Mittwoch, 26. November 2008

Tag 29 bis 35, Woche 3

Shana Tova. Frohes neues Jahr euch allen. Ja, ich denke jetzt ein bisschen jüdisch und daher beginnt diese Woche das neue Jahr 5769. Und um euch aufzuklären, was die Begriffe Rosh Hashanah und Shana Tova bedeuten, ist es wohl die beste Eselsbrücke, wenn man sich merkt, dass ihre Bedeutungen in etwa den deutschen Begriffen Silvester und Frohes neues Jahr! entsprechen. Wobei Rosh Hashanah der Name des Festes und Shana Tova der Ausruf ist. Ich finde es total interessant, etwas über die jüdische Religion zu lernen.

Abgesehen von den heftigen Gewittern der letzten Woche war das Wetter auch so etwas ungemütlicher geworden. In der Nacht auf Montag hatte es sinnflutartig geschüttet, aber am Montag selber war das Wetter wieder so, wie man es gerne hat. Angenehm warm. Der Arbeitstag war nicht unbedingt außergewöhnlich. Ich verbrachte ihn mal hier, mal dort. So einen richtigen Arbeitsplan gab es ja noch nicht, hatte ich den Eindruck. Einsatz nach Bedarf. War mir für den Anfang auch lieber, so konnte ich alles viel genauer und ruhiger kennenlernen. Und so langsam kam auch etwas Vertrautheit in die ganze Angelegenheit. Ich kannte inzwischen deutlich mehr Namen und auch die morgendliche Runde dauerte nun länger als sonst. Man kannte mich jetzt und viele Bewohner begrüßten mich, was nicht selten in einem kleinen Gespräch endet. Und erkundigt man sich nur nach dem Befinden der Person, es freut sie immer. Und mich macht es happy, dass man sich freut, mich zu sehen. Das Verhältnis mit den Kolleginnen und Kollegen entwickelte sich auch richtig klasse. Ich habe das Gefühl, in eine große Familie geraten zu sein. Unpersönliches und distanziertes Verhalten kennt man hier kaum. Ist eben Frankreich und nicht Deutschland. Zwischenmenschliche Sachen laufen hier einfach anders ab. Find ich super, denn das gehört zu den Dingen, die mich an meinem eigenen Volk ankotzen. Diese Kälte zwischen den Menschen. Auf Leute zu gehen oder ihnen ein Lächeln schenken, wenn man sich kaum kennt ist nicht selbstverständlich. Natürlich gibt es auch andere Leute, aber es ist eben doch anders, als in Frankreich. Muss man selber erlebt haben, um zu begreifen, was ich meine.

Irgendwann in der Woche kam dann doch Madame Roche zu mir, um mir meinen festgelegten Arbeitsplan mitzuteilen. Da ich mich inzwischen gut eingelebt hatte, kann es nun auch gerne so richtig nach Plan losgehen. Die Arbeitszeiten bleiben die gleichen, die eine Stunde Pause natürlich auch. Eine meiner neuen Tätigkeiten soll ab jetzt das tägliche Wechseln des aktuellen Datums sein. In jedem der 4 Teile der Colline gibt es jeweils einen Ort, an dem das aktuelle Datum markiert ist. Das sind schlicht und einfach die Zahlen von 1 bis 31, die 7 Wochentage und die 12 Monate auf Din A4-Blätter gedruckt. Die wurden von Sylvie plastifiziert, damit sie länger halten. Die plastifizierten Nummern, Tage und Monate wurden dann ausgeschnitten und so existiert von jedem Tag, jeder Nummer und jedem Monat ein Plastikschildchen, alles mal 4 natürlich. Nein, mal 3, denn im batiment la colline gibt es einfach nur 3 Plastikhüllen, in denen die ganzen Blätter mit den jeweiligen Daten stecken. Nicht ausgeschnitten. Diese durchsichtigen Hüllen sind nebeneinander auf ein großes Pappschild gesteckt, sodass jeder gut die vordersten Blätter mit dem aktuellen Datum sehen kann. In den anderen Gebäuden werden die kleinen Plastikschildchen entweder an die zentrale Pinnwand gesteckt, oder wie im batiment sud, dem Alzheimer-Teil, einfach zwischen Rahmen und Fenster des Schwesternzimmers geklemmt. Lange Rede, kurzer Sinn, ab sofort bin ich dafür zuständig, dass diese Daten zuverlässig jeden Tag gewechselt werden. Ausgenommen am Wochenende, denn da arbeite ich ja nicht. Klingt nach einer nebensächlichen Arbeit, aber psychologisch betrachtet ist es durchaus wichtig. Man gibt den Bewohnern damit ein Zeitgefühl, eine Orientierung. Denn viele von ihnen haben kein Zeitgefühl mehr, sind im Kopf im Jahr 1974 und leben generell ohne Sinn für Monate und Jahre. Mit dem täglichen Wechseln des Datums wird den Bewohnern ein Teil ihrer Existenz wiedergegeben, ihnen die Möglichkeit gegeben, ihr eigenes Leben in eine Zeitspanne einzuordnen. Ohne ein Anhaltspunkt, das Datum, wäre das den Meisten wohl nicht möglich.

