Samstag, 15. November 2008

Tag 22 bis 28, die zweite Woche

Und weiter geht’s. Neue Woche, neues Glück. Zur gewohnten Zeit um halb 10 morgens, ohne Knoppers wohlgemerkt. Aber dafür mit viel Selbstvertrauen und auch etwas Vorfreude. Ich ging zuerst in den Alzheimer-Teil im Pavillon-Süd um dort mit den Bewohnern zu plaudern. Zumindest mit denen, die schon wach waren, beziehungsweise ihr Zimmer verlassen hatten. Ich wartete dann auf Cathy, um mit ihr diverse Aktivitäten durchzuführen. (Mir ist erst beim dritten Korrektur-Lesen aufgefallen, wie versaut das klingt...) Wir bastelten, sangen, tanzten und trainierten durch gezielte Anwendungen das Gedächtnis der Bewohner. Zum Beispiel, in dem man einfach Hauptstädte der EU abfragt. Das fordert die Bewohner ein bisschen, hat aber einen wichtigen Effekt, nämlich den, dass die scheinbar einfachen Gedächtnis-Abrufe auch in Zukunft mehr oder weniger funktionieren.

Auch existiert von jedem Bewohner ein Lebens-Ordner, eine Art Akte, in der Dinge ihres oder seines Lebens drin stehen. Das kann von Berufen bis zu Unfällen oder Namen der Kinder gehen. An einem Tag haben wir mit Hilfe der Akte mit den Bewohnern über ihr bisheriges Leben geredet. Was war früher ihr Beruf, wie heißen ihre Kinder, was war ihr Mann, ihre Frau von Beruf. Durch diese Fragen lernte ich etwas über die Bewohner und den Bewohnern wurde geholfen, nicht auch noch ihre gesamte Existenz zu vergessen. Klingt krass, aber es gibt Momente, in denen einige auf die Frage ihres Nachnamens nicht mehr antworten können. Sie haben es vergessen. Dem wirken wir mit einem kleinen, lockeren Gespräch entgegen. Und die Bewohner reden gerne, erzählen von ihren Kindern, von ihren Berufen und wenn es um diese privaten Sachen geht, dann wissen sie doch relativ viel, verglichen mit Sachen, die sie zwar nicht direkt betreffen, von gesunden Menschen aber Allgemeinwissen genannt werden. Den aktuellen französischen Präsidenten kennt hier niemand, da sich keiner den Namen merken kann. Zumindest nicht länger als eine Minute. Trotzdem gibt es aber Momente, in denen einzelne Bewohner ihre hellen Seiten haben und sich an deutlich mehr erinnern, als sonst. Und sei es nur, dass das Essen von gestern nicht gut war. Aber es ist ein Erfolg, über den sich alle Mitarbeiter hier immer freuen.

Neben Cathy und Emanuelle, den Animatrice, arbeiten im pavillon sud, so die französische Schreibweise, auch die sogenannten aide-soignante. Das sind Krankenpfleger/innen, die aber nicht befugt sind, medizinische Dinge durchzuführen, da sie dazu nicht ausgebildet sind. Die täglichen Medikamente werden von den infirmières, den ausgebildeten Krankenschwestern verabreicht. Diese arbeiten aber ausschließlich in den anderen Gebäuden und kommen nur, wenn es nötig ist. Also zur Medikamenten-Verabreichung und zum Zuckerspiegel messen. Monsieur O. hat nämlich Diabetes. Dazu bekommt er von den Krankenschwestern jeden Tag den gewohnten Pieks in den Finger, um durch das Blut den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Die aide-soignante sind dazu da, die Bewohner den ganzen Tag über zu begleiten und zu überwachen, wie es ihnen geht. Sie wecken die Bewohner morgens und helfen den männlichen Bewohnern, die weitaus mehr abhängig sind, sich zu waschen und anzuziehen. Eigentlich können die Männer hier das überhaupt nicht mehr, sie werden also komplett gewaschen und angezogen. Dass machen die Krankenschwestern nicht, sondern nur die aide-soignante. Jetzt werdet ihr euch fragen, warum gerade im Alzheimer-Teil keine Krankenschwestern dauerhaft arbeiten. Ganz einfach, denn körperlich sind die Bewohner hier noch am fittesten und brauchen daher keine dauerhafte medizinische Versorgung. Der Fokus liegt hier auf dem Training des Gedächtnisses. Das machen die Animatrice und die aide-soignante helfen dabei. Die Bewohner der anderen Gebäude sind ungleich mehr auf medizinische Versorgung angewiesen, weswegen die Krankenschwestern dort „stationiert“ sind.

