse man, dass den Freiwilligen die Eingewöhnung so deutlich leichter fallen würde. Insgeheim erinnerte ich mich wieder daran, warum ich die USA als erste Wahl getroffen hatte. Es ist nicht nur das Land, von dem trotz allem immer noch der größte Reiz ausgeht. Es ist die Sprache. Englisch ist nicht nur Weltsprache, sondern auch relativ einfach. Ist irgendwie typisch für mich. Ich hab das als eine Marotte von mir entlarvt. Ich probiere oft, mit dem minimalen Einsatz den maximalen Nutzen rauszuholen. Zumindest in der Schule ist das aber gehörig in die Hose gegangen. Ich bin eben ne faule Sau, wie Benny immer sagt. Und er hat dabei wohl auch recht. Für die USA bräuchte ich keinen Sprachkurs. Meine Grundlagen sind völlig ausreichend. Für das spätere Berufsleben wäre es hilfreich und auf einem Lebenslauf tut sich ein Jahr in den USA immer gut, so waren nach Ausloten aller Vor- und Nachteile schnell die Vereinigten Staaten die Sieger meiner Wahl.

Es war lustig zu beobachten, wie diese Sichtweise sich Schritt für Schritt änderte, nach dem klar war, wohin es für mich am Ende wirklich gehen würde. Ich sah es nun als noch viel besser an, eine zweite Fremdsprache zu vertiefen. Wie gesagt, Englisch kann ich ja schon recht gut, warum also nicht noch Französisch? Mit drei Sprachen, die man mehr oder weniger gut beherrscht, stehen einem viele Türen offen. Und so wurde mir klar, dass letztendlich Frankreich eine noch viel bessere Wahl sei, als die USA. Das mag jetzt so klingen, als gehe es mir bei der ganzen Angelegenheit nur um das Sprachliche. Sicher, es ist nicht von der Hand zu weisen, dass es eine wichtige Frage ist. Aber für mich ist, war und bleibt die politische Angelegenheit von so einem Jahr das Hauptkriterium. Aber wie gesagt, ich bin ein Mensch, Marke rationaler Nutzmaximierer. Für mich ergibt es keinen Sinn, nach Weißrussland oder in die Ukraine zu gehen. Sprachlich gesehen. Ich gehe eher weniger davon aus, dass ich in meinem späteren Leben einmal von einem Vorgesetzten gefragt werde, warum ich denn nicht Ukrainisch (gibt es das überhaupt, oder spricht man dort eh russisch??) spreche und wieso ich mit Kyrillisch nichts anfangen kann. Englisch und Französisch sind da einfach ne andere Liga.

Irgendwann meldete sich meine zukünftige Länderreferentin bei mir, Frau Kettnaker. Sie sitzt wie alle anderen Länderreferenten im Hauptbüro in Berlin und für jedes Land gibt es jeweils eine zuständige Person. Nicht zu verwechseln mit den jeweiligen Länderbeauftragten, die direkt vor Ort im ASF-Büro des jeweiligen Landes residieren. Von Nicola hatte ich ja schon erzählt, sie arbeitet mit Idan im ASF-Büro in Paris. Beide, Nicola und Frau Kettnaker, haben mehr oder weniger die selbe Funktion im Bezug auf die Freiwilligen, wobei Frau Kettnaker für die Zeit vor dem Beginn des Dienstes für uns zukünftige Franzosen zuständig ist. Nicola dagegen begleitet uns unmittelbar während des Dienstes, leitet die Seminare in Paris und ist die erste Ansprechperson, wenn es im Projekt Probleme oder Sorgen gibt. Frau Kettnaker stellte sich in einem Brief vor, erklärte ihre Funktion und listete noch einmal alle wichtigen Dinge auf, die vor Beginn des Dienstes unbedingt erledigt werden müssten. Und auch sie riet zu einem Sprachkurs und teilte uns im gleichen Atemzug mit, dass ASF für uns beim Deutsch-Französischen Jugendwerk Stipendien reserviert hätte. Das mitgesendete Antragsformular müsse so schnell wie möglich ans DFJW zurückgesendet werden, um die Chance auf das Stipendium zu wahren. Diese sind zwar reserviert, aber dennoch nicht sicher. Abgelehnt werden diese in Fällen wie unseren aber wohl eher selten, da sich das DFJW auf politischer Ebene auf einer Wellenlänge mit ASF bewegt und den kulturellen Austausch fördert.

Seitens ASF wurden uns zwei Sprachschulen in Frankreich mitgeteilt, mit denen ASF seit langem erfolgreich zusammenarbeitet. Die eine in La Rochelle an der französischen Atlantik-Küste, die andere in Vichy, im Herzen Frankreichs. Das Stipendium würde nur im Zusammenhang mit einer der beiden Schulen ausgezahlt werden und für einen Sprachkurs von 3 beziehungsweise 4 Wochen gelten. Ganz schön lange dachte ich mir im ersten Moment. Aber nach Rücksprache mit meinem Vater und später auch meiner Mutter war klar, dass ein Sprachkurs in Berlin zwar deutlich billiger wäre und auch nicht so viel Organisation mit sich ziehen würde, ein Sprachkurs in dem Land der betreffenden Sprache aber sicherlich die besseren Ergebnisse liefern würde. Eigentlich hatte ich nie vor gehabt, so ein großes Ding aus einem Sprachkurs zu machen, aber jetzt, mit dem Stipendium, erschien das eine coole Sache für mich. Warum also nicht? Ich entschied mich für die Sprachschule in Vichy. Cavilam heißt sie. La Rochelle schien mir etwas zu abgelegen. Hat zwar einen Flughafen, aber aus Deutschland fliegt da keine Airline hin. Mit so was kenne ich mich aus. Ich kann sofort sagen, welche Airline wie oft von Berlin nach sonst wohin fliegt. Vichy hat zwar keinen Flughafen, aber Lyon ist nicht so weit weg und seit November 2007 bot Easyjet einen täglichen Flug von Berlin dorthin an. Inzwischen wurde der aber leider wieder eingestellt. Das war eigentlich das einzige Kriterium, warum ich mich für Cavilam entschieden hatte, so dämlich das klingt. Das 180 km entfernte Lyon mit dem täglichen Flug in die Heimat. Hat vielleicht auch was mit meinen Reiseträumen zu tun. So viele Airports wie möglich sehen. Bahnhöfe sind doch langweilig. Nur so und nicht anders wäre ich aber nach La Rochelle gekommen. Also hieß der Gewinner Vichy mit Cavilam. Schon komische Kriterien, nach denen ich manchmal auswähle.

Die Wochen vergingen, es wurde April, der Antrag fürs Stipendium war schon abgeschickt, die Bearbeitung sollte 4 bis 6 Wochen dauern und es ging so langsam der Papierkrieg los, den ein Jahr im Ausland nun mal mit sich bringt. Formulare hier, Informationen da. Irgendwann Anfang April war auch die genaue Projektbeschreibung inklusive Berichten der aktuellen Freiwilligen eingetrudelt. Auf dem Info- und Auswahlseminar im Januar konnte man sich zwar von jedem Projekt die ausführlichen Berichte durchlesen, die jeder aktuelle Freiwillige für die nachfolgenden Generationen anfertigen musste, aber wer konnte sich da schon ernsthaft alle wichtigen Punkte merken und den Überblick behalten. Zudem man zu dem Zeitpunkt ja eh nicht wusste, ob man genommen und wenn ja, in welches Land und Projekt man gesteckt werden würde. Ich hatte mir auch nur Berichte von den Projekten in den USA durchgelesen und so las ich nun erstmals interessiert den Bericht über die Arche in Paris, mein zukünftiges Projekt. Die Arche verfolgt das Konzept des Zusammenlebens behinderter und nichtbehinderter Menschen in einer Art Wohngemeinschaft. Klang zuerst wenig reizvoll, zudem der Satz „Projekt mit sehr geringer Freizeit“ mir gar nicht in den Kram passte. Aber auch hier gewöhnte ich mich mit der Zeit an den Gedanken. Du ziehst das jetzt durch, sagte ich mir immer wieder, egal was kommen mag. Du bist angenommen, das lässt du dir auf keinen Fall entgehen. So puschte ich mich ein bisschen selber. Half ja auch. Irgendwann gab es keinen Widerwillen gegen das Projekt mehr und die Vorfreude auf Frankreich, auf Paris und die Erfahrungen, die dort auf mich warten würden, überwogen vor der Angst und dem Zweifel.

In der Projektbeschreibung stand auch, dass die Arche in Paris das einzige Projekt sei, das eine Hospitation voraussetzen würde. Was so viel heißt wie, dass ich mich dort erst einmal vorstellen müsste, bevor ich meinen Dienst dort beginnen könnte. Gut, dann würde ich also irgendwann in diesem Jahr vor dem 1.September, dem offiziellen Dienstbeginn, nach Paris reisen. Schritt für Schritt wurde mir aber klar, dass es mit der Zeit langsam knapp wurde, mit all den Sachen, die ich vor hatte. Da war der geplante Sprachkurs, vier Wochen. Dann die Woche zum Vorstellen in Paris und zudem noch eine Woche Urlaub an der Costa Brava mit Benny, seiner Freundin Ari und noch vier anderen Leuten. Übrigens einer meiner Reiseträume, die ich mir erfüllt habe. Urlaub mit Benny. Per Flugzeug wohlgemerkt. Nicht per Auto, wie wir es schon öfter gemacht hatten. So waren wir mit seinen Eltern schon im Harz und an der Ostsee. Diese ganzen Sachen mussten also zwischen Mai und September steigen, wobei der Termin des Urlaubes ja schon fest stand. Gebucht hatten wir schon Anfang des Jahres für den Zeitraum vom 26. Juli bis 2. August. Viel Luft war da nicht. Das Stipendium war noch nicht bewilligt und wehe, die Kollegen der Arche aus Paris würden Faxen machen. Zudem ich mir wie immer viel Zeit für die Bearbeitung der Sachen genommen hatte und das Anmeldeformular fürs Stipendium gerade noch fristgerecht weggeschickt hatte. Irgendwie bin ich ja auch ein Idiot und selber Schuld, wenn ich in so Lagen komme.

Es wurde Ende Mai, das Stipendium lies auf sich warten und mittlerweile war ich auch mit der Arche in Kontakt, um mögliche Termine für meinen Vorstellungs-Besuch auszuloten. Bei der Sprachschule hatte ich mich schon angemeldet, mit dem Hinweis, das dies hinfällig werden würde, sollte das Stipendium nicht bewilligt werden, da ein Sprachkurs sonst nicht finanzierbar für mich sei. Vier Wochen kosten in Cavilam immerhin gute 1.200 €, ohne Unterbringungskosten. Und es geschah genau das, was ich befürchtet hatte. Die Chefin der Arche war mit keinem meiner Terminvorschläge einverstanden. Einmal war sie zu der Zeit im Urlaub, einmal passte es ihr aus anderen Gründen nicht und im August sei die Arche komplett geschlossen, ein Besuch also ausgeschlossen. So hätte es mir aber eigentlich am besten gepasst. Nach dem Urlaub ganz entspannt nach Paris. Jetzt musste ich auch noch diesen Termin in meinen mittlerweile überfüllten Terminkalender zwischen Juni und Ende Juli quetschen. Auf jeden Fall wollte ich aber nach meinem Sprachkurs nach Paris, um so gut vorbereitet wie möglich zu sein. Andersrum stellte absolut keine Alternative dar. Mit meinem katastrophalen Französisch würde ich mich dort niemals so präsentieren können, wie ich es für notwendig erachtete, da mir dazu das Vokabular und die Übung fehlten. Irgendwann wurde mir aber klar, dass ich keine Wahl hätte, als vor dem Sprachkurs in Paris anzutreten. Schöne Scheiße sage ich euch.