Der Wochentag geht also damit los, dass ich noch vor dem Anmelden an dem elektronischen Kartenlesegerät, der pointeuse im batiment nord, die zwei dort zu wechselnden Daten vom Brett nehme, damit in den Alzheimer-Teil zum Schwesternzimmer gehe, nachdem ich an der pointeuse war nicht zu vergessen, und dort die neuen Schildchen aus den Hüllen hole, in denen sie aufbewahrt werden. Diese sind nur deswegen im batiment sud, weil es im batiment nord keinen passenden Ort gibt, an dem man sie sicher verstauen könnte. Vorher waren sie im salle d’animation, aber da Sylvie meistens erst um 10 anfängt und Donnerstags gar nicht arbeitet, fand ich es praktischer, sie im Alzheimer-Teil aufzubewahren. Nachdem ich also das Datum vom Alzheimer-Teil gewechselt habe und die neuen Schildchen für des batiment nord rausgesucht und die alten wieder verstaut habe, gehe ich mit den neuen Daten zurück zum batiment nord. Unterwegs durchquere ich das batiment la colline, wechsele dort ebenso das Datum und gehe dann weiter zum batiment nord um dort das neue Datum an die Pinnwand zu stecken. Wo ich danach hingehe, hängt dann vom jeweiligen Wochentag ab.

Montag morgens hat Madame Roche das atelier informatique vorgesehen, in dem ich mit einem ehrenamtlichen Mitarbeiter und zwei oder drei Bewohnern etwas am Computer arbeiten soll. Von denen hatte ich ja schon berichtet. Nicht unbedingt auf dem neuesten Stand. Aber für hier sollte es noch reichen. An diesem Montag war besagter Monsieur Informatique aber nicht da und so ging ich ins centre, wechselte dort das Datum und entschloss mich, Cathy, die gerade eingetroffen war, bei der Durchführung der Animation zu helfen. Sie hatte von Madame Roche auch einen neuen Plan bekommen und der beinhaltete für sie jeden Morgen von 10 bis zum Mittagessen um 12 eine Animation im centre, zusammen mit mir. Ausgenommen Montags und Mittwochs. Montag früh hab ich ja schließlich den Informatik-Kurs und Mittwochs arbeitet Cathy nicht. Aber heute half ich ihr, da ich sonst nichts zu tun hätte. Sie freute sich, denn sowohl für mich als auch für sie war es das erste Mal, dass wir im centre arbeiten sollten. Wirklich freuten wir uns aber nicht darüber. Im centre wohnen, wie schon mal erzählt, die ganz schlimm betroffenen und pflegebedürftigen Bewohner und wenn man aus dem Fahrstuhl steigt, (der Eingang zum centre liegt eine Etage unter dem Essens- und Aufenthaltsraum, wo die Animationen stattfinden) kommt einem oft ein bissiger Geruch von Urin und Medikamenten entgegen. Angenehm ist es also nicht.

Wir verbrachten die Zeit also damit, uns erst mal ein bisschen mit den Bewohnern vertraut zu machen und in Erfahrung zu bringen, wer überhaupt in der Lage ist, wenigstens ein Bisschen an den Animationen teilzunehmen. Wenn man sich die Bewohner aber mal ansieht, dann kommen doch gewisse Zweifel auf, dass diese zu überhaupt was fähig sind, so traurig das ist. Viele liegen in rollbaren, gepolsterten Schalen und geben keine Regung von sich. Die meiste Zeit verbringen sie schlafend. Die meisten Bewohner sitzen eh im Rollstuhl. Und nicht wenige davon sind festgeschnallt, damit nichts passiert. Aus eigener Kraft können sie sich weder bewegen, noch wieder aufrichten, sollten sie rutschen, daher die Schnallen. Reden tun diese Bewohner so gut wie gar nicht mehr und tun sie es, ist es oft unverständlich und ohne Zusammenhang. Es ist ein trauriger Anblick und ich weiß, dass es eine ziemliche Herausforderung ist und einiges an Überwindung kosten wird, hier drei Mal die Woche eine Animation mit Cathy durchzuführen. Dem sind wir uns bewusst und ab und zu warfen wir uns an diesem Morgen skeptische und hilflose Blicke zu. Wir sind definitiv froh, dass wir uns haben und die Arbeit daher nicht alleine machen müssen.