Das Team der Krankenpflegerinnen besteht hier aus 4 Frauen. Eine davon kenne ich ja schon, nämlich die junge Französin, die unter mir wohnt, das Frauchen von Elliot. Sie heißt Julie. Die Namen der anderen habe ich wieder vergessen. Welch Ironie. Aber mit Namen habe ich es wirklich nicht so, wenn sie mir beim Vorstellen dutzendfach um die Ohren geworfen werden. Und ich komme mir immer so doof vor, nach mehreren Tagen noch mal nachzufragen. Ich warte daher einfach, bis die Namen fallen und irgendwann kenne ich sie dann auch. Tolle Methode, oder?

Insgesamt lernte ich in dieser Woche die Alzheimer-Patienten etwas genauer kennen. Und jeder hat seine eigene, oft lustige Art. Da wäre zum Beispiel Madame D. Sie ist immer gut gelaunt und ihre Laune lässt sich durch scheinbar nichts trüben. Ich mag sie, denn ihre Art steckt an. Ziehen andere eine dunkle Mine, ist es Madame D., die durch einen flapsigen Spruch und mit der selben charmanten Art die Stimmung hebt. Manchmal nervt sie aber auch, denn sie trällert dauernd den Refrain von einem Lied, das irgendwie nur sie kennt. In der Colline gibt es ungefähr ein halbes Dutzend Lieder, die wirklich jeder kennt, sowohl Mitarbeiter als auch Bewohner. Ich ausgenommen, aber das kommt noch. Es sind natürlich sehr alte Lieder, aber das Lied von Madame D. kennt keiner. Aber inzwischen kann jeder den Text auswendig, da sie es in ihren Phasen echt alle 2 Minuten singt beziehungsweise vorschlägt, wenn gerade als Aktivität Singen an der Reihe ist. Ich kann es inzwischen nicht mehr hören. Aber sie kann nichts dafür, da sie schließlich dauernd vergisst, dass es keine 3 Minuten her ist, als sie es zum letzten Mal trällerte.

Singen funktioniert aber generell sehr gut hier, die Parolen weigern sich scheinbar erfolgreich, vergessen zu werden und auch wenn viele die Anfänge der Lieder nicht sofort kennen, kommt nach wenigen Sekunden der Melodie die Erinnerung und alle können perfekt mitsingen. Und Madame D. singt immer sehr gestenreich und extrovertiert. Es macht irgendwie Spaß, ihr zuzusehen. Sie ist generell sehr extrovertiert, sagt gerne was sie denkt. Meistens aber, wie lieb wir alle sind, was für wunderschöne Augen ich habe und ob ich meinen Eltern schon danke dafür gesagt hätte. Die Krankheit scheint da immer in Schüben zu kommen, da das wiederholende Fragen von gewissen Dingen abrupt beginnt und aufhört. Ganz extrem ist das bei Madame Sch. Ebenfalls eine sehr liebenswerte Person, die aber ab und zu ihre Phasen hat, wo sie eine halbe Stunde lang fragt, ob ich Deutscher sei und wie alt ich sei. Wenn ich dann sage, dass ich 20 sei, sagt sie ab und zu: „ 20 Jahre und noch alle Zähne?“ Und grinst dabei. Ungewollt nimmt man sich und die Krankheit hier ab und zu gehörig aufs Korn. Hat aber was sympathisches. Besser, als sich dauernd zu bemitleiden.