Mit der Chefin der Arche kam ich von Anfang an nicht zurecht, sie war unfreundlich und wenig kooperativ. Sie war der Meinung, dass ich mich mit meinen Angelegenheiten ganz nach ihren Wünschen zu richten hätte. Wer mich kennt weiß, dass ich mit dieser Sorte autoritären Menschen absolut nichts anfangen kann und innerlich dann schon mal gerne auf Konfrontation schalte. Habe ich wohl von meinen Eltern. Mein Vater, ein alter 68er und meine Mutter, die im Grunde genommen auch nicht anders ist, auch wenn sie 1968 erst 14 Jahre alt war. Ist nicht immer leicht und förderlich, so wie seine Eltern zu sein, aber in dem Fall ist es auf jeden Fall besser, als einer dieser angepassten, arschkriechenden Typen zu sein. Wie heißt es so schön: Nur wer gegen den Strom schwimmt, kommt an die Quelle. Scheint im Unterbewusstsein mein Lebensmotto geworden zu sein. Aber ich kann mich einfach nicht anpassen, selbst wenn ich es versuche. Und die Chefin der Arche gehört zu dieser Sorte Menschen, auf die ich reagiere wie ein Stier auf ein rotes Tuch. Oder gelbes Tuch. Ist ja Wurst, Stiere sind ja eh farbenblind.

Irgendwann hatte ich mich mit der Chefin der Arche endlich auf einen Termin „geeinigt“. Zähneknirschend hatte ich eingewilligt, vor dem Sprachkurs nach Paris zu kommen. Aber diese ganze Angelegenheit hatte dazu geführt, dass unser Verhältnis leicht vorbelastet war. Sie war es scheinbar nicht gewohnt, dass man ihr widersprach und ihre Retour-Kutsche erfolgte darin, mir einen gehörigen Strich durch die Rechnung zu machen. Musste ich aber wohl oder übel akzeptieren. Anfang Juni wurde dann endlich das Stipendium bewilligt und ich konnte mit der genaueren Planung meines damit insgesamt 5-wöchigen Frankreichaufenthaltes beginnen. Da es das Einfachste war, beschloss ich, direkt von Paris nach Vichy zu gehen. Ich war echt erleichtert, alle Termine untergebracht zu haben. Am 15. Juni würde ich also nach Paris fahren, dort eine Woche bleiben und am 22. Juni mit dem Zug nach Vichy fahren. Die Story, wie ich eben diesen Zug verpasste, kennt ihr ja bereits. Und vom heutigen Standpunkt betrachtet war es nur der passende Abschluss einer verkorksten Woche. Einer Woche, in der ich mich nicht wirklich wohl in meinem zukünftigen Projekt fühlte. Die Stimmung war seltsam gedrückt und angespannt und ich hatte oft das Gefühl, dass es in der Einrichtung generell nicht rund zu laufen schien. Und das persönliche Gespräch mit der Chefin verlief im Grunde genommen genau so ab, wie der E-Mail-Verkehr mit den Debatten um ein passendes Datum. Frostig, unpersönlich und unangenehm. Ich konnte nicht viel sagen, fühlte mich in der Sprache nicht wohl, verstand nicht viel und zudem wurde die Chefin von Sekunde zu Sekunde unfreundlicher. Tja, wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir uns das sicher ersparen können.

Ich hatte die Woche aber schnell abgehakt. In Vichy war das Wetter viel zu gut, um Trübsal zu blasen. Die ersten zwei Wochen hatten wir knackige 35 Grad und es war mehr ein Sprachurlaub, als ein Sprachkurs. Die Stimmung wurde nur schlagartig schlechter, als Nicola mich per Mail anschrieb. Sie habe probiert, mich per Telefon zu erreichen, aber vergebens. Ich antwortete verdutzt, ob es den dringend sei, da ich ja in Vichy zum Sprachkurs weilte und daher auch nicht per Telefon erreichbar sei. Die Antwort haute mich dann mehr oder weniger vom Hocker. Es sei schon dringend, da Anne Delaval, so der Name der Arche-Chefin, ein negatives Urteil über mich abgeben hatte und ich daher nicht in der Arche arbeiten könne. Auch Nicola war ziemlich verdutzt und auch merklich wütend, als ich ihr daraufhin völlig von der Rolle sagte, dass ich davon bisher nichts gehört hatte. Madame Delaval hatte es nicht für nötig gehalten, mir persönlich mitzuteilen, dass sie augenscheinlich ein Problem mit mir hatte. Nicola machte das sauer und auch ich war absolut empört über dieses Verhalten. Ich erfuhr also quasi per Zufall, dass mir vor meinem Antritt gekündigt wurde, wenn man es so will. ASF reagierte aber schnell und den Rest kennt ihr ja. Einen Tag später wurde mir die Colline in Nizza zugeteilt und damit bin ich bis heute sehr zufrieden. Und wieder einmal zeigt sich damit, dass es wohl für irgendwas gut war, nicht in Paris gelandet zu sein. Schicksal eben.

Die restlichen Wochen in Vichy waren einfach nur genial. Ich habe nie wirklich davon erzählt, im Grunde genommen weiß keiner, was ich dort alles erlebt habe. Aber es waren die geilsten Wochen meines Lebens.Ich habe mit den coolsten Leuten aus allen Ecken der Welt in der Schule mit unseren Lehrern rumgealbert, danach zusammen beim Sport geschwitzt und abends dann mit der gesamten Schule, inklusive Lehrern, in irgendeiner Bar den Abend ausklingen lassen. Vier Wochen lang. Absolut einmalig.

Hier habe ich die tollsten Menschen von wirklich allen Kontinenten kennengelernt, die man sich vorstellen kann. Wie habe ich es in meinem Bericht formuliert, den ich dem DFJW danach senden musste? Moment, ich suche es schnell raus. Ah, da ist es ja:

Wir spiegelten alle unsere Länder wieder und zusammen ergaben wir die Welt. Vielleicht auch nur unsere kleine tolle Cavilam-Welt, aber es machte unheimlichen Spaß, Teil dieser Welt zu sein, in der Vorurteile, Fremdenhass und Rassismus absolut keine Chancen haben. Denn hier profitiert jeder von jedem, egal woher er kommt. Und jeder ist Teil eines großen Multi-Kulti-Puzzles, das nicht komplett wäre, würde auch nur einer von uns fehlen.

Am 18. Juli hieß es dann Abschied nehmen von Vichy und meinen neuen Freunden. Einen Tag später um 9:15 Uhr saß ich in Lyon im Flieger nach Berlin-Schönefeld. Mit gemischten Gefühlen. Ich freute mich unglaublich, endlich wieder meine Freunde in Berlin zu sehen. Andererseits war ich sehr traurig, nicht noch mehr Zeit mit meinen neuen Freunde aus Vichy verbringen zu können. Und ich war totmüde. Ich hatte die Nacht nämlich am Flughafen verbringen müssen, da der erste Zug des Tages aus Vichy erst um 8:59 Uhr in Lyon ankommt. Wenn der Flieger aber schon 16 Minuten später fertig geboarded auf dem Vorfeld steht und auf seine Starterlaubnis wartet, bleibt einem ja nichts anderes übrig, als den letzten Zug des Vortages zu nehmen und sich die Nacht am Flughafen um die Ohren zu schlagen. Ich hab kein Auge zugetan... Schonmal probiert, aufrecht auf Drahtstühlen zu pennen, während Nachts um drei ein Flieger aus Moskau ankommt, voll mit lauter besoffenen Russen? Nein? Kann ich auch nicht unbedingt empfehlen. Viel zu spät bin ich auf die glorreiche Idee gekommen, mal im Nachbar-Terminal nach einer angenehmeren Ruhestätte zu suchen.

Erst, als ich irgendwann um kurz vor 5 meinen Koffer bei der Gepäckabgabe abgegeben hatte, wanderte ich etwas durch die Gegend und fand letztendlich eine kleine Ecke mit Liegestühlen, mit Blick genau aufs Vorfeld und die aufgehende Sonne. Erst dort döste ich ein bisschen. Aber geschlafen habe ich keine Sekunde.

Viel mehr beobachte ich, wie sich die ersten Sonnenstrahlen in der Lufthansa Boeing 737 spiegelten, die morgens um 6 für den ersten Flug nach Frankfurt bereit gemacht wurde.

Um kurz vor 7 landete dann die Delta Airlines Boeing 757-200 aus New York JFK und parkte genau vor meiner Scheibe. Diese Verbindung zwischen New York und Lyon gab es zu dem Zeitpunkt erst zwei Wochen lang und überall im Flughafen las man Werbeplakate des 5 mal in der Woche stattfindenden Fluges.

So beobachte ich also das Treiben auf dem Vorfeld, bis ich mich irgendwann um 8 zum Einchecken begab, mir dort in der viel zu kleinen Abfertigungshalle des Billigflug-Terminals von Easyjet die Beine in den Bauch stand und feststellen musste, dass für vier zeitnahe Abflüge von Easyjet, nämlich die nach Barcelona, Lissabon, Mailand und Berlin, nur eine einzige Sicherheitsschleuse geöffnet war, vor der sich logischer Weise die Massen drängten. Irgendwann bemerkten die Mitarbeiter, dass es für den Flug nach Berlin langsam knapp in der Zeit wurde und so brüllte eine Angestellte der Sicherheitsaufsicht in die Menge, dass die Passagiere nach Berlin bitte den Arm heben sollten und von den anderen vorgelassen werden sollten. Tja, Berlin war mit 150 Passagieren komplett ausgebucht, das Gedrängel wurde so auf jeden Fall nicht beseitigt. Aber im Warteraum merkte ich erst, dass unser Airbus A 319 noch gar nicht gelandet war. Der ist nämlich in Berlin stationiert und war anscheinend noch auf dem Flug. Warum also hatte man uns als erste durch die Schleusen gelassen? Chaos auf französisch eben. Ich stand mittlerweile aber relativ pragmatisch und resignierend da, absolut kaputt und müde. Den Flug hab ich dafür verpennt. Und in Schönefeld wurde ich von Benny und Ari erwartet. Ich war in dem Moment so glücklich, wieder Berliner Boden unter den Füßen zu haben und wieder in vertraute Gesichter Blicken zu können.