Ein weiterer Grund, warum es jetzt morgens immer etwas länger dauert, bis ich da ankomme, wo ich ursprünglich hinwollte, ist der in Frankreich obligatorische Begrüßungskuss links rechts. Macht man in Deutschland zwar auch, aber hier gehört das schon nach wenigen Malen zur Selbstverständlichkeit. Als Neuling wird da bei mir keine Ausnahme gemacht. So busselt mich morgens die halbe weibliche Belegschaft ab. Salut hier, bonjour da. Und nicht nur die jüngeren Kolleginnen begrüßen mich mit Begrüßungskuss. Sylvie ist schon Mitte 50, aber es ist ganz normal und eine Geste von Respekt, dass man sich trotz des Altersunterschiedes mit Küsschen begrüßt, man arbeitet ja schließlich zusammen. Ist vielleicht der entscheidende Unterschied zu Deutschland. Dort bleiben mit den Küsschen die Altersgruppen meistens unter sich. Jugendliche und alte Omas beim wöchentlichen Tee oder so. Vermischt wird das eigentlich eher selten, oder? Ausgenommen Verwandte und enge Vertraute, Eltern von besten Freunden oder so. Benny’s Mutter Ines bekommt von mir ja auch immer nen Kuss auf die Wange, wenn ich sie sehe. So ewig wie ich sie kenne ja auch kein Wunder. Hab ja teilweise mehr Zeit bei denen als nebenan bei Papa verbracht. Und wenige Menschen kennen mich so gut wie sie. Vielleicht nur meine Eltern und Benny. Hier muss man sich also nicht seit der Steinzeit kennen. Geht sofort los. Und das schönste daran: ich werde jedes Mal mit einem Lächeln begrüßt. Das ist schön. Jeder freut sich, mich zu sehen und so tue ich auch. Hab aber auch echt nette Kolleginnen. Hier arbeiten zwar auch Männer, aber mit denen habe ich nix zu tun. Auf jeden Fall fühle ich mich sehr wohl und das ist ja schließlich die Hauptsache.

Montag nach der Arbeit hatte ich keine Zeit, gemütlich Musik zu hören oder groß was für meinen Blog zu schreiben. Denn um 19 Uhr war ich ja zum Essen in der Colline eingeladen. Begrüßung des neuen Jahres. Alle würden da sein, Cathy, Sylvie, die Bewohner und ich wollte natürlich nicht zu spät sein. War ich auch nicht, Punkt 19 Uhr war ich im Essenssaal und konnte noch helfen, die Bewohner an ihre Plätze zu führen. Dann ging es auch schon los. Monsieur Perez, der Direktor, hielt eine kleine Rede, mit Dank an verschiedene Personen. Und am Ende wurde auch ich erwähnt und mit einem großen Applaus entgültig und offiziell willkommen geheißen. Ich bedankte mich und ein Herr neben Monsieur Perez, den ich nicht kannte, fragte mich, woher aus Deutschland ich kommen würde. Erstaunlicher Weise konnte man hier mit der Gegend Mannheim/Heidelberg etwas anfangen, denn weitere Fragen folgten nicht. Ein Teil der Rede wurde auch auf Hebräisch gehalten, aber so wirklich geschickt stellte sich der Herr Direktor am Mikro nicht an. Er war dauernd zu leise oder hielt das Mikro zu weit vom Mund weg. War nervig, ich war froh, als er ruhig war. So richtig leiden kann ich ihn eh nicht. Er hat was überhebliches und hatte sich bisher keine zwei Minuten Zeit für mich genommen. Als Direktor der Einrichtung sollte er das aber eigentlich.