Madame Sch. spricht einige Brocken Deutsch, da sie im Elsass geboren und aufgewachsen ist. Brocken heißt in dem Fall nur einzelne Wörter. Dann fragt sie wieder eine Stunde lang, ob pain auf Deutsch auch wirklich Brot heißt und erklärt allen, was je t’aime auf Deutsch heißt. Und eines Tages hat da Madame D. den Vogel abgeschossen, als sie wie immer grinsend sagte, dass ihr einziger deutscher Satz „Heil Hitler“ sei. Darauf antwortete Cathy nur mit einem augenrollenden „Merci beaucoup Madame D.“. Ich sagte nichts, aber innerlich wäre ich vor Lachen fast vom Stuhl gefallen. Nicht, weil ich den Satz toll finde, sondern wegen der unnachahmlichen Art, wie Madame D. selbst so einen schrecklichen und negativ behafteten Satz ganz harmlos erscheinen lässt. Als sei es eine Lappalie. Und sie hat diesen Satz auch nicht böse gemeint oder ihn an meine Adresse gerichtet. Es war lediglich ihr Beitrag zur Konversation. Aber jeder geht damit anders um und ich fand das gar nicht so schlimm. Es ist schließlich passiert und die Generation, mit der ich es hier zu tun habe, hat es noch miterlebt, da wundert es mich eigentlich weniger. Und ich als Deutscher, der als Freiwilliger nach Frankreich kommt, freue mich, dass mir keine Ablehnung entgegen gebracht wird und ich selbst nach so einem Satz aus dem Mund einer Französin in keinster Weise das Gefühl habe, ich hätte mich für die schrecklichen Dinge meiner Landsleute vor vielen Jahrzehnten zu rechtfertigen. Nein, man nimmt kein Blatt vor den Mund, aber wir leben heute in einem vereinigten Europa und als Europäer werde ich hier auch wahrgenommen und akzeptiert. Daher nahm ich diesen Satz nicht als grenzüberschreitend oder angreifend war. Wenn das also ihr einziger Satz ist, den sie auf Deutsch kennt, dann nur raus damit, es ist kein Tabuthema mehr. Wir haben dazu gelernt und sind heute Freunde und treue Nachbarn. Ein bisschen Zynismus schadet da sicher nicht. Das sollte aber nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Madame D. rethorisch wie der Elefant im Porzellan-Laden wütete.

Mir wurde in dieser Woche auf jeden Fall auch erstmals klar, wie anstrengend die Arbeit mit den Alzheimer-Patienten sein kann. Die Phasen, in den man stundenlang mit den gleichen Fragen gelöchert wird, sind eine echte Geduldsprobe für mich. Aber man merkt langsam, dass die zeitlichen Abstände zwischen den Fragen größer werden. Nach fast zwei Wochen bin ich vielleicht selbst den Alzheimer-Patienten nicht mehr ganz fremd, sodass ich im Unterbewusstsein inzwischen bekannt bin und daher nicht mehr so viele Fragen gestellt werden müssen.

Neben der Arbeit im pavillon sud arbeitete ich auch viel mit Sylvie zusammen. Sie ist eine sehr angenehme Persönlichkeit. Zwar immer im Dauerstress und immer von A nach B hetzend, aber man gewöhnt sich dran. Auch, dass es immer mehr zu tun gibt, als Zeit vorhanden ist. Aber deswegen helfe ich ihr ja. Diese Woche war unsere Hauptaufgabe, die Colline für ein bevorstehendes Fest herzurichten. Am 30. September beginnt nach dem jüdischen Kalender nämlich das neue Jahr. Das Jahr 5768 geht zu Ende und das Jahr 5769 beginnt. Hier sieht man gut, wie alt das Judentum schon ist. Sylvie und ich waren also damit beschäftigt, die Räumlichkeiten zu dekorieren. Wir brachten von Bewohnern angefertigte Zeichnungen an den Wänden an und in jedem Essenssaal der unterschiedlichen Gebäude klebte ich mit einzelnen Buchstaben den Schriftzug Roch Hachana an die Fensterfronten, sodass es für jeden gut sichtbar sein würde. Insgesamt dauert es so seine Zeit, alle 4 Teile der Colline zu dekorieren, also pavillon sud, batiment nord, das centre und pavillon la colline. Letztgenanntes heißt übrigens so, weil es der älteste Teil des Altersheimes ist. Der pavillon sud wurde erst letztes Jahr eröffnet und ist damit der neueste Teil. Eine Etage über den Räumlichkeiten der Alzheimer-Patienten befindet sich auch die Synagoge. Schließlich sind fast alle Bewohner hier Juden, auch wenn man es ihnen im Alltag nicht anmerkt, dass sie eine gläubige Ader haben. Ich für meinen Teil empfinde das Judentum als sehr angenehm. Aber leider waren in der Vergangenheit nicht immer alle der selben Ansicht... Ach ja, am Montag bin ich herzlich um 19 Uhr zum traditionellen, gemeinsamen Essen mit allen Bewohnern und Teilen der Angestellten eingeladen. Ein Stell-dich-ein aufs neue Jahr.