Tja, jetzt kennt ihr die Geschichte von meiner ersten Reise nach Paris, habt etwas über meine vier Wochen in Vichy erfahren und wisst nun, wie ich letztendlich in Nizza an der wundervollen Côte d’Azur gelandet bin. Es passt zwar eigentlich nicht ins Thema der vierten Woche, aber irgendwie gehört das ja alles zusammen.

Nur eine Woche nach meiner Rückkehr aus Frankreich, wo ich insgesamt fünf Wochen war, erfüllte ich mir wie gesagt einen meiner vielen Reiseträume. Mit Clickair flog ich mit Benny, Ari und vier weiteren Freunden am 26. Juli von Berlin-Tegel nach Barcelona. Von dort ging es per gemietetem Shuttle ins Hotel im kleinen Ort Calella, nur wenige Kilometer entfernt von Llorett de Mar, das ja vielen ein Begriff sein dürfte. Eine Woche Sonne tanken und feiern bis die Sonne wieder aufgeht. So muss es sein. Es war richtig geil. Jetzt aber wieder zurück nach Nizza, sonst schreib ich hier noch jede Kleinigkeit dieses Jahres rein und der Text hat doch jetzt schon über 4.000 Wörter...

Lars, mein Vorgänger, hatte mir am Anfang der Woche auf meine Mail geantwortet und mir etwas genauer den Standort des Rades beschrieben. Und der war gar nicht weit weg von McDonalds. Gleich hinter dem Brunnen auf dem Place Masséna, in einer kleinen Straße. Ich verbrachte also einige Zeit damit, den Ort zu finden und nach einem Rad Ausschau zu halten, das so aussieht, wie von Lars beschrieben und zudem keinen Sattel hat. Den hatte ich ja schon. Auch am Wochenende suchte ich immer mal wieder und irgendwann hatte ich den genauen Ort gefunden, vor einem kleinen Antiquitätenladen. Und meine Befürchtungen stimmten, denn mehr als ein Schloss fand ich nicht. Es war also tatsächlich gestohlen worden. Ist auch ziemlich dämlich, hier ein Rad für fast einen Monat anzuschließen, wenn man weiß, dass hier sehr viele Räder gestohlen werden. Aber auf der Suche nach dem Rad entdeckte ich Straßen, die ich bis dahin nicht kannte. Insbesondere die Parallelstraßen der Promenade des Anglais, die zwischen ihr und dem Place Masséna liegen, kenne ich nun etwas besser.

Dort kann man wohl das beste Essen der Stadt bekommen. Es reiht sich ein schickes Restaurant an das nächste und aus jedem strömt ein leckerer Duft. Die meisten Restaurants hier sind italienisch, aber indisch und chinesisch kann man natürlich auch essen. Ganz billig ist es aber nicht. Ich habe mir angewöhnt, im Vorbeigehen immer mal einen Blick auf die Speisekarte und die Preise zu werfen und eine Pizza Magerita unter 9,50 € habe ich bisher nicht gesehen. Das trifft wohl aber nicht nur auf diese Ecke Nizzas zu. Vielmehr ist es das allgemein sehr hohe Preisniveau der Côte d’Azur. Aber dafür bekommt man hier sicher auch erstklassige Qualität serviert, mit einem Hang zur italienischen und mediterranen Küche. Die Zutaten dazu bekommt man hier gleich vor Ort auf dem Markt, der jeden Tag ist. Wenn man etwas zu viel Geld übrig hat, kann man Fische, Hummer, Langusten und so ziemlich alle anderen Leckereien hier fangfrisch kaufen. Aber auch Obst, Gemüse und Blumen bekommt man. Ein vielfältiger Markt eben. Irgendwann will ich hier auch mal essen gehen und vielleicht sogar etwas auf dem Markt kaufen. Macht eh viel mehr Spaß, als im Supermarkt. Das Verhältnis von Kunde und Verkäufer ist auf dem Markt ein anderes. Und die Qualität ist viel höher, die Sachen viel frischer und gesünder, da sie sicher nicht so viel mit Chemikalien behandelt wurden, wie Dinge im Supermarkt.

Die Arbeitswoche bestand eigentlich nur darin, nach dem neuen Dienstplan zu arbeiten, dank dem ich ja nun einen geregelten und planbaren Arbeitstag habe. Vor allem die Arbeit im centre bedurfte einiges an Eingewöhnung, aber inzwischen haben Cathy und ich das besser im Griff. Wie die Nachmittage auf Arbeit aussehen, davon schreibe ich euch nächste Woche.

Und dann habe ich noch das gemacht, worauf ich mich am meisten gefreut habe, seit ich hier bin. Ich habe die Tickets für meine nächste Reise gekauft. Jetzt, wo die Daten des ersten Seminars im Dezember bekannt sind, hab ich das gleich in Angriff genommen. Interessanter Weise ist der TGV von Nizza nach Paris genau so teuer wie Easyjet, also musste ich nicht lange überlegen. 17. Dezember geht’s ab nach Paris. Aber das beste kommt erst noch. Im Anschluss fliege ich ebenfalls mit Easyjet nach Berlin, um dort Weihnachten und Neujahr zu verbringen. Ich freu mich riesig. So toll es hier auch ist, die Heimat fehlt mir. Ab jetzt kann ich also die Tage zählen, bis es nach Paris und anschließend direkt nach Berlin geht. Der 22. Dezember ist der Tag der Tage und ich bin gespannt, wie es sich anfühlen wird, wenn ich in Schönefeld nach über drei Monaten wieder in Berlin lande.

Mittwoch, 26. November 2008

Tag 29 bis 35, Woche 3

Shana Tova. Frohes neues Jahr euch allen. Ja, ich denke jetzt ein bisschen jüdisch und daher beginnt diese Woche das neue Jahr 5769. Und um euch aufzuklären, was die Begriffe Rosh Hashanah und Shana Tova bedeuten, ist es wohl die beste Eselsbrücke, wenn man sich merkt, dass ihre Bedeutungen in etwa den deutschen Begriffen Silvester und Frohes neues Jahr! entsprechen. Wobei Rosh Hashanah der Name des Festes und Shana Tova der Ausruf ist. Ich finde es total interessant, etwas über die jüdische Religion zu lernen.

Abgesehen von den heftigen Gewittern der letzten Woche war das Wetter auch so etwas ungemütlicher geworden. In der Nacht auf Montag hatte es sinnflutartig geschüttet, aber am Montag selber war das Wetter wieder so, wie man es gerne hat. Angenehm warm. Der Arbeitstag war nicht unbedingt außergewöhnlich. Ich verbrachte ihn mal hier, mal dort. So einen richtigen Arbeitsplan gab es ja noch nicht, hatte ich den Eindruck. Einsatz nach Bedarf. War mir für den Anfang auch lieber, so konnte ich alles viel genauer und ruhiger kennenlernen. Und so langsam kam auch etwas Vertrautheit in die ganze Angelegenheit. Ich kannte inzwischen deutlich mehr Namen und auch die morgendliche Runde dauerte nun länger als sonst. Man kannte mich jetzt und viele Bewohner begrüßten mich, was nicht selten in einem kleinen Gespräch endet. Und erkundigt man sich nur nach dem Befinden der Person, es freut sie immer. Und mich macht es happy, dass man sich freut, mich zu sehen. Das Verhältnis mit den Kolleginnen und Kollegen entwickelte sich auch richtig klasse. Ich habe das Gefühl, in eine große Familie geraten zu sein. Unpersönliches und distanziertes Verhalten kennt man hier kaum. Ist eben Frankreich und nicht Deutschland. Zwischenmenschliche Sachen laufen hier einfach anders ab. Find ich super, denn das gehört zu den Dingen, die mich an meinem eigenen Volk ankotzen. Diese Kälte zwischen den Menschen. Auf Leute zu gehen oder ihnen ein Lächeln schenken, wenn man sich kaum kennt ist nicht selbstverständlich. Natürlich gibt es auch andere Leute, aber es ist eben doch anders, als in Frankreich. Muss man selber erlebt haben, um zu begreifen, was ich meine.

Irgendwann in der Woche kam dann doch Madame Roche zu mir, um mir meinen festgelegten Arbeitsplan mitzuteilen. Da ich mich inzwischen gut eingelebt hatte, kann es nun auch gerne so richtig nach Plan losgehen. Die Arbeitszeiten bleiben die gleichen, die eine Stunde Pause natürlich auch. Eine meiner neuen Tätigkeiten soll ab jetzt das tägliche Wechseln des aktuellen Datums sein. In jedem der 4 Teile der Colline gibt es jeweils einen Ort, an dem das aktuelle Datum markiert ist. Das sind schlicht und einfach die Zahlen von 1 bis 31, die 7 Wochentage und die 12 Monate auf Din A4-Blätter gedruckt. Die wurden von Sylvie plastifiziert, damit sie länger halten. Die plastifizierten Nummern, Tage und Monate wurden dann ausgeschnitten und so existiert von jedem Tag, jeder Nummer und jedem Monat ein Plastikschildchen, alles mal 4 natürlich. Nein, mal 3, denn im batiment la colline gibt es einfach nur 3 Plastikhüllen, in denen die ganzen Blätter mit den jeweiligen Daten stecken. Nicht ausgeschnitten. Diese durchsichtigen Hüllen sind nebeneinander auf ein großes Pappschild gesteckt, sodass jeder gut die vordersten Blätter mit dem aktuellen Datum sehen kann. In den anderen Gebäuden werden die kleinen Plastikschildchen entweder an die zentrale Pinnwand gesteckt, oder wie im batiment sud, dem Alzheimer-Teil, einfach zwischen Rahmen und Fenster des Schwesternzimmers geklemmt. Lange Rede, kurzer Sinn, ab sofort bin ich dafür zuständig, dass diese Daten zuverlässig jeden Tag gewechselt werden. Ausgenommen am Wochenende, denn da arbeite ich ja nicht. Klingt nach einer nebensächlichen Arbeit, aber psychologisch betrachtet ist es durchaus wichtig. Man gibt den Bewohnern damit ein Zeitgefühl, eine Orientierung. Denn viele von ihnen haben kein Zeitgefühl mehr, sind im Kopf im Jahr 1974 und leben generell ohne Sinn für Monate und Jahre. Mit dem täglichen Wechseln des Datums wird den Bewohnern ein Teil ihrer Existenz wiedergegeben, ihnen die Möglichkeit gegeben, ihr eigenes Leben in eine Zeitspanne einzuordnen. Ohne ein Anhaltspunkt, das Datum, wäre das den Meisten wohl nicht möglich.