Musikalisch wurde der ganze Abend von zwei Herren begleitet, der eine mit Gitarre, der andere am Keyboard. Und die zwei waren echt gut. Sie machten richtig Stimmung und dafür, dass sie mit relativ kleiner Ausstattung spielten, war es einfach nur super. Dann wurde das Essen serviert, in 3 Gängen. Als Vorspeise gab es Äpfel, in Ringe geschnitten, dazu Honig und kleine Sesamkringel. Ich erinnere mich nicht mehr, aber irgendjemand erzählte, dass dies eine Bedeutung im Judentum hätte. Die Äpfel werden in den Honig getunkt und das schmeckt total lecker. Als erste Hauptspeise gab es Lachs. Super geil. Ich liebe Lachs über alles, Pluspunkt also. Sowieso wurde zum Mittag bisher erstaunlich viel Lachs serviert. Generell gab es oft Fisch. Wir sind ja auch am Meer. Als zweite Hauptspeise gab es ein Steak mit leckerer Sauce und dazu Erbsen. Zum Nachtisch, verzeihung, das heißt ja jetzt désert oder noch vornehmer apparativ, zwei Kugeln Vanilleeis und ein kleines Stück Himbeertorte. Die war so süß, dass es mir fast die Schuhe ausgezogen hat. War gar nicht so leicht, nicht das Gesicht zu verziehen, wenn man hineinbiss. Bis auf die Torte war das Essen aber exzellent gewesen und ich war zufrieden. Ach ja, dazu gab es Wein. Ich trank ein kleines Glas und merkte schon, dass es auf einmal viel wärmer war. Und dann drehte mir meine Sitznachbarin auch noch ihr Glas an, da sie es nicht wollte. Ablehnen erschien mir etwas unhöflich, also trank ich gemütlich auch noch ein zweites Glas. An den anderen Tischen wurde teilweise deutlich mehr geleert. Und auf einmal fingen einige Leute an zu tanzen. Und ehe ich mich versehen konnte, stand ich auch in der Mitte des Raumes und zappelte mir einen ab. Einige weiblichen Bewohner sind noch ganz schön fit und legten für ihr Alter fetzige Schritte auf dem Parkett hin. Und ich mit ihnen. Insgesamt tanzten wir bestimmt fast eine Stunde, immer mal wieder mit kleinen Pausen. Kurz vor 22 Uhr war die Party dann aber schon wieder vorbei. Die alten Leute brauchen schließlich viel Ruhe. Alles in Allem war es ein toller und gelungener Abend mit gutem Essen und netter Gesellschaft. Ich half wieder ein Bisschen, die Bewohner zu verabschieden oder diejenigen in Rollstühlen aus dem Raum zu schieben. Ich verabschiedete mich von Cathy und Sylvie und ging auf mein Zimmer. Und ich hatte auch was gelernt. Wein in Kombination mit Tanzen bringt einen ganz schön auf Touren. Aber irgendwie war ich glücklich, es ist alles so, wie man es sich vorstellt. Wo andere Urlaub machen, werde ich ein Jahr bleiben, arbeiten und die Erfahrungen meines Lebens machen, das steht nach dem Abend entgültig fest.

So schnell man ins Schwärmen gerät, so schnell kann es einem auch wieder vergehen. Wie an diesem Mittwoch morgen. Die Colline hatte den ersten Todesfall seit meiner Ankunft zu beklagen. Eine mir unbekannte Frau war in den frühen Morgenstunden mit deutlich über 90 Jahren verstorben. Als Sylvie mir das sagte, war es schon ein ziemlich unangenehmes Gefühl. Das Zimmer der Verstorbenen lag genau neben dem salle d’animation und der Gedanke, jeden Tag x-mal daran vorbeizulaufen, wo doch noch am Morgen ein Mensch gestorben war, machte mir Angst. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich mich an diesen Gedanken wohl oder üblich gewöhnen müsste. In einem Altersheim sterben nun mal Menschen und wenn man bedenkt, wie krank viele der Bewohner sind und wie sehr sie darunter leiden, dann ist es vielleicht in einigen Fällen sogar das Beste, wenn sie von ihren Leiden erlöst werden. Und mit über 90 Jahren, in etwa das Durchschnittsalter hier, kann man auch ruhig sterben, denke ich. So alt muss man erst Mal werden. Und letztendlich akzeptierte ich, dass sterben genauso zum Leben gehört, wie alles andere auch. Diese Menschen hatten ein bewegtes Leben, erlebten den Krieg, einige wenige sogar beide, hatten viele Kinder groß gezogen und nun war hier ihre letzte Ruhestätte. Ich vermute, dass wenn man als junger Mensch wie ich eine Arbeit wie diese verrichtet, dann denkt man bald anders beziehungsweise differenzierter über den Tod. Er bekommt dann neben dem Schrecklichen noch eine weitere Fassette. Die Natürliche.