Neben dem Dekorieren für das bevorstehende Fest half ich Sylvie auch bei der Vorbereitung und Durchführung ihrer Aktivitäten, die meist im pavillon nord stattfanden. Ich hatte ja schon mal erwähnt, dass diese dann in ihrem salle d’animation stattfinden. Auf dem Plan steht dann zum Beispiel painture, also Zeichnen und Malen. Einige Bewohner sind richtige Künstler und Sylvie nutzt das immer, deren Werke in der gesamten Colline auszustellen. Das freut einerseits die, die ihre Werke an den Wänden wiederfinden, andererseits macht es für uns die Dekoration deutlich einfacher, da wir nicht lange nach schönen Dingen suchen müssen. Dann gibt es dann noch das Lotto, ein echter Renner hier. Einmal in der Woche macht Sylvie das, allerdings nicht in ihrem kleinen Raum, sondern im großen Essensaal eine Etage darüber. Es wollen einfach zu viele mitmachen, als dass man sie im salle d’animation unterbringen könnte. Lotto sieht hier folgender Maßen aus. Es gibt Pappkartons, auf denen 15 Nummern von 1 bis 90 stehen. Jeder wählt vor Spielbeginn einen Karton aus. Gleichzeitig bekommt jeder 15 Spielplättchen. Dann ist es Sylvie, die mit ihrer Maschine, die wirklich fast wie die aus dem Fernsehen aussieht, nur etwas kleiner ist, die Kugeln mit den Nummern zieht. Logischer Weise stehen auch auf den Kugeln die Nummern 1 bis 90. Hat ein Spieler die gezogene Nummer auf seinem Karton, packt er ein Plättchen darauf. Der erste, der den Karton voll hat, hat gewonnen. Zu gewinnen gibt es zwar keine Millionen, aber Kleinigkeiten, über die sich die Bewohner immer freuen. Sylvie kauft sie immer in irgendwelchen Ramsch-Läden. Das können Ketten sein, verzierte Dosen, oder einfach kleine Statuen. Nichts wertvolles oder teures, aber darum geht es ja schließlich in unserer Lotto-Version nicht. Die soll lediglich amüsieren und das tut sie. Es ist mit Abstand die populärste Aktivität hier. Sie hat auch den Vorteil, dass sie von fast jedem ohne Hilfe mitgemacht werden kann. Schließlich muss man nur zuhören und schauen, ob die aktuelle Nummer auf dem eigenen Karton vorhanden ist. Ich helfe denen, die es nicht ohne Hilfe schaffen, weil sie entweder schlecht hören oder sehen. Ist aber ganz schön schwer für mich, da ich noch nicht so fit bin, was französische Zahlen angeht. Zum Lernen kommt mir das aber ganz gelegen.

Zwei weitere Aktivitäten sind die revue de presse und incroyable mais vrai. In der revue de presse erzählt Sylvie in kleiner Runde einfach, was der nice matin, so die größte Tageszeitung Nizzas, in der letzten Ausgabe berichtete. So bleiben die Bewohner wenigstens etwas auf dem neuesten Stand der Dinge, was in der Welt alles geschieht. Die wenigsten hier lesen nämlich Zeitung und sind daher nicht oder kaum informiert. Incroyable mais vrai behandelt Themen, die, wie der Name schon sagt, unglaublich aber wahr sind. Sylvie kramt im Web dann immer nach skurrilen Dingen, wie zum Beispiel japanischen Robotern, die lernfähig sind. Diese Dinge präsentiert sie dann den ausgewählten Bewohnern, die von den verrückten Dingen jedes Mal höchst amüsiert sind. Diese ganzen Dinge, die Animationen, tragen dazu bei, dass der sonst etwas langweilige Alltag der Bewohner etwas aufgepeppt wird. Und es macht Spaß. Bis jetzt war mein Alltag aber eher ungeplant und ich half da, wo man mich brauchte.

Am Donnerstag kam dann eine Nachricht, die alle in der Colline in positive Spannung versetzte. Schon morgen sollten wir hohen Besuch bekommen. Für den späten Nachmittag kündigte sich Bernadette Chirac an. Sie ist stark im charitativen Bereich aktiv und so wie ich das beim Zuhören mitbekommen habe auch Vorsitzende einer Einrichtung, die sich um das Wohl alter Leute kümmert. Grund genug also, unsere Einrichtung zu besuchen. Am nächsten Tag war die Aufregung deutlich zu spüren. Als würde ein Rockstar kommen. Nicht ganz, aber eine interessante und berühmte Persönlichkeit auf jeden Fall. Ich verbrachte den Tag im Alzheimer-Teil. Mit Cathy. Wir malten und anschließend, nach dem frühen Nachmittags-Snack, wurde Musik gemacht. Der Nachmittags-Snack wird jeden Tag um 15:30 Uhr serviert und besteht meistens aus kleinen Schokowaffeln, von denen jeder 4 Stück bekommt. Ab und zu gibt es auch Kuchen. Dazu wird Cola, Limonade oder auch mal Kaffee getrunken. Madame D. ist immer ganz verrückt nach den kleinen Waffeln, gofrettes genannt. Sie will immer die erste sein, die bedient wird und oft muss sie zurecht gewiesen werden, zu warten wie die anderen auch. Auch will sie immer mehr als die anderen, aber das machen wir aus Prinzip nicht, da jeder gleich behandelt werden soll verständlicher Weise.