Der Wochentag geht also damit los, dass ich noch vor dem Anmelden an dem elektronischen Kartenlesegerät, der pointeuse im batiment nord, die zwei dort zu wechselnden Daten vom Brett nehme, damit in den Alzheimer-Teil zum Schwesternzimmer gehe, nachdem ich an der pointeuse war nicht zu vergessen, und dort die neuen Schildchen aus den Hüllen hole, in denen sie aufbewahrt werden. Diese sind nur deswegen im batiment sud, weil es im batiment nord keinen passenden Ort gibt, an dem man sie sicher verstauen könnte. Vorher waren sie im salle d’animation, aber da Sylvie meistens erst um 10 anfängt und Donnerstags gar nicht arbeitet, fand ich es praktischer, sie im Alzheimer-Teil aufzubewahren. Nachdem ich also das Datum vom Alzheimer-Teil gewechselt habe und die neuen Schildchen für des batiment nord rausgesucht und die alten wieder verstaut habe, gehe ich mit den neuen Daten zurück zum batiment nord. Unterwegs durchquere ich das batiment la colline, wechsele dort ebenso das Datum und gehe dann weiter zum batiment nord um dort das neue Datum an die Pinnwand zu stecken. Wo ich danach hingehe, hängt dann vom jeweiligen Wochentag ab.

Montag morgens hat Madame Roche das atelier informatique vorgesehen, in dem ich mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter und zwei oder drei Bewohnern etwas am Computer arbeiten soll. Von denen hatte ich ja schon berichtet. Nicht unbedingt auf dem neuesten Stand. Aber für hier sollte es noch reichen. An diesem Montag war besagter Monsieur Informatique aber nicht da und so ging ich ins centre, wechselte dort das Datum und entschloss mich, Cathy, die gerade eingetroffen war, bei der Durchführung der Animation zu helfen. Sie hatte von Madame Roche auch einen neuen Plan bekommen und der beinhaltete für sie jeden Morgen von 10 bis zum Mittagessen um 12 eine Animation im centre, zusammen mit mir. Ausgenommen Montags und Mittwochs. Montag früh hab ich ja schließlich den Informatik-Kurs und Mittwochs arbeitet Cathy nicht. Aber heute half ich ihr, da ich sonst nichts zu tun hätte. Sie freute sich, denn sowohl für mich als auch für sie war es das erste Mal, dass wir im centre arbeiten sollten. Wirklich freuten wir uns aber nicht darüber. Im centre wohnen, wie schon mal erzählt, die ganz schlimm betroffenen und pflegebedürftigen Bewohner und wenn man aus dem Fahrstuhl steigt, (der Eingang zum centre liegt eine Etage unter dem Essens- und Aufenthaltsraum, wo die Animationen stattfinden) kommt einem oft ein bissiger Geruch von Urin und Medikamenten entgegen. Angenehm ist es also nicht.

Wir verbrachten die Zeit also damit, uns erst mal ein bisschen mit den Bewohnern vertraut zu machen und in Erfahrung zu bringen, wer überhaupt in der Lage ist, wenigstens ein Bisschen an den Animationen teilzunehmen. Wenn man sich die Bewohner aber mal ansieht, dann kommen doch gewisse Zweifel auf, dass diese zu überhaupt was fähig sind, so traurig das ist. Viele liegen in rollbaren, gepolsterten Schalen und geben keine Regung von sich. Die meiste Zeit verbringen sie schlafend. Die meisten Bewohner sitzen eh im Rollstuhl. Und nicht wenige davon sind festgeschnallt, damit nichts passiert. Aus eigener Kraft können sie sich weder bewegen, noch wieder aufrichten, sollten sie rutschen, daher die Schnallen. Reden tun diese Bewohner so gut wie gar nicht mehr und tun sie es, ist es oft unverständlich und ohne Zusammenhang. Es ist ein trauriger Anblick und ich weiß, dass es eine ziemliche Herausforderung ist und einiges an Überwindung kosten wird, hier drei Mal die Woche eine Animation mit Cathy durchzuführen. Dem sind wir uns bewusst und ab und zu warfen wir uns an diesem Morgen skeptische und hilflose Blicke zu. Wir sind definitiv froh, dass wir uns haben und die Arbeit daher nicht alleine machen müssen.

Ein weiterer Grund, warum es jetzt morgens immer etwas länger dauert, bis ich da ankomme, wo ich ursprünglich hinwollte, ist der in Frankreich obligatorische Begrüßungskuss links rechts. Macht man in Deutschland zwar auch, aber hier gehört das schon nach wenigen Malen zur Selbstverständlichkeit. Als Neuling wird da bei mir keine Ausnahme gemacht. So busselt mich morgens die halbe weibliche Belegschaft ab. Salut hier, bonjour da. Und nicht nur die jüngeren Kolleginnen begrüßen mich mit Begrüßungskuss. Sylvie ist schon Mitte 50, aber es ist ganz normal und eine Geste von Respekt, dass man sich trotz des Altersunterschiedes mit Küsschen begrüßt, man arbeitet ja schließlich zusammen. Ist vielleicht der entscheidende Unterschied zu Deutschland. Dort bleiben mit den Küsschen die Altersgruppen meistens unter sich. Jugendliche und alte Omas beim wöchentlichen Tee oder so. Vermischt wird das eigentlich eher selten, oder? Ausgenommen Verwandte und enge Vertraute, Eltern von besten Freunden oder so. Benny’s Mutter Ines bekommt von mir ja auch immer nen Kuss auf die Wange, wenn ich sie sehe. So ewig wie ich sie kenne ja auch kein Wunder. Hab ja teilweise mehr Zeit bei denen als nebenan bei Papa verbracht. Und wenige Menschen kennen mich so gut wie sie. Vielleicht nur meine Eltern und Benny. Hier muss man sich also nicht seit der Steinzeit kennen. Geht sofort los. Und das schönste daran: ich werde jedes Mal mit einem Lächeln begrüßt. Das ist schön. Jeder freut sich, mich zu sehen und so tue ich auch. Hab aber auch echt nette Kolleginnen. Hier arbeiten zwar auch Männer, aber mit denen habe ich nix zu tun. Auf jeden Fall fühle ich mich sehr wohl und das ist ja schließlich die Hauptsache.

Montag nach der Arbeit hatte ich keine Zeit, gemütlich Musik zu hören oder groß was für meinen Blog zu schreiben. Denn um 19 Uhr war ich ja zum Essen in der Colline eingeladen. Begrüßung des neuen Jahres. Alle würden da sein, Cathy, Sylvie, die Bewohner und ich wollte natürlich nicht zu spät sein. War ich auch nicht, Punkt 19 Uhr war ich im Essenssaal und konnte noch helfen, die Bewohner an ihre Plätze zu führen. Dann ging es auch schon los. Monsieur Perez, der Direktor, hielt eine kleine Rede, mit Dank an verschiedene Personen. Und am Ende wurde auch ich erwähnt und mit einem großen Applaus entgültig und offiziell willkommen geheißen. Ich bedankte mich und ein Herr neben Monsieur Perez, den ich nicht kannte, fragte mich, woher aus Deutschland ich kommen würde. Erstaunlicher Weise konnte man hier mit der Gegend Mannheim/Heidelberg etwas anfangen, denn weitere Fragen folgten nicht. Ein Teil der Rede wurde auch auf Hebräisch gehalten, aber so wirklich geschickt stellte sich der Herr Direktor am Mikro nicht an. Er war dauernd zu leise oder hielt das Mikro zu weit vom Mund weg. War nervig, ich war froh, als er ruhig war. So richtig leiden kann ich ihn eh nicht. Er hat was überhebliches und hatte sich bisher keine zwei Minuten Zeit für mich genommen. Als Direktor der Einrichtung sollte er das aber eigentlich.

Musikalisch wurde der ganze Abend von zwei Herren begleitet, der eine mit Gitarre, der andere am Keyboard. Und die zwei waren echt gut. Sie machten richtig Stimmung und dafür, dass sie mit relativ kleiner Ausstattung spielten, war es einfach nur super. Dann wurde das Essen serviert, in 3 Gängen. Als Vorspeise gab es Äpfel, in Ringe geschnitten, dazu Honig und kleine Sesamkringel. Ich erinnere mich nicht mehr, aber irgendjemand erzählte, dass dies eine Bedeutung im Judentum hätte. Die Äpfel werden in den Honig getunkt und das schmeckt total lecker. Als erste Hauptspeise gab es Lachs. Super geil. Ich liebe Lachs über alles, Pluspunkt also. Sowieso wurde zum Mittag bisher erstaunlich viel Lachs serviert. Generell gab es oft Fisch. Wir sind ja auch am Meer. Als zweite Hauptspeise gab es ein Steak mit leckerer Sauce und dazu Erbsen. Zum Nachtisch, verzeihung, das heißt ja jetzt désert oder noch vornehmer apparativ, zwei Kugeln Vanilleeis und ein kleines Stück Himbeertorte. Die war so süß, dass es mir fast die Schuhe ausgezogen hat. War gar nicht so leicht, nicht das Gesicht zu verziehen, wenn man hineinbiss. Bis auf die Torte war das Essen aber exzellent gewesen und ich war zufrieden. Ach ja, dazu gab es Wein. Ich trank ein kleines Glas und merkte schon, dass es auf einmal viel wärmer war. Und dann drehte mir meine Sitznachbarin auch noch ihr Glas an, da sie es nicht wollte. Ablehnen erschien mir etwas unhöflich, also trank ich gemütlich auch noch ein zweites Glas. An den anderen Tischen wurde teilweise deutlich mehr geleert. Und auf einmal fingen einige Leute an zu tanzen. Und ehe ich mich versehen konnte, stand ich auch in der Mitte des Raumes und zappelte mir einen ab. Einige weiblichen Bewohner sind noch ganz schön fit und legten für ihr Alter fetzige Schritte auf dem Parkett hin. Und ich mit ihnen. Insgesamt tanzten wir bestimmt fast eine Stunde, immer mal wieder mit kleinen Pausen. Kurz vor 22 Uhr war die Party dann aber schon wieder vorbei. Die alten Leute brauchen schließlich viel Ruhe. Alles in Allem war es ein toller und gelungener Abend mit gutem Essen und netter Gesellschaft. Ich half wieder ein Bisschen, die Bewohner zu verabschieden oder diejenigen in Rollstühlen aus dem Raum zu schieben. Ich verabschiedete mich von Cathy und Sylvie und ging auf mein Zimmer. Und ich hatte auch was gelernt. Wein in Kombination mit Tanzen bringt einen ganz schön auf Touren. Aber irgendwie war ich glücklich, es ist alles so, wie man es sich vorstellt. Wo andere Urlaub machen, werde ich ein Jahr bleiben, arbeiten und die Erfahrungen meines Lebens machen, das steht nach dem Abend entgültig fest.