Am Samstag war ich wie gewöhnlich an ein und den selben Orten. Nach dem Surfen (im www, nicht im Meer, oder hast du gerade ernsthaft einen Moment lang gestutzt?^^) schlenderte ich am Meer entlang. Es war ein unheimlich stürmischer Tag, mit strahlend blauem Himmel. Kalt war es daher nicht, aber der Wind hatte es trotzdem in sich. Frisuren waren an diesem Tag hoffnungslos verloren. Aber es war angenehm, sich die steife Briese ins Gesicht wehen zu lassen.

Wenn ich mit meinem Vater meine Tante besuche, die an der Kieler Förde wohnt, dann freue ich mich immer auf die Spaziergänge an der Förde entlang, dick eingemummelt, denn im Sommer waren wir schon ewig nicht mehr dort und so angenehm wie in Nizza ist der Herbst dort nicht. Ich war länger nicht mehr in Kiel. Ich hoffe, dass Melly es dort genau so gefällt, wie mir. Sie studiert nämlich bald dort beziehungsweise hat schon angefangen. Weiß ich grad gar nicht genau, wann es für sie losgeht. Wir haben Kiel zu unserer zweiten Lieblingsstadt gemacht. Nach Berlin natürlich. In Kiel kann man sich irgendwie schnell zu Hause fühlen und wie ich hat auch Melly dort Verwandtschaft. Umso schöner, dass es sie dank nummerus clausus genau dorthin verschlagen hat. So was nennt man Schicksal. Ja, ich glaube an so was. Ich glaube auch, dass es das Schicksal war, dass mich letztendlich hier her geführt hat. Aus irgendeinem Grund sollte es nicht Deutschland und auch nicht Paris sein. Es ist die Côte d’Azur und ein Gefühl sagt mir, dass die Party erst noch beginnt.

Zu erst aber war hier nur viel Wind. Und ein aufgewühltes Meer, das jetzt noch viel türkiser schien. Einige Leute badeten sogar. Ins Wasser hatte ich mich bisher ja noch nicht gewagt. Ich ging auch an den Strand und zog Schuhe und Socken aus. Angenehm war es nicht, die großen Steine schmerzten. Aber das Wasser war überhaupt nicht kalt. Dafür aber die Wellen recht ordentlich und eh ich mich versah, war meine hochgekrempelte Jeans klatschnass. Tja, hätte ich auch gleich ganz reingehen können, aber ich hatte kein Handtuch dabei. Dafür aber den Laptop und den würde ich ungern alleine am Strand liegen lassen. Ich setzte mich dann auf die Steine, ließ meine Füße und die Jeans etwas trocknen und genoss den Wind, der mir um die Nase und die Ohren wehte. Trotz allem waren auf dem Wasser viele Boote zu sehen. Eine Gruppe kleiner Segelboote, wahrscheinlich eine Segelschule, kämpfe tapfer gegen die übermächtigen Wellen. Wer diese Prüfung besteht, ist für später auf jeden Fall gut vorbereitet.

Im Hintergrund fuhr gerade wieder ein riesiges Kreuzfahrtschiff vorbei und mit den kleinen, irgendwie hilflosen Segelbooten im Vordergrund gab es ein tolles Motiv ab. Von rechts kam dann noch eine große Fähre ins Bild und als ich sie da so vor sich hin schaukeln sah, fragte ich mich, wie viele Leute an Bord wohl gerade über dem Klo hingen, weil ihnen der Seegang gehörig den Magen umdrehte. Toller Weise kamen die Flugzeuge heute von Osten rein und so konnte man auch sie dabei beobachten, wie sie durch den starken Wind etwas zu kämpfen hatten. Aber wie heißt ein Pilotensprichwort so schön: Runter kommen sie immer.