Nach dem goutter, so der französische Begriff für den kleinen Snack, sangen wir also und spielten dabei so gut wie möglich mit unseren Instrumenten. Das sind eigentlich nur Rasseln und Trommeln und so wirklich musikalisch klingt es selten, wenn jeder auf den Takt pfeift und mit der Rassel rasselt wie er will, sozusagen. Anstatt Musik machen wir dann eigentlich nur Krach, aber das singen klappt da zum Glück besser. Mitten im Krach machen kam dann Julie rein und teilte uns mit, dass Madame Chirac bereits da war und auf dem Weg hierher sei. Ich war richtig aufgeregt. Kam mir dabei irgendwie selber etwas albern vor, wie einer der durchgeknallten Teenager auf Tokio Hotel-Konzerten oder so. Auf jeden Fall erreichte uns dann die Truppe um Madame Chirac, begleitet vom Direktor der Colline, Monsieur Perez, vermutlich einigen Bodyguards und anderen Verantwortlichen der Colline. In einem Kreis stellten sich alle um unseren Tisch auf, an dem wir grölten und rasselten. Auf einmal winkte mich Madame Roche zu ihr und ich stand vorsichtig und bemüht unauffällig auf. Madame Chirac war leider ohne ihren Mann Jacques gekommen. Insgeheim hatte ich ja gehofft, er würde auch kommen, aber er ist sicher auch sehr beschäftigt. Ex-Präsident heißt ja nicht, dass man nix mehr zu tun hat. Schaut euch nur mal unseren Gerhard an, der hat sich gleich nach Ende seiner Amtszeit von der russischen Öl-Mafia um Gazprom kaufen lassen. War aber auch ohne Herrn Chirac genug los hier. Während die einen sangen oder so ähnlich, unterhielt sich Madame Chirac mit unterschiedlichen Leuten, bis sie von Madame Roche unterbrochen wurde. Die hatte echt die Nerven, mich ihr vorzustellen. Na halleluja, was soll ich der denn sagen? Sie gab mir die Hand und Madame Roche erledigte das Reden für mich, sie sagte ja aber auch nur, dass ich Freiwilliger aus Deutschland sei und ein Jahr hier bleiben würde. Madame Chirac lächelte und sagte nur bravo und dass sie es toll fände, wenn junge Leute so was machen würden. Coole Sache. Kaum zwei Wochen hier und schon nem Promi die Hand geschüttelt. Irgendwie war ich ja schon stolz. Die anderen wurden ihr nicht vorgestellt.

Nach wenigen Minuten war das Spektakel wieder vorbei, die Truppe verließ den Alzheimer-Teil und wir machten im Programm weiter. Wir sangen noch etwas, dann war es auch schon 17:30 Uhr und mein Arbeitstag damit zu Ende. Ich verabschiedete mich und ging zur pointeuse im batiment nord.

Als ich wieder am batiment sud und dem Parkplatz vorbeilief, fuhr gerade der Wagen mit Madame Chirac an mir vorbei. Man erkannte sie trotz leicht getönter Scheiben sehr gut, da sie einen grellen, pinken Anorak trug. Und dann war sie auch schon wieder weg. Aber ich hab noch mal einen letzten Blick auf sie erhaschen können.

Ich ging dann weiter, hoch auf mein Zimmer. In die Stadt würde ich heute nicht mehr gehen. Anstatt dessen schrieb ich wieder einiges. Das übliche Programm eben. Auch wenn das Wetter gut war, ich war zu faul, um noch weg zu gehen. Das Wetter änderte sich dann aber schlagartig und gegen 23 Uhr, als ich schon im Bett lag, begann es zu gewittern.

Und wie. Ich nutzte die gute Lage meines Zimmers, um die zahlreichen Blitze zu fotografieren und das Ergebnis kann sich auf jeden Fall sehen lassen. Ich stand also etwa eine halbe Stunde am offenen Fenster und beobachtete und knipste die vielen Blitze, die das Meer und die Küste erhellten. Irgendwann war es dann aber auch wieder vorbei und ich ging zurück ins Bett.

