Dienstag, 14. April 2009

Dezember in Nizza, die Woche 14

Aus dem zu Beginn etwas karg und schüchtern dekoriertem Nizza ist mittlerweile die am schönsten geschmückte Stadt geworden, die ich je gesehen habe. Jede Straße, egal ob groß oder klein, ist prachtvoll hergerichtet und überall blinkt und glitzert es. Man könnte aber auch sagen, dass sie nur etwas Besonderes für mich ist, weil mein ganzes Leben zur Zeit ein einziger großer Ausflug ins Unbekannte ist und so gewisse Dinge, die man vorher nicht bewusst wahrgenommen oder als Gewohnheit angesehen hatte, jetzt in einem ganz neuen Licht erscheinen. Das weihnachtliche Berlin ist vielleicht nicht minder schön, als das weihnachtliche Nizza, aber nach 17 Jahren hat es den gewissen Kick verloren, den Nizza zur Zeit so besonders macht. Dafür hat Berlin Schnee. Na ja, ab und zu vielleicht. Auf jeden Fall öfter als in Nizza. Eines Abends, nach der Arbeit, habe ich mich mit Foto und Baguette zur Marschverpflegung bewaffnet auf die Socken gemacht, um etwas von der Pracht festzuhalten. Die schönsten Bilder habe ich in einem Album gesammelt, das ihr links auf der Seite anklicken könnt. Vor einem Jahr hatte ich die Bewerbung an ASF abgeschickt. Im Dezember 2008 finde ich mich also in einer der schönsten Städte Europas wieder und wer sich die Bilder genauer ansieht, wird merken, dass es nichts mit einem Berliner Dezember gemeinsam hat. Für mich noch viel weniger.

Es gibt aber auch so Tage, an denen alles schief läuft und man auf Weihnachten und Dezember getrost pfeifen könnte. Solche Tage im Dezember, an denen es mal wieder schüttet wie aus Kübeln und man sich cleverer Weise entschieden hat, einkaufen zu gehen. Mit einer Papiertüte... Es ist ja nicht gerade so, als ob ich keine Plastiktüten bei mir zu Hause hätte. Aber wenn das Leben in seinen geregelten Bahnen läuft, muss man eben selber nach helfen, damit die Spannung nicht flöten geht. Da machen sich Papiertüten an Regentagen ganz ausgezeichnet. Und wenn man dann noch von der etwas verpeilteren Sorte ist, hat man genügend Stoff, um den halben Tag nur zu fluchen. Nach meinem Einkauf mit besagter Papiertüte bin ich zwar ohne Probleme vom Supermarkt bis zum Bus gekommen. Im Bus habe ich die Tüte dann aber auf den nassen Boden gestellt und somit war ihr Schicksal, lange bevor ich es merkte, besiegelt. Denn genau in dem Moment, als ich aussteigen wollte und die Tüte anhob, machte es laut ratsch und Milch, Brot und Käse kullerten durch den ganzen Bus. Alles in der Laptoptasche verstauen ging nicht, war zu viel. Eine andere Tüte hatte ich nicht, genau wie die anderen Fahrgäste, die ich fragte. Ich fuhr also fluchend bis zur Endstation mit, um Zeit zu gewinnen, den ganzen Krempel doch irgendwie in Jackentaschen und zwischen Laptop und Headset unterzukriegen. Irgendwie bekam ich es auch hin. Milch zwischen Arme geklemmt und der Rest ordentlich gequetscht.