So schnell man ins Schwärmen gerät, so schnell kann es einem auch wieder vergehen. Wie an diesem Mittwoch morgen. Die Colline hatte den ersten Todesfall seit meiner Ankunft zu beklagen. Eine mir unbekannte Frau war in den frühen Morgenstunden mit deutlich über 90 Jahren verstorben. Als Sylvie mir das sagte, war es schon ein ziemlich unangenehmes Gefühl. Das Zimmer der Verstorbenen lag genau neben dem salle d’animation und der Gedanke, jeden Tag x-mal daran vorbeizulaufen, wo doch noch am Morgen ein Mensch gestorben war, machte mir Angst. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich mich an diesen Gedanken wohl oder üblich gewöhnen müsste. In einem Altersheim sterben nun mal Menschen und wenn man bedenkt, wie krank viele der Bewohner sind und wie sehr sie darunter leiden, dann ist es vielleicht in einigen Fällen sogar das Beste, wenn sie von ihren Leiden erlöst werden. Und mit über 90 Jahren, in etwa das Durchschnittsalter hier, kann man auch ruhig sterben, denke ich. So alt muss man erst Mal werden. Und letztendlich akzeptierte ich, dass sterben genauso zum Leben gehört, wie alles andere auch. Diese Menschen hatten ein bewegtes Leben, erlebten den Krieg, einige wenige sogar beide, hatten viele Kinder groß gezogen und nun war hier ihre letzte Ruhestätte. Ich vermute, dass wenn man als junger Mensch wie ich eine Arbeit wie diese verrichtet, dann denkt man bald anders beziehungsweise differenzierter über den Tod. Er bekommt dann neben dem Schrecklichen noch eine weitere Fassette. Die Natürliche.

Am Samstag war ich wie gewöhnlich an ein und den selben Orten. Nach dem Surfen (im www, nicht im Meer, oder hast du gerade ernsthaft einen Moment lang gestutzt?^^) schlenderte ich am Meer entlang. Es war ein unheimlich stürmischer Tag, mit strahlend blauem Himmel. Kalt war es daher nicht, aber der Wind hatte es trotzdem in sich. Frisuren waren an diesem Tag hoffnungslos verloren. Aber es war angenehm, sich die steife Briese ins Gesicht wehen zu lassen.

Wenn ich mit meinem Vater meine Tante besuche, die an der Kieler Förde wohnt, dann freue ich mich immer auf die Spaziergänge an der Förde entlang, dick eingemummelt, denn im Sommer waren wir schon ewig nicht mehr dort und so angenehm wie in Nizza ist der Herbst dort nicht. Ich war länger nicht mehr in Kiel. Ich hoffe, dass Melly es dort genau so gefällt, wie mir. Sie studiert nämlich bald dort beziehungsweise hat schon angefangen. Weiß ich grad gar nicht genau, wann es für sie losgeht. Wir haben Kiel zu unserer zweiten Lieblingsstadt gemacht. Nach Berlin natürlich. In Kiel kann man sich irgendwie schnell zu Hause fühlen und wie ich hat auch Melly dort Verwandtschaft. Umso schöner, dass es sie dank nummerus clausus genau dorthin verschlagen hat. So was nennt man Schicksal. Ja, ich glaube an so was. Ich glaube auch, dass es das Schicksal war, dass mich letztendlich hier her geführt hat. Aus irgendeinem Grund sollte es nicht Deutschland und auch nicht Paris sein. Es ist die Côte d’Azur und ein Gefühl sagt mir, dass die Party erst noch beginnt.

Zu erst aber war hier nur viel Wind. Und ein aufgewühltes Meer, das jetzt noch viel türkiser schien. Einige Leute badeten sogar. Ins Wasser hatte ich mich bisher ja noch nicht gewagt. Ich ging auch an den Strand und zog Schuhe und Socken aus. Angenehm war es nicht, die großen Steine schmerzten. Aber das Wasser war überhaupt nicht kalt. Dafür aber die Wellen recht ordentlich und eh ich mich versah, war meine hochgekrempelte Jeans klatschnass. Tja, hätte ich auch gleich ganz reingehen können, aber ich hatte kein Handtuch dabei. Dafür aber den Laptop und den würde ich ungern alleine am Strand liegen lassen. Ich setzte mich dann auf die Steine, ließ meine Füße und die Jeans etwas trocknen und genoss den Wind, der mir um die Nase und die Ohren wehte. Trotz allem waren auf dem Wasser viele Boote zu sehen. Eine Gruppe kleiner Segelboote, wahrscheinlich eine Segelschule, kämpfe tapfer gegen die übermächtigen Wellen. Wer diese Prüfung besteht, ist für später auf jeden Fall gut vorbereitet.

Im Hintergrund fuhr gerade wieder ein riesiges Kreuzfahrtschiff vorbei und mit den kleinen, irgendwie hilflosen Segelbooten im Vordergrund gab es ein tolles Motiv ab. Von rechts kam dann noch eine große Fähre ins Bild und als ich sie da so vor sich hin schaukeln sah, fragte ich mich, wie viele Leute an Bord wohl gerade über dem Klo hingen, weil ihnen der Seegang gehörig den Magen umdrehte. Toller Weise kamen die Flugzeuge heute von Osten rein und so konnte man auch sie dabei beobachten, wie sie durch den starken Wind etwas zu kämpfen hatten. Aber wie heißt ein Pilotensprichwort so schön: Runter kommen sie immer.

Bei meinen all-wochenendlichen Streiftouren bin ich dieses Mal die große Straße stadteinwärts gelaufen, die in den Place Masséna mündet und an der der McDonalds liegt, bei dem ich das erste Mal probiert hatte, online zu gehen. Also nicht in Richtung Brunnen und Promenade des Anglais, sondern in die entgegengesetzte. Sie heißt Avenue Jean Médecin. Weiter als bis zu McDonalds war ich bisher noch nicht gelaufen. Und auch dieses Mal kam ich nicht wirklich weit. Genau bis zu einem Einkaufszentrum, das den schönen Namen Nicetoile trägt. Dazu muss man wissen, dass dies eine Zusammensetzung aus Nice, dem französischen Namen Nizzas, und dem Wort étoile darstellt. Étoile bedeutet Stern. Ich mag dieses Wortspiel irgendwie. Es klingt schön. Und es ist auch ein schönes Einkaufszentrum. Die Läden sind nichts Besonderes, es gibt einen Adidas-Shop auf zwei Etagen, einige Schuhgeschäfte, einen Sportladen, einen C&A auf drei Etagen und die üblichen, kleinen Restaurants und Bars. Und noch einiges mehr, es dürfte in etwa so groß wie die Spandau Arcaden sein. Ich schlenderte also etwas durch die Gänge, verschwand in dem ein oder anderem Laden, kaufte aber am Ende nichts. Mit dem Geld muss ich hier gut wirtschaften. Ansich habe ich zwar genug, aber ich will mir ja auch etwas ansparen und eigentlich würde ich gerne einige anderen Freiwillige besuchen, unter anderem in New York und Tel Aviv. Das wäre ein Traum.

Ja, ich bin ein Träumer. Ich lebe in meiner kleinen Traumwelt und verbringe oft Stunden an irgendwelchen Orten, dahinschlendernd, die mich zum Träumen anregen. Da reicht schon ein Reisebüro, das Werbung für einen Urlaub auf Kuba macht. Das gehört zu einen meiner vielen Träume. Urlaub in der Karibik. Ich weiß nicht mal wieso. Aber ich träume es. Generell viel vom Reisen. Ich hab mir irgendwann mit 12 oder 13 mal das Ziel gesteckt, so viel wie möglich von der Welt zu sehen, wenn ich größer bin. Und jetzt, mit 20 Jahren, habe ich tatsächlich schon erstaunlich viel gesehen. Das ist mir erst so wirklich klar geworden, als wir in einer kleinen Gruppe auf dem Vorbereitungsseminar in Paris darüber geredet haben, wo wir schon überall waren. Ich war zum Beispiel schon auf Fuerteventura, ganze 4 oder 5 Mal, meine Eltern können sich da nicht einigen und ich war zu klein. Das letzte Mal müsste aber 1994 gewesen sein, ein Jahr bevor sie sich trennten. Ist zwar lange her, aber ich erinnere mich an so viele Dinge dort. Wir waren mehrmals im selben Hotel, dem Stella Canaris. Es war ein großes Hotel und vom Eingang, der Empfangslobby, bis zu unserem Zimmer, war es immer ein relativ langer Weg über das gesamte Gelände, im Freien, so groß war es. Da waren diese Treppen, daneben ein schräg fahrender Aufzug und war man oben angekommen, war es immer sehr windig. Dann ging der Weg nach rechts weiter und man schaute dann genau aufs Meer, machte eine Linkskurve und gelangte letztendlich zu den weiteren Gebäuden mit unserem Zimmer. Ich weiß noch ganz genau, wie alles aussieht. Ich habe aus irgendeinem Grund diesen Ort, die Hotelanlage und noch einige andere Orte auf Fuerteventura, tief in meinem Gedächtnis verankert. Vielleicht, weil dies die wenigen Momente waren, in denen ich das Gefühl hatte, in einer richtigen Familie zu leben...

Irgendwann verließ ich das Einkaufszentrum wieder und lief zum Bus. Und so war auch diese Woche vorbei und ich begann es so richtig zu genießen. Neben vielen neuen Eindrücken, meinem Französisch, das langsam sicherer wurde, zeigte sich auch das Wetter mal etwas abwechslungsreicher. Neben dem gewohnten Sonnenschein hatten wir in dieser Woche auch mal heftige Gewitter, sinnflutartigen Regen und viel, viel Wind. Aber genau das half mir, morgens aus dem Bett zu kommen. Denn wenn die Küste jetzt schon mein Gesicht kannte, so wollte ich doch auch so viele wie möglich von ihren Gesichtern kennenlernen, hab ich Recht?

Samstag, 15. November 2008

Tag 22 bis 28, die zweite Woche

Und weiter geht’s. Neue Woche, neues Glück. Zur gewohnten Zeit um halb 10 morgens, ohne Knoppers wohlgemerkt. Aber dafür mit viel Selbstvertrauen und auch etwas Vorfreude. Ich ging zuerst in den Alzheimer-Teil im Pavillon-Süd um dort mit den Bewohnern zu plaudern. Zumindest mit denen, die schon wach waren, beziehungsweise ihr Zimmer verlassen hatten. Ich wartete dann auf Cathy, um mit ihr diverse Aktivitäten durchzuführen. (Mir ist erst beim dritten Korrektur-Lesen aufgefallen, wie versaut das klingt...) Wir bastelten, sangen, tanzten und trainierten durch gezielte Anwendungen das Gedächtnis der Bewohner. Zum Beispiel, in dem man einfach Hauptstädte der EU abfragt. Das fordert die Bewohner ein bisschen, hat aber einen wichtigen Effekt, nämlich den, dass die scheinbar einfachen Gedächtnis-Abrufe auch in Zukunft mehr oder weniger funktionieren.