Das Wochenende verlief wie das vorherige. Surfen bei McDonalds und spazieren am Meer entlang. Sich langsam mit der Gegend vertraut machen. Ankommen, wie meine Mutter sagen würde. Ich kam jetzt zwar schon seit zwei Wochen an, aber ich verspürte nicht den Drang, groß was zu unternehmen oder gezielt Leute kennen zulernen. Das war nämlich die häufigste Frage, die mir per MSN oder sonst wo gestellt wurde. Ob ich denn schon Leute kennen gelernt hätte. Nein, außer die Leute der Colline niemanden bisher, aber ist auch nicht schlimm. Ich werde 52 Wochen hier verbringen, warum sollte ich mich da hetzen, unbedingt Leute kennen lernen zu wollen, wie es immer alle erwarten... Ich gehöre nicht zu der Sorte unausgeglichener Menschen, die denken, was zu verpassen, wenn sie unaktiv sind. Ich brauch eben bei allen Dingen immer etwas länger als andere, ich bin gemütlich und mach mir keinen Stress. Ich werde sicher noch früh genug unter Menschen kommen in meiner freien Zeit, da mache ich mir überhaupt keine Sorgen. Zuerst schaue ich mir alles in Ruhe an, die französische Lebensart, die Eigenarten der Franzosen und gewisse Kleinigkeiten, die anderen so vielleicht nicht auffallen, weil sie nur am Kennenlernen sind. Und Dinge, die mir aufgefallen sind, gibt es einige. Eine der lustigsten Dinge haben wir der Polizei zu verdanken. Es ist mir rein zufällig beim Vorbeigehen an einer Polizei-Wache aufgefallen, die nur wenige Meter neben McDonalds auf dem Weg zum Bus liegt. Vor der Wache befinden sich Ständer für Fahrräder und Roller. Und als aus der Wache zwei Polizisten kamen und auf zwei identische Roller stiegen, auf denen groß das Wort POLICE steht, traute ich meinen Augen nicht. Die haben hier ohne Scheiß Polizei-Mofas. Wie angsteinflößend und antiautoritär ist das denn? Wen wollen die denn damit im Notfall verfolgen? Elektromobile von Senioren, die auf 25 km/h begrenzt sind? Ohne Worte. Ich musste mir ein Grinsen echt verkneifen, als ich da an der Wache vorbei lief. Das hatte ich echt noch nicht erlebt. Ob man damit auf den Straßen für mehr Ordnung sorgen kann?

Von den chaotischen Szenen auf den Straßen habe ich ja schon erzählt, aber inzwischen weiß ich, dass die hier alle total geistesgestört sind, so wie die fahren. Echt unbeschreiblich. Die Rollerfahrer sind die Krönung. Für die scheint es keine Regeln zu geben. Die fahren, wie sie wollen. Dagegen waren die chronisch zu schnellen italienischen Mofa-Kollonen aus Florenz gar nix und die waren schon echt heftig. Der absolute Gipfel jeglicher Hirnlosigkeit ist hier in Nizza der Pizza-Lieferant. Natürlich auf nem Mofa. Damit die Pizza nicht kalt wird, wird eine rote Ampel wie eine grüne behandelt, der Bürgersteig zur Autobahn gemacht und auch sonst alle Regeln im Straßenverkehr gebrochen. Wenn ich von weitem so eine wildgewordene Pizza auf Rädern sehe, bin ich immer in erhöhter Alarmbereitschaft. Ihr denkt, ich übertreibe? Würde ich auch denken, aber das muss man gesehen haben, um es zu glauben. Die sind echt jenseits von gut und böse. Aber auch die Autofahrer haben ein Ei am wandern. Ich bin Verkehr in der Großstadt ja nun schließlich gewöhnt, aber das hier toppt alles.

Auch die Busfahrer fahren etwas rasanter, als die Kollegen der BVG. Oft sehr ruckartig und daher nicht unbedingt angenehm. Ich habe zwar schon über die Busse hier geschimpft, aber hilft ja alles nix, was raus muss, muss raus. Eines Abends hat ein Busfahrer unseren 22er die Berge hochgejagt, dass sogar ich dachte, er hätte 10 Sekunden Rückstatt auf Michael Schuhmacher. Der Bus war fast leer und ich genoss auf dem vordersten Sitz die schnellste Fahrt von der Innenstadt zur Colline aller Zeiten. Was normaler Weise um die 20 Minuten und länger dauern kann, je nach Tageszeit, schaffte unser Rennfahrer in 8.