Bis zur Endstation waren es nur 5 Minuten und eine Pause machte der Fahrer auch nicht. So hatte die Aktion zum Glück nicht meinen ganzen Abend in Anspruch genommen. Als ich dann zu Hause war, habe ich die Sachen einfach in die Küche gestellt und bin dann ohne Umwege in die Dusche gegangen. Der Weg vom Bus bis zu meinem Haus ist zwar nicht weit, aber vollbepackt mit tollen Sachen, die das Laufen im Regen schwerer machen... Auf gut Deutsch: Ich war klatschnass. Etwas gestresst von doofen Tüten und dem rauen Dezemberwetter blieb ich geschätzte 5 Stunden unter der Dusche, das Wasser so heißt aufgedreht, dass der kalte Regen schnell vergessen war. Müde war ich nach der Dusche aber immer noch, also ging ich gleich ins Bett. Ich habe eh das Gefühl, dass die Arbeit hier einen auf eine ganze besondere Weise erschöpft macht. Nicht körperlich, eher geistig. Die psychische Problematik der Alzheimer-Patienten, das ständige Wiederholen von Fragen und das andauernde Vergessen ihrer eigenen Identitäten macht einen ganz madig. Das immer präsent Sein und das Bewusstsein, immer aufmerksam sein zu müssen und niemanden aus den Augen zu lassen, macht mich ständig angespannt. Die ruhigen Minuten, in denen Cathy und ich bei einer Tasse Kaffee mal abschalten können, sind daher immer ganz besonders „chillig“.

Auch was unsere Animationen angeht, hat sich etwas getan, was das Arbeiten zumindest Freitags recht erträglich macht. Wir haben das so genannte atelier trikot ins Leben gerufen. Trikoter bedeutet stricken. Finden die älteren Damen natürlich toll. Viele haben ihr Leben lang gestrickt, sei es für Ehemann oder Kinder. Damit diese Fähigkeit nicht verloren geht, sitzt die Gruppe jetzt ein Mal in der Woche zusammen und bei Smalltalk wird an einem Schal, einem Pulli oder bunten Socken gearbeitet. Da es viel mehr um Zeitvertreib, als um Perfektion geht, haben Cathy und ich nicht mehr zu tun, als uns gemütlich mit Stricknadeln und Wolle dazu zu setzen und für Gesprächsthemen zu sorgen. Gehen diese aus, kann man beobachten, wie selbst die aufgedrehtesten Menschen stundenlang dasitzen können, ohne ein Wort zu sagen. Ganz auf ihre Strickarbeit fixiert. Ich dagegen musste aber erst einmal lernen, wie man mit Nadel und Wolle umzugehen hat. Hatte ich vorher noch nie gemacht. Nur staunend meiner Tante Gila zugesehen, wie sie es fertig bringt, gleichzeitig zu stricken, ein Buch zu lesen und Nachrichten zu schauen. Und das in Perfektion. Die grobe Materie an sich ist ja gar nicht so kompliziert. Das Schwere ist nur, Reihe für Reihe regelmäßig und gleichbleibend ordentlich hinzubekommen. Wenn das einigermaßen klappt, geht es an die Geschwindigkeit. Brauch ich für eine fehlerfreie Reihe 5 Minuten, schafft meine Tante in der gleichen Zeit wahrscheinlich 10 Linien, allesamt gleichmäßiger und schicker. Aber die Technik hab ich schon drauf, an der Feinarbeit wird gearbeitet. Mehr als ein löchriger Topflappen wird mein erstes Werk aber wohl nicht werden.

Neben meinen neu erlernten Strickfähigkeiten war das Highlight der Woche die Schulklasse einer jüdischen Schule, die am Montag die Colline besuchte, um für die Bewohner zu singen. In seiner typischen Showmaker-Manier war unser Direktor dauernd damit beschäftigt, im Voraus alles zu organisieren und zu planen. In großem Stil. Sein Ruf ist ihm heilig und daher ist er ein ziemlicher Wichtigtuer. Am Ende müssen wir uns - Cathy und ich - dann immer abzappeln, damit im engen Zeitrahmen zwischen den Mahlzeiten auch wirklich jeder Bewohner in die dafür viel zu kleine Empfangshalle des Batiment Nord gezwängt wird, um nachher nicht sagen zu können, der Direktor würde sich nicht um Beschäftigung und Unterhaltung sorgen. Am Ende war die Schulklasse eine Stunde lang da und Monsieur Perez hatte mal wieder viel Luft um nichts gemacht. Die Bewohner waren aber zufrieden mit dem kleinen Konzert. Viel braucht es dazu eh nicht. Kleine Sachen haben immer mehr Charme als groß aufgepumpte Shows. Genau deswegen passt unser Direktor eigentlich gar nicht in diese Einrichtung. Manager von Dieter Bohlen wär doch genau sein Ding, aber Direktor eines Altersheimes? Okay, eines reichen und bekannten Altersheimes mit einem gewissen Ruf, aber die Bewohner brauchen diesen abgehobenen Quatsch sicher nicht. Soll er doch lieber mehr Personal einstellen, damit bei Veranstaltungen die vorhandenen Angestellten, wie ich, nicht restlos überfordert sind, wenn aus 10 Richtungen jemand ein Glas Wasser verlangt und dann noch meckert, dass es zwei Minuten länger gedauert, bis er bedient wird.

Von einem aber wünscht sich jeder, dass er bald wieder nach einem Getränk fragen kann. Und das ist Monsieur L. Sein Zustand hat sich erstaunlich verbessert und mit ein wenig Hilfe kann er auf einmal wieder wenige Meter laufen. Als mir das am Montag gesagt wurde, hatte ich das Gefühl, in einer verkehrten Welt zu sein. Vor wenigen Tagen hatte es Julie völlig aus der Bahn geworfen, weil Monsieur L zum ersten Mal so etwas wie ein Bewusstsein für seine Umwelt gezeigt hatte, als er unter Schmerzen und sicher auch Todesangst weinend nach seinen Kindern verlangt hatte. Für uns war das ein Zeichen seines Endes und gerade deswegen so schmerzlich. Jetzt auf einmal ist er auf dem besten Weg, sozusagen wieder der Alte zu werden? Ist doch nicht normal. Völlig verrückt. Diese Krankheit macht mit den Menschen was sie will. Sie spielt mit ihnen und das Schlimme ist, dass man absolut nichts dagegen tun kann. Außer sich freuen, wenn Menschen wie Monsieur L dem Sensenmann noch mal ein Schnippchen geschlagen haben. Und danach sieht es zur Zeit aus, wobei es auch sofort wieder in die andere Richtung gehen kann. Eine Art Wettervorhersage, auf die man sich meistens verlassen kann, gibt es für Alzheimer leider nicht.

Monsieur C’s Zustand dagegen hat sich nicht gebessert. Er ist fast nur am Röcheln und Husten und meistens suche ich so schnell wie möglich das Weite, weil ich es kaum aushalte, neben todkranken Menschen zu stehen. Da sind sie mir tot lieber, so verrückt das klingt. Aber vor Leichen habe ich deutlich weniger Angst, als vor Menschen, die langsam und leidvoll auf ihr Ende warten. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Ich habe ja schon viel gelernt in den Monaten, in denen ich hier bin. Ich reagiere deutlich cooler als am Anfang, wenn ein Bewohner gestorben ist und sowieso gehe ich inzwischen mit der ganzen Thematik Tod völlig anders um. Aber neben dem röchelnden Monsieur C halte ich es nicht lange aus. Dabei weiß ich ja aber, dass er sonst kaum einen zum reden hat. Sein Bruder hat wohl aufgegeben, ihm zuzuhören beziehungsweise hat mit seinem eigenen Problemen wohl genug zu tun. Und Besuch kam bisher noch nie. Tochter lebt bei Stuttgart und Frau ist sicher schon länger tot. Deswegen probiere ich, mich so gut wie möglich, am Riemen zu reißen und mir jeden Tag etwas Zeit zu nehmen. Denn wenn es eines gibt, was ich auf keinen Fall will, ist es einsam zu sterben und dementsprechend versuche ich mich auch gegenüber den Bewohnern zu verhalten. Leicht ist es nicht.

Vergleichsweise einfach ist da die Aufgabe, um die mich Nadja die Krankenschwester gebeten hat. Ihre Tochter studiert Jura und braucht bei einigen Textaufgaben Hilfe. Jura wird in Nizza an der Uni ausschließlich auf Englisch unterrichtet und da die Franzosen darin nicht die Besten sind, hat Nadja mich gebeten, etwas zu helfen. Zudem ihre Tochter wegen einer Operation ins Krankenhaus muss und daher wenig Zeit hat, für die baldige Prüfung zu lernen. Ich muss zugeben, dass ich es nicht ganz verstanden habe, warum ich helfen muss, aber da mein Englisch eh total abgenommen hat, seit ich in Frankreich bin, habe ich nicht weiter nachgebohrt. Zudem das Thema ganz interessant ist