Auch existiert von jedem Bewohner ein Lebens-Ordner, eine Art Akte, in der Dinge ihres oder seines Lebens drin stehen. Das kann von Berufen bis zu Unfällen oder Namen der Kinder gehen. An einem Tag haben wir mit Hilfe der Akte mit den Bewohnern über ihr bisheriges Leben geredet. Was war früher ihr Beruf, wie heißen ihre Kinder, was war ihr Mann, ihre Frau von Beruf. Durch diese Fragen lernte ich etwas über die Bewohner und den Bewohnern wurde geholfen, nicht auch noch ihre gesamte Existenz zu vergessen. Klingt krass, aber es gibt Momente, in denen einige auf die Frage ihres Nachnamens nicht mehr antworten können. Sie haben es vergessen. Dem wirken wir mit einem kleinen, lockeren Gespräch entgegen. Und die Bewohner reden gerne, erzählen von ihren Kindern, von ihren Berufen und wenn es um diese privaten Sachen geht, dann wissen sie doch relativ viel, verglichen mit Sachen, die sie zwar nicht direkt betreffen, von gesunden Menschen aber Allgemeinwissen genannt werden. Den aktuellen französischen Präsidenten kennt hier niemand, da sich keiner den Namen merken kann. Zumindest nicht länger als eine Minute. Trotzdem gibt es aber Momente, in denen einzelne Bewohner ihre hellen Seiten haben und sich an deutlich mehr erinnern, als sonst. Und sei es nur, dass das Essen von gestern nicht gut war. Aber es ist ein Erfolg, über den sich alle Mitarbeiter hier immer freuen.

Neben Cathy und Emanuelle, den Animatrice, arbeiten im pavillon sud, so die französische Schreibweise, auch die sogenannten aide-soignante. Das sind Krankenpfleger/innen, die aber nicht befugt sind, medizinische Dinge durchzuführen, da sie dazu nicht ausgebildet sind. Die täglichen Medikamente werden von den infirmières, den ausgebildeten Krankenschwestern verabreicht. Diese arbeiten aber ausschließlich in den anderen Gebäuden und kommen nur, wenn es nötig ist. Also zur Medikamenten-Verabreichung und zum Zuckerspiegel messen. Monsieur O. hat nämlich Diabetes. Dazu bekommt er von den Krankenschwestern jeden Tag den gewohnten Pieks in den Finger, um durch das Blut den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Die aide-soignante sind dazu da, die Bewohner den ganzen Tag über zu begleiten und zu überwachen, wie es ihnen geht. Sie wecken die Bewohner morgens und helfen den männlichen Bewohnern, die weitaus mehr abhängig sind, sich zu waschen und anzuziehen. Eigentlich können die Männer hier das überhaupt nicht mehr, sie werden also komplett gewaschen und angezogen. Dass machen die Krankenschwestern nicht, sondern nur die aide-soignante. Jetzt werdet ihr euch fragen, warum gerade im Alzheimer-Teil keine Krankenschwestern dauerhaft arbeiten. Ganz einfach, denn körperlich sind die Bewohner hier noch am fittesten und brauchen daher keine dauerhafte medizinische Versorgung. Der Fokus liegt hier auf dem Training des Gedächtnisses. Das machen die Animatrice und die aide-soignante helfen dabei. Die Bewohner der anderen Gebäude sind ungleich mehr auf medizinische Versorgung angewiesen, weswegen die Krankenschwestern dort „stationiert“ sind.

Das Team der Krankenpflegerinnen besteht hier aus 4 Frauen. Eine davon kenne ich ja schon, nämlich die junge Französin, die unter mir wohnt, das Frauchen von Elliot. Sie heißt Julie. Die Namen der anderen habe ich wieder vergessen. Welch Ironie. Aber mit Namen habe ich es wirklich nicht so, wenn sie mir beim Vorstellen dutzendfach um die Ohren geworfen werden. Und ich komme mir immer so doof vor, nach mehreren Tagen noch mal nachzufragen. Ich warte daher einfach, bis die Namen fallen und irgendwann kenne ich sie dann auch. Tolle Methode, oder?

Insgesamt lernte ich in dieser Woche die Alzheimer-Patienten etwas genauer kennen. Und jeder hat seine eigene, oft lustige Art. Da wäre zum Beispiel Madame D. Sie ist immer gut gelaunt und ihre Laune lässt sich durch scheinbar nichts trüben. Ich mag sie, denn ihre Art steckt an. Ziehen andere eine dunkle Mine, ist es Madame D., die durch einen flapsigen Spruch und mit der selben charmanten Art die Stimmung hebt. Manchmal nervt sie aber auch, denn sie trällert dauernd den Refrain von einem Lied, das irgendwie nur sie kennt. In der Colline gibt es ungefähr ein halbes Dutzend Lieder, die wirklich jeder kennt, sowohl Mitarbeiter als auch Bewohner. Ich ausgenommen, aber das kommt noch. Es sind natürlich sehr alte Lieder, aber das Lied von Madame D. kennt keiner. Aber inzwischen kann jeder den Text auswendig, da sie es in ihren Phasen echt alle 2 Minuten singt beziehungsweise vorschlägt, wenn gerade als Aktivität Singen an der Reihe ist. Ich kann es inzwischen nicht mehr hören. Aber sie kann nichts dafür, da sie schließlich dauernd vergisst, dass es keine 3 Minuten her ist, als sie es zum letzten Mal trällerte.

Singen funktioniert aber generell sehr gut hier, die Parolen weigern sich scheinbar erfolgreich, vergessen zu werden und auch wenn viele die Anfänge der Lieder nicht sofort kennen, kommt nach wenigen Sekunden der Melodie die Erinnerung und alle können perfekt mitsingen. Und Madame D. singt immer sehr gestenreich und extrovertiert. Es macht irgendwie Spaß, ihr zuzusehen. Sie ist generell sehr extrovertiert, sagt gerne was sie denkt. Meistens aber, wie lieb wir alle sind, was für wunderschöne Augen ich habe und ob ich meinen Eltern schon danke dafür gesagt hätte. Die Krankheit scheint da immer in Schüben zu kommen, da das wiederholende Fragen von gewissen Dingen abrupt beginnt und aufhört. Ganz extrem ist das bei Madame Sch. Ebenfalls eine sehr liebenswerte Person, die aber ab und zu ihre Phasen hat, wo sie eine halbe Stunde lang fragt, ob ich Deutscher sei und wie alt ich sei. Wenn ich dann sage, dass ich 20 sei, sagt sie ab und zu: „ 20 Jahre und noch alle Zähne?“ Und grinst dabei. Ungewollt nimmt man sich und die Krankheit hier ab und zu gehörig aufs Korn. Hat aber was sympathisches. Besser, als sich dauernd zu bemitleiden.

Madame Sch. spricht einige Brocken Deutsch, da sie im Elsass geboren und aufgewachsen ist. Brocken heißt in dem Fall nur einzelne Wörter. Dann fragt sie wieder eine Stunde lang, ob pain auf Deutsch auch wirklich Brot heißt und erklärt allen, was je t’aime auf Deutsch heißt. Und eines Tages hat da Madame D. den Vogel abgeschossen, als sie wie immer grinsend sagte, dass ihr einziger deutscher Satz „Heil Hitler“ sei. Darauf antwortete Cathy nur mit einem augenrollenden „Merci beaucoup Madame D.“. Ich sagte nichts, aber innerlich wäre ich vor Lachen fast vom Stuhl gefallen. Nicht, weil ich den Satz toll finde, sondern wegen der unnachahmlichen Art, wie Madame D. selbst so einen schrecklichen und negativ behafteten Satz ganz harmlos erscheinen lässt. Als sei es eine Lappalie. Und sie hat diesen Satz auch nicht böse gemeint oder ihn an meine Adresse gerichtet. Es war lediglich ihr Beitrag zur Konversation. Aber jeder geht damit anders um und ich fand das gar nicht so schlimm. Es ist schließlich passiert und die Generation, mit der ich es hier zu tun habe, hat es noch miterlebt, da wundert es mich eigentlich weniger. Und ich als Deutscher, der als Freiwilliger nach Frankreich kommt, freue mich, dass mir keine Ablehnung entgegen gebracht wird und ich selbst nach so einem Satz aus dem Mund einer Französin in keinster Weise das Gefühl habe, ich hätte mich für die schrecklichen Dinge meiner Landsleute vor vielen Jahrzehnten zu rechtfertigen. Nein, man nimmt kein Blatt vor den Mund, aber wir leben heute in einem vereinigten Europa und als Europäer werde ich hier auch wahrgenommen und akzeptiert. Daher nahm ich diesen Satz nicht als grenzüberschreitend oder angreifend war. Wenn das also ihr einziger Satz ist, den sie auf Deutsch kennt, dann nur raus damit, es ist kein Tabuthema mehr. Wir haben dazu gelernt und sind heute Freunde und treue Nachbarn. Ein bisschen Zynismus schadet da sicher nicht. Das sollte aber nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Madame D. rethorisch wie der Elefant im Porzellan-Laden wütete.

Mir wurde in dieser Woche auf jeden Fall auch erstmals klar, wie anstrengend die Arbeit mit den Alzheimer-Patienten sein kann. Die Phasen, in den man stundenlang mit den gleichen Fragen gelöchert wird, sind eine echte Geduldsprobe für mich. Aber man merkt langsam, dass die zeitlichen Abstände zwischen den Fragen größer werden. Nach fast zwei Wochen bin ich vielleicht selbst den Alzheimer-Patienten nicht mehr ganz fremd, sodass ich im Unterbewusstsein inzwischen bekannt bin und daher nicht mehr so viele Fragen gestellt werden müssen.

Neben der Arbeit im pavillon sud arbeitete ich auch viel mit Sylvie zusammen. Sie ist eine sehr angenehme Persönlichkeit. Zwar immer im Dauerstress und immer von A nach B hetzend, aber man gewöhnt sich dran. Auch, dass es immer mehr zu tun gibt, als Zeit vorhanden ist. Aber deswegen helfe ich ihr ja. Diese Woche war unsere Hauptaufgabe, die Colline für ein bevorstehendes Fest herzurichten. Am 30. September beginnt nach dem jüdischen Kalender nämlich das neue Jahr. Das Jahr 5768 geht zu Ende und das Jahr 5769 beginnt. Hier sieht man gut, wie alt das Judentum schon ist. Sylvie und ich waren also damit beschäftigt, die Räumlichkeiten zu dekorieren. Wir brachten von Bewohnern angefertigte Zeichnungen an den Wänden an und in jedem Essenssaal der unterschiedlichen Gebäude klebte ich mit einzelnen Buchstaben den Schriftzug Roch Hachana an die Fensterfronten, sodass es für jeden gut sichtbar sein würde. Insgesamt dauert es so seine Zeit, alle 4 Teile der Colline zu dekorieren, also pavillon sud, batiment nord, das centre und pavillon la colline. Letztgenanntes heißt übrigens so, weil es der älteste Teil des Altersheimes ist. Der pavillon sud wurde erst letztes Jahr eröffnet und ist damit der neueste Teil. Eine Etage über den Räumlichkeiten der Alzheimer-Patienten befindet sich auch die Synagoge. Schließlich sind fast alle Bewohner hier Juden, auch wenn man es ihnen im Alltag nicht anmerkt, dass sie eine gläubige Ader haben. Ich für meinen Teil empfinde das Judentum als sehr angenehm. Aber leider waren in der Vergangenheit nicht immer alle der selben Ansicht... Ach ja, am Montag bin ich herzlich um 19 Uhr zum traditionellen, gemeinsamen Essen mit allen Bewohnern und Teilen der Angestellten eingeladen. Ein Stell-dich-ein aufs neue Jahr.