Ab und zu erlebt man in den Bussen aber auch lustige Geschichten. Zumindest ich schmunzele dann und hoffe, dass ich den Moment nicht vergesse, bis ich wieder einmal vor Word sitze. Da der 22er ja an der Uni und auch an den Studentenwohnheimen vorbeifährt, ist der Bus dementsprechend besetzt. Eines Abends war der mal wieder bis unters Dach gefüllt, inklusive zwei jungen Studentinnen aus Korea oder Japan, voll bepackt mit Lebensmitteltüten. Und irgendwie, desto länger ich zuschaute, bekam ich das Gefühl, dass es das erste Mal sein musste, dass die beiden Bus fahren. Die ganze Fahrt über haben sie nicht verstanden, dass sich Festhalten eine auf jeden Fall gute Option in den Bussen hier ist. Eben wegen der Fahrweise der Busfahrer. Anstatt dessen wurde mit den Händen lieber der Einkauf in den Tüten beschützt, auch wenn die beiden bei jeder Bremsung erschrocken aufschrieen und sich vergeblich probierten, in letzter Sekunde doch noch irgendwo festzuhalten. Nach jeder Bremsung landeten sie daher an irgendwelchen Ellbögen und Brustkörben von anderen Leuten. So voll, wie der Bus war, konnte zum Glück nicht mehr passieren, die umstehenden Passagiere verhindern ein Hinfallen ja zwangsweise. Das sind auf jeden Fall Momente, in denen man überlegt, ob gewisse Klischees nicht doch zutreffen. Quietschende, unbeholfene Asiatinnen. Ich fands amüsant und die anderen auch, das ein oder andere Grinsen habe ich entdeckt und insgeheim wartete wohl nicht nur ich auf die nächste Bremsung. So ein bisschen wie diese bekloppte Serie, die früher auf DSF und jetzt auf RTL 2 läuft. Taikeshis Castle oder wie die heißt. Zum brüllen, wie sich einige Leute im Fernsehen freiwillig zum Horst machen. Nun, das hier war life. Wie auch immer, an der Uni und den Wohnheimen der Studis stiegen die beiden dann sichtlich erleichtert aus. Ist schon ne Tortour, so ein europäischer Bus, nicht wahr? Wie kann man das freiwillig jeden Tag machen? Na ja, man hält sich in erster Linie gut fest, dann passiert auch nix. Aber psssst, nicht weitersagen.

Aber auch beim Warten auf den Bus hat man selten Langeweile. Und desto öfter ich an irgendwelchen Haltestellen wartete, desto klarer wurde mir, dass ich bei weitem nicht der einzige war, der die Fahrpläne nicht kapierte. Oder anders ausgedrückt: Die, die die Pläne vielleicht verstehen, haben kein Vertrauen darin, dass der Bus pünktlich und zuverlässig kommt. Denn jedes Mal werde ich an der Haltestelle von anderen Passanten gefragt, ob der letzte 22er schon gekommen sei. Von Einheimischen teilweise auch. Gott sei dank, ich bin nicht der einzige ohne Plan. Man wartet dann gemeinsam oder hört einfach den Gesprächen der anderen zu. Da war zum Beispiel eine Gruppe italienischer Touristen, eine Familie vermutlich, die sich die ganze Zeit mit dem Wort Bonjour beömmelten. Es ging wohl irgendwie darum, dass jemand das Wort komisch ausgesprochen hatte und jetzt hörte man nur noch Jou-Jou und nicht endendes Gelächter. Jou-Jou von Bonjour versteht sich. Auf jeden Fall unterhielt diese Truppe die ganze Haltestelle.