Bei meinen all-wochenendlichen Streiftouren bin ich dieses Mal die große Straße stadteinwärts gelaufen, die in den Place Masséna mündet und an der der McDonalds liegt, bei dem ich das erste Mal probiert hatte, online zu gehen. Also nicht in Richtung Brunnen und Promenade des Anglais, sondern in die entgegengesetzte. Sie heißt Avenue Jean Médecin. Weiter als bis zu McDonalds war ich bisher noch nicht gelaufen. Und auch dieses Mal kam ich nicht wirklich weit. Genau bis zu einem Einkaufszentrum, das den schönen Namen Nicetoile trägt. Dazu muss man wissen, dass dies eine Zusammensetzung aus Nice, dem französischen Namen Nizzas, und dem Wort étoile darstellt. Étoile bedeutet Stern. Ich mag dieses Wortspiel irgendwie. Es klingt schön. Und es ist auch ein schönes Einkaufszentrum. Die Läden sind nichts Besonderes, es gibt einen Adidas-Shop auf zwei Etagen, einige Schuhgeschäfte, einen Sportladen, einen C&A auf drei Etagen und die üblichen, kleinen Restaurants und Bars. Und noch einiges mehr, es dürfte in etwa so groß wie die Spandau Arcaden sein. Ich schlenderte also etwas durch die Gänge, verschwand in dem ein oder anderem Laden, kaufte aber am Ende nichts. Mit dem Geld muss ich hier gut wirtschaften. Ansich habe ich zwar genug, aber ich will mir ja auch etwas ansparen und eigentlich würde ich gerne einige anderen Freiwillige besuchen, unter anderem in New York und Tel Aviv. Das wäre ein Traum.

Ja, ich bin ein Träumer. Ich lebe in meiner kleinen Traumwelt und verbringe oft Stunden an irgendwelchen Orten, dahinschlendernd, die mich zum Träumen anregen. Da reicht schon ein Reisebüro, das Werbung für einen Urlaub auf Kuba macht. Das gehört zu einen meiner vielen Träume. Urlaub in der Karibik. Ich weiß nicht mal wieso. Aber ich träume es. Generell viel vom Reisen. Ich hab mir irgendwann mit 12 oder 13 mal das Ziel gesteckt, so viel wie möglich von der Welt zu sehen, wenn ich größer bin. Und jetzt, mit 20 Jahren, habe ich tatsächlich schon erstaunlich viel gesehen. Das ist mir erst so wirklich klar geworden, als wir in einer kleinen Gruppe auf dem Vorbereitungsseminar in Paris darüber geredet haben, wo wir schon überall waren. Ich war zum Beispiel schon auf Fuerteventura, ganze 4 oder 5 Mal, meine Eltern können sich da nicht einigen und ich war zu klein. Das letzte Mal müsste aber 1994 gewesen sein, ein Jahr bevor sie sich trennten. Ist zwar lange her, aber ich erinnere mich an so viele Dinge dort. Wir waren mehrmals im selben Hotel, dem Stella Canaris. Es war ein großes Hotel und vom Eingang, der Empfangslobby, bis zu unserem Zimmer, war es immer ein relativ langer Weg über das gesamte Gelände, im Freien, so groß war es. Da waren diese Treppen, daneben ein schräg fahrender Aufzug und war man oben angekommen, war es immer sehr windig. Dann ging der Weg nach rechts weiter und man schaute dann genau aufs Meer, machte eine Linkskurve und gelangte letztendlich zu den weiteren Gebäuden mit unserem Zimmer. Ich weiß noch ganz genau, wie alles aussieht. Ich habe aus irgendeinem Grund diesen Ort, die Hotelanlage und noch einige andere Orte auf Fuerteventura, tief in meinem Gedächtnis verankert. Vielleicht, weil dies die wenigen Momente waren, in denen ich das Gefühl hatte, in einer richtigen Familie zu leben...

Irgendwann verließ ich das Einkaufszentrum wieder und lief zum Bus. Und so war auch diese Woche vorbei und ich begann es so richtig zu genießen. Neben vielen neuen Eindrücken, meinem Französisch, das langsam sicherer wurde, zeigte sich auch das Wetter mal etwas abwechslungsreicher. Neben dem gewohnten Sonnenschein hatten wir in dieser Woche auch mal heftige Gewitter, sinnflutartigen Regen und viel, viel Wind. Aber genau das half mir, morgens aus dem Bett zu kommen. Denn wenn die Küste jetzt schon mein Gesicht kannte, so wollte ich doch auch so viele wie möglich von ihren Gesichtern kennenlernen, hab ich Recht?

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Lieber Simon,
ich bin sicher, wenn du gut auf dich aufpasst, wirst du viel sehen von dieser Welt und ein großes Stück deiner Träume verwirklichen.
Weißt du auch warum?
Weil es genau das ist, was man dazu braucht, TRÄUME!

Deine Mutter