Neben dem Dekorieren für das bevorstehende Fest half ich Sylvie auch bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Aktivitäten, die meist im pavillon nord stattfanden. Ich hatte ja schon mal erwähnt, dass diese dann in ihrem salle d’animation stattfinden. Auf dem Plan steht dann zum Beispiel painture, also Zeichnen und Malen. Einige Bewohner sind richtige Künstler und Sylvie nutzt das immer, deren Werke in der gesamten Colline auszustellen. Das freut einerseits die, die ihre Werke an den Wänden wiederfinden, andererseits macht es für uns die Dekoration deutlich einfacher, da wir nicht lange nach schönen Dingen suchen müssen. Dann gibt es dann noch das Lotto, ein echter Renner hier. Einmal in der Woche macht Sylvie das, allerdings nicht in ihrem kleinen Raum, sondern im großen Essensaal eine Etage darüber. Es wollen einfach zu viele mitmachen, als dass man sie im salle d’animation unterbringen könnte. Lotto sieht hier folgender Maßen aus. Es gibt Pappkartons, auf denen 15 Nummern von 1 bis 90 stehen. Jeder wählt vor Spielbeginn einen Karton aus. Gleichzeitig bekommt jeder 15 Spielplättchen. Dann ist es Sylvie, die mit ihrer Maschine, die wirklich fast wie die aus dem Fernsehen aussieht, nur etwas kleiner ist, die Kugeln mit den Nummern zieht. Logischer Weise stehen auch auf den Kugeln die Nummern 1 bis 90. Hat ein Spieler die gezogene Nummer auf seinem Karton, packt er ein Plättchen darauf. Der erste, der den Karton voll hat, hat gewonnen. Zu gewinnen gibt es zwar keine Millionen, aber Kleinigkeiten, über die sich die Bewohner immer freuen. Sylvie kauft sie immer in irgendwelchen Ramsch-Läden. Das können Ketten sein, verzierte Dosen, oder einfach kleine Statuen. Nichts wertvolles oder teures, aber darum geht es ja schließlich in unserer Lotto-Version nicht. Die soll lediglich amüsieren und das tut sie. Es ist mit Abstand die populärste Aktivität hier. Sie hat auch den Vorteil, dass sie von fast jedem ohne Hilfe mitgemacht werden kann. Schließlich muss man nur zuhören und schauen, ob die aktuelle Nummer auf dem eigenen Karton vorhanden ist. Ich helfe denen, die es nicht ohne Hilfe schaffen, weil sie entweder schlecht hören oder sehen. Ist aber ganz schön schwer für mich, da ich noch nicht so fit bin, was französische Zahlen angeht. Zum Lernen kommt mir das aber ganz gelegen.

Zwei weitere Aktivitäten sind die revue de presse und incroyable mais vrai. In der revue de presse erzählt Sylvie in kleiner Runde einfach, was der nice matin, so die größte Tageszeitung Nizzas, in der letzten Ausgabe berichtete. So bleiben die Bewohner wenigstens etwas auf dem neuesten Stand der Dinge, was in der Welt alles geschieht. Die wenigsten hier lesen nämlich Zeitung und sind daher nicht oder kaum informiert. Incroyable mais vrai behandelt Themen, die, wie der Name schon sagt, unglaublich aber wahr sind. Sylvie kramt im Web dann immer nach skurrilen Dingen, wie zum Beispiel japanischen Robotern, die lernfähig sind. Diese Dinge präsentiert sie dann den ausgewählten Bewohnern, die von den verrückten Dingen jedes Mal höchst amüsiert sind. Diese ganzen Dinge, die Animationen, tragen dazu bei, dass der sonst etwas langweilige Alltag der Bewohner etwas aufgepeppt wird. Und es macht Spaß. Bis jetzt war mein Alltag aber eher ungeplant und ich half da, wo man mich brauchte.

Am Donnerstag kam dann eine Nachricht, die alle in der Colline in positive Spannung versetzte. Schon morgen sollten wir hohen Besuch bekommen. Für den späten Nachmittag kündigte sich Bernadette Chirac an. Sie ist stark im charitativen Bereich aktiv und so wie ich das beim Zuhören mitbekommen habe auch Vorsitzende einer Einrichtung, die sich um das Wohl alter Leute kümmert. Grund genug also, unsere Einrichtung zu besuchen. Am nächsten Tag war die Aufregung deutlich zu spüren. Als würde ein Rockstar kommen. Nicht ganz, aber eine interessante und berühmte Persönlichkeit auf jeden Fall. Ich verbrachte den Tag im Alzheimer-Teil. Mit Cathy. Wir malten und anschließend, nach dem frühen Nachmittags-Snack, wurde Musik gemacht. Der Nachmittags-Snack wird jeden Tag um 15:30 Uhr serviert und besteht meistens aus kleinen Schokowaffeln, von denen jeder 4 Stück bekommt. Ab und zu gibt es auch Kuchen. Dazu wird Cola, Limonade oder auch mal Kaffee getrunken. Madame D. ist immer ganz verrückt nach den kleinen Waffeln, gofrettes genannt. Sie will immer die erste sein, die bedient wird und oft muss sie zurecht gewiesen werden, zu warten wie die anderen auch. Auch will sie immer mehr als die anderen, aber das machen wir aus Prinzip nicht, da jeder gleich behandelt werden soll verständlicher Weise.

Nach dem goutter, so der französische Begriff für den kleinen Snack, sangen wir also und spielten dabei so gut wie möglich mit unseren Instrumenten. Das sind eigentlich nur Rasseln und Trommeln und so wirklich musikalisch klingt es selten, wenn jeder auf den Takt pfeift und mit der Rassel rasselt wie er will, sozusagen. Anstatt Musik machen wir dann eigentlich nur Krach, aber das singen klappt da zum Glück besser. Mitten im Krach machen kam dann Julie rein und teilte uns mit, dass Madame Chirac bereits da war und auf dem Weg hierher sei. Ich war richtig aufgeregt. Kam mir dabei irgendwie selber etwas albern vor, wie einer der durchgeknallten Teenager auf Tokio Hotel-Konzerten oder so. Auf jeden Fall erreichte uns dann die Truppe um Madame Chirac, begleitet vom Direktor der Colline, Monsieur Perez, vermutlich einigen Bodyguards und anderen Verantwortlichen der Colline. In einem Kreis stellten sich alle um unseren Tisch auf, an dem wir grölten und rasselten. Auf einmal winkte mich Madame Roche zu ihr und ich stand vorsichtig und bemüht unauffällig auf. Madame Chirac war leider ohne ihren Mann Jacques gekommen. Insgeheim hatte ich ja gehofft, er würde auch kommen, aber er ist sicher auch sehr beschäftigt. Ex-Präsident heißt ja nicht, dass man nix mehr zu tun hat. Schaut euch nur mal unseren Gerhard an, der hat sich gleich nach Ende seiner Amtszeit von der russischen Öl-Mafia um Gazprom kaufen lassen. War aber auch ohne Herrn Chirac genug los hier. Während die einen sangen oder so ähnlich, unterhielt sich Madame Chirac mit unterschiedlichen Leuten, bis sie von Madame Roche unterbrochen wurde. Die hatte echt die Nerven, mich ihr vorzustellen. Na halleluja, was soll ich der denn sagen? Sie gab mir die Hand und Madame Roche erledigte das Reden für mich, sie sagte ja aber auch nur, dass ich Freiwilliger aus Deutschland sei und ein Jahr hier bleiben würde. Madame Chirac lächelte und sagte nur bravo und dass sie es toll fände, wenn junge Leute so was machen würden. Coole Sache. Kaum zwei Wochen hier und schon nem Promi die Hand geschüttelt. Irgendwie war ich ja schon stolz. Die anderen wurden ihr nicht vorgestellt.

Nach wenigen Minuten war das Spektakel wieder vorbei, die Truppe verließ den Alzheimer-Teil und wir machten im Programm weiter. Wir sangen noch etwas, dann war es auch schon 17:30 Uhr und mein Arbeitstag damit zu Ende. Ich verabschiedete mich und ging zur pointeuse im batiment nord.

Als ich wieder am batiment sud und dem Parkplatz vorbeilief, fuhr gerade der Wagen mit Madame Chirac an mir vorbei. Man erkannte sie trotz leicht getönter Scheiben sehr gut, da sie einen grellen, pinken Anorak trug. Und dann war sie auch schon wieder weg. Aber ich hab noch mal einen letzten Blick auf sie erhaschen können.

Ich ging dann weiter, hoch auf mein Zimmer. In die Stadt würde ich heute nicht mehr gehen. Anstatt dessen schrieb ich wieder einiges. Das übliche Programm eben. Auch wenn das Wetter gut war, ich war zu faul, um noch weg zu gehen. Das Wetter änderte sich dann aber schlagartig und gegen 23 Uhr, als ich schon im Bett lag, begann es zu gewittern.

Und wie. Ich nutzte die gute Lage meines Zimmers, um die zahlreichen Blitze zu fotografieren und das Ergebnis kann sich auf jeden Fall sehen lassen. Ich stand also etwa eine halbe Stunde am offenen Fenster und beobachtete und knipste die vielen Blitze, die das Meer und die Küste erhellten. Irgendwann war es dann aber auch wieder vorbei und ich ging zurück ins Bett.

Das Wochenende verlief wie das vorherige. Surfen bei McDonalds und spazieren am Meer entlang. Sich langsam mit der Gegend vertraut machen. Ankommen, wie meine Mutter sagen würde. Ich kam jetzt zwar schon seit zwei Wochen an, aber ich verspürte nicht den Drang, groß was zu unternehmen oder gezielt Leute kennen zulernen. Das war nämlich die häufigste Frage, die mir per MSN oder sonst wo gestellt wurde. Ob ich denn schon Leute kennen gelernt hätte. Nein, außer die Leute der Colline niemanden bisher, aber ist auch nicht schlimm. Ich werde 52 Wochen hier verbringen, warum sollte ich mich da hetzen, unbedingt Leute kennen lernen zu wollen, wie es immer alle erwarten... Ich gehöre nicht zu der Sorte unausgeglichener Menschen, die denken, was zu verpassen, wenn sie unaktiv sind. Ich brauch eben bei allen Dingen immer etwas länger als andere, ich bin gemütlich und mach mir keinen Stress. Ich werde sicher noch früh genug unter Menschen kommen in meiner freien Zeit, da mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Zuerst schaue ich mir alles in Ruhe an, die französische Lebensart, die Eigenarten der Franzosen und gewisse Kleinigkeiten, die anderen so vielleicht nicht auffallen, weil sie nur am Kennenlernen sind. Und Dinge, die mir aufgefallen sind, gibt es einige. Eine der lustigsten Dinge haben wir der Polizei zu verdanken. Es ist mir rein zufällig beim Vorbeigehen an einer Polizei-Wache aufgefallen, die nur wenige Meter neben McDonalds auf dem Weg zum Bus liegt. Vor der Wache befinden sich Ständer für Fahrräder und Roller. Und als aus der Wache zwei Polizisten kamen und auf zwei identische Roller stiegen, auf denen groß das Wort POLICE steht, traute ich meinen Augen nicht. Die haben hier ohne Scheiß Polizei-Mofas. Wie angsteinflößend und antiautoritär ist das denn? Wen wollen die denn damit im Notfall verfolgen? Elektromobile von Senioren, die auf 25 km/h begrenzt sind? Ohne Worte. Ich musste mir ein Grinsen echt verkneifen, als ich da an der Wache vorbei lief. Das hatte ich echt noch nicht erlebt. Ob man damit auf den Straßen für mehr Ordnung sorgen kann?

Von den chaotischen Szenen auf den Straßen habe ich ja schon erzählt, aber inzwischen weiß ich, dass die hier alle total geistesgestört sind, so wie die fahren. Echt unbeschreiblich. Die Rollerfahrer sind die Krönung. Für die scheint es keine Regeln zu geben. Die fahren, wie sie wollen. Dagegen waren die chronisch zu schnellen italienischen Mofa-Kollonen aus Florenz gar nix und die waren schon echt heftig. Der absolute Gipfel jeglicher Hirnlosigkeit ist hier in Nizza der Pizza-Lieferant. Natürlich auf nem Mofa. Damit die Pizza nicht kalt wird, wird eine rote Ampel wie eine grüne behandelt, der Bürgersteig zur Autobahn gemacht und auch sonst alle Regeln im Straßenverkehr gebrochen. Wenn ich von weitem so eine wildgewordene Pizza auf Rädern sehe, bin ich immer in erhöhter Alarmbereitschaft. Ihr denkt, ich übertreibe? Würde ich auch denken, aber das muss man gesehen haben, um es zu glauben. Die sind echt jenseits von gut und böse. Aber auch die Autofahrer haben ein Ei am wandern. Ich bin Verkehr in der Großstadt ja nun schließlich gewöhnt, aber das hier toppt alles.

Auch die Busfahrer fahren etwas rasanter, als die Kollegen der BVG. Oft sehr ruckartig und daher nicht unbedingt angenehm. Ich habe zwar schon über die Busse hier geschimpft, aber hilft ja alles nix, was raus muss, muss raus. Eines Abends hat ein Busfahrer unseren 22er die Berge hochgejagt, dass sogar ich dachte, er hätte 10 Sekunden Rückstatt auf Michael Schuhmacher. Der Bus war fast leer und ich genoss auf dem vordersten Sitz die schnellste Fahrt von der Innenstadt zur Colline aller Zeiten. Was normaler Weise um die 20 Minuten und länger dauern kann, je nach Tageszeit, schaffte unser Rennfahrer in 8.

Ab und zu erlebt man in den Bussen aber auch lustige Geschichten. Zumindest ich schmunzele dann und hoffe, dass ich den Moment nicht vergesse, bis ich wieder einmal vor Word sitze. Da der 22er ja an der Uni und auch an den Studentenwohnheimen vorbeifährt, ist der Bus dementsprechend besetzt. Eines Abends war der mal wieder bis unters Dach gefüllt, inklusive zwei jungen Studentinnen aus Korea oder Japan, voll bepackt mit Lebensmitteltüten. Und irgendwie, desto länger ich zuschaute, bekam ich das Gefühl, dass es das erste Mal sein musste, dass die beiden Bus fahren. Die ganze Fahrt über haben sie nicht verstanden, dass sich Festhalten eine auf jeden Fall gute Option in den Bussen hier ist. Eben wegen der Fahrweise der Busfahrer. Anstatt dessen wurde mit den Händen lieber der Einkauf in den Tüten beschützt, auch wenn die beiden bei jeder Bremsung erschrocken aufschrieen und sich vergeblich probierten, in letzter Sekunde doch noch irgendwo festzuhalten. Nach jeder Bremsung landeten sie daher an irgendwelchen Ellbögen und Brustkörben von anderen Leuten. So voll, wie der Bus war, konnte zum Glück nicht mehr passieren, die umstehenden Passagiere verhindern ein Hinfallen ja zwangsweise. Das sind auf jeden Fall Momente, in denen man überlegt, ob gewisse Klischees nicht doch zutreffen. Quietschende, unbeholfene Asiatinnen. Ich fands amüsant und die anderen auch, das ein oder andere Grinsen habe ich entdeckt und insgeheim wartete wohl nicht nur ich auf die nächste Bremsung. So ein bisschen wie diese bekloppte Serie, die früher auf DSF und jetzt auf RTL 2 läuft. Taikeshis Castle oder wie die heißt. Zum brüllen, wie sich einige Leute im Fernsehen freiwillig zum Horst machen. Nun, das hier war life. Wie auch immer, an der Uni und den Wohnheimen der Studis stiegen die beiden dann sichtlich erleichtert aus. Ist schon ne Tortour, so ein europäischer Bus, nicht wahr? Wie kann man das freiwillig jeden Tag machen? Na ja, man hält sich in erster Linie gut fest, dann passiert auch nix. Aber psssst, nicht weitersagen.

Aber auch beim Warten auf den Bus hat man selten Langeweile. Und desto öfter ich an irgendwelchen Haltestellen wartete, desto klarer wurde mir, dass ich bei weitem nicht der einzige war, der die Fahrpläne nicht kapierte. Oder anders ausgedrückt: Die, die die Pläne vielleicht verstehen, haben kein Vertrauen darin, dass der Bus pünktlich und zuverlässig kommt. Denn jedes Mal werde ich an der Haltestelle von anderen Passanten gefragt, ob der letzte 22er schon gekommen sei. Von Einheimischen teilweise auch. Gott sei dank, ich bin nicht der einzige ohne Plan. Man wartet dann gemeinsam oder hört einfach den Gesprächen der anderen zu. Da war zum Beispiel eine Gruppe italienischer Touristen, eine Familie vermutlich, die sich die ganze Zeit mit dem Wort Bonjour beömmelten. Es ging wohl irgendwie darum, dass jemand das Wort komisch ausgesprochen hatte und jetzt hörte man nur noch Jou-Jou und nicht endendes Gelächter. Jou-Jou von Bonjour versteht sich. Auf jeden Fall unterhielt diese Truppe die ganze Haltestelle.

Und dann ist da noch die Frau mit ihrem Hund, die ich jetzt schon öfter hier getroffen habe. Wenn man immer den gleichen Bus um die selbe Zeit nimmt, kennt man irgendwann einige Leute, die ebenso immer um die Zeit nach Hause wollen. Diese Frau auch. Ihr Hund ist schwarz, keine Ahnung welche Rasse, aber ein schöner Hund. Eine Hündin, wie ich inzwischen weiß. Jedes Mal erzählt die Dame mir, wie gerne sie Bus fährt. Sie ist etwas sonderlich. Sie redet auch im Bus, wenn keiner zuhört. Aber ihre Hündin fährt wirklich gerne Bus. Ab und zu reist sie sich schon los, wenn der Bus anhält, springt rein und wartet dann auf ihrem Standart-Platz auf Frauchen. Echt drollig zu beobachten. Aber auch so kommt man hier erstaunlich schnell mit anderen Leuten ins Gespräch. Ich hab schon Gespräche mit nem Tunesier geführt und mit einer Schweizerin. Sie hat mich erst auf Französisch angesprochen, weil sie auf meiner Laptop-Tasche sah, dass dort Montreux 2000 steht. Scheint ne Stadt in der Schweiz zu sein. Sie fragte dann, ob ich Schweizer sei und als ich erklärte, dass ich aus Berlin sei, redeten wir auf Deutsch weiter. Sie hörte sehr interessiert zu, dass ich Zivildienstleistender hier sei. Sie wusste nicht, dass das möglich sei. Dann fügte sie hinzu, dass für Schweizer diese ganzen Dinge eh nicht so einfach seien, da man ja nicht in der EU sei. Ich zitiere sie mal „Wir sind die einzigen Weißen, die in Berlin-Tegel durch den Zoll müssen.“ Arme Schweiz dachte ich nur grinsend. Sie war hier, um ein Diplom in Französisch zu machen, Fachrichtung Computersprache. Sie sei Lehrerin, spreche schon fast fließend Französisch, nur die ganzen neuen Begriffe aus der PC-Welt kenne sie nicht, daher belege sie einen Kurs an der Uni hier. Es war ein nettes Gespräch. Und zugleich das erste Mal, dass ich hier richtig Deutsch sprach. Wie sich Dinge doch ändern können.

Die ersten zwei Wochen in Nizza gingen erstaunlich schnell rum. Und es gab gewisse Dinge, die schon jetzt zur Gewohnheit wurden. Wenn ich morgens das Haus verließ und die Treppen hinab lief, blickte ich immer einen Moment aufs Meer hinaus. Denn es sah jeden Morgen anders aus, immer leuchtete es in unterschiedlichen Farben. Mal dunkelblau, mal schwarz, mal türkis. Mal war es ruhig und ein anderes Mal total aufgewühlt, weil es windig war. Ich liebe diesen Blick auf das Meer. Man überblickt alles und immer scheint es einen zu begrüßen, mit weit ausgebreiteten Armen, immer strahlend und man wusste genau, dass es auch morgen da sein würde. Und abends freute ich mich schon beim Aussteigen aus dem Bus auf das aufgewühlte etwas namens Elliot, das mich wieder begrüßen würde. Inzwischen kannte er mich gut und kläffte nur noch fröhlich, nicht mehr ängstlich wie am Anfang. Und ich hatte echt das Gefühl, als würde er auf mich warten. Ich kam ja meistens zur gleichen Zeit. Und wenn sonst keiner da war, der ihn kurz kraulte, dann lohnte es sich doch, auf mich zu warten, oder? Ach ja, da ist noch diese eine Laterne gegenüber der Haltestelle der Colline stadteinwärts. Immer, wenn ich mit dem Bus ankomme und eine Station laufen muss, weil er abends schon am Krankenhaus endet, dann komme ich an dieser einen Laterne vorbei. Und immer, wenn ich unter ihr vorbei laufe, geht sie aus. Wenn ich dann wenige Meter weiter gelaufen bin, geht sie wieder an. Sie hat einen Wackelkontakt, aber warum immer dann, wenn ich an ihr vorbei laufe? Strahle ich irgendwelche magnetischen Impulse ab, oder was? Ich hab auch schon mal probiert, einfach stehen zu bleiben. Sie blieb aus. Aber kaum bin ich zwei Schritte weiter gelaufen, ging sie wieder an. Ich habe mich dann zu ihr umgedreht und sie angeschaut, als wolle ich fragen, ob sie mich verarschen wolle. Keine Antwort. Komisches Gerät. Da stellt sich schon mal leichte Paranoia ein. Schon von weitem lugt man dann zu ihr hoch. Verfolgt von ner Laterne. Alles klar, Simon, war ein langer Tag und eine anstrengende Woche. Geh jetzt schlafen.