Und dann ist da noch die Frau mit ihrem Hund, die ich jetzt schon öfter hier getroffen habe. Wenn man immer den gleichen Bus um die selbe Zeit nimmt, kennt man irgendwann einige Leute, die ebenso immer um die Zeit nach Hause wollen. Diese Frau auch. Ihr Hund ist schwarz, keine Ahnung welche Rasse, aber ein schöner Hund. Eine Hündin, wie ich inzwischen weiß. Jedes Mal erzählt die Dame mir, wie gerne sie Bus fährt. Sie ist etwas sonderlich. Sie redet auch im Bus, wenn keiner zuhört. Aber ihre Hündin fährt wirklich gerne Bus. Ab und zu reist sie sich schon los, wenn der Bus anhält, springt rein und wartet dann auf ihrem Standart-Platz auf Frauchen. Echt drollig zu beobachten. Aber auch so kommt man hier erstaunlich schnell mit anderen Leuten ins Gespräch. Ich hab schon Gespräche mit nem Tunesier geführt und mit einer Schweizerin. Sie hat mich erst auf Französisch angesprochen, weil sie auf meiner Laptop-Tasche sah, dass dort Montreux 2000 steht. Scheint ne Stadt in der Schweiz zu sein. Sie fragte dann, ob ich Schweizer sei und als ich erklärte, dass ich aus Berlin sei, redeten wir auf Deutsch weiter. Sie hörte sehr interessiert zu, dass ich Zivildienstleistender hier sei. Sie wusste nicht, dass das möglich sei. Dann fügte sie hinzu, dass für Schweizer diese ganzen Dinge eh nicht so einfach seien, da man ja nicht in der EU sei. Ich zitiere sie mal „Wir sind die einzigen Weißen, die in Berlin-Tegel durch den Zoll müssen.“ Arme Schweiz dachte ich nur grinsend. Sie war hier, um ein Diplom in Französisch zu machen, Fachrichtung Computersprache. Sie sei Lehrerin, spreche schon fast fließend Französisch, nur die ganzen neuen Begriffe aus der PC-Welt kenne sie nicht, daher belege sie einen Kurs an der Uni hier. Es war ein nettes Gespräch. Und zugleich das erste Mal, dass ich hier richtig Deutsch sprach. Wie sich Dinge doch ändern können.

Die ersten zwei Wochen in Nizza gingen erstaunlich schnell rum. Und es gab gewisse Dinge, die schon jetzt zur Gewohnheit wurden. Wenn ich morgens das Haus verließ und die Treppen hinab lief, blickte ich immer einen Moment aufs Meer hinaus. Denn es sah jeden Morgen anders aus, immer leuchtete es in unterschiedlichen Farben. Mal dunkelblau, mal schwarz, mal türkis. Mal war es ruhig und ein anderes Mal total aufgewühlt, weil es windig war. Ich liebe diesen Blick auf das Meer. Man überblickt alles und immer scheint es einen zu begrüßen, mit weit ausgebreiteten Armen, immer strahlend und man wusste genau, dass es auch morgen da sein würde. Und abends freute ich mich schon beim Aussteigen aus dem Bus auf das aufgewühlte etwas namens Elliot, das mich wieder begrüßen würde. Inzwischen kannte er mich gut und kläffte nur noch fröhlich, nicht mehr ängstlich wie am Anfang. Und ich hatte echt das Gefühl, als würde er auf mich warten. Ich kam ja meistens zur gleichen Zeit. Und wenn sonst keiner da war, der ihn kurz kraulte, dann lohnte es sich doch, auf mich zu warten, oder? Ach ja, da ist noch diese eine Laterne gegenüber der Haltestelle der Colline stadteinwärts. Immer, wenn ich mit dem Bus ankomme und eine Station laufen muss, weil er abends schon am Krankenhaus endet, dann komme ich an dieser einen Laterne vorbei. Und immer, wenn ich unter ihr vorbei laufe, geht sie aus. Wenn ich dann wenige Meter weiter gelaufen bin, geht sie wieder an. Sie hat einen Wackelkontakt, aber warum immer dann, wenn ich an ihr vorbei laufe? Strahle ich irgendwelche magnetischen Impulse ab, oder was? Ich hab auch schon mal probiert, einfach stehen zu bleiben. Sie blieb aus. Aber kaum bin ich zwei Schritte weiter gelaufen, ging sie wieder an. Ich habe mich dann zu ihr umgedreht und sie angeschaut, als wolle ich fragen, ob sie mich verarschen wolle. Keine Antwort. Komisches Gerät. Da stellt sich schon mal leichte Paranoia ein. Schon von weitem lugt man dann zu ihr hoch. Verfolgt von ner Laterne. Alles klar, Simon, war ein langer Tag und eine anstrengende Woche. Geh jetzt schlafen.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hallo lieber Simon,

Es macht Spass in deinem Blog zu lesen und im Übrigen muss ich Madame Doukhan's Sichtweise bezüglich deiner Augen bestätigen...

Ich freue mich für dich, dass du dich wohl fühlst und dass dir die Arbeit dort so viel Freude macht.

Liebe Grüße auch von Simon,

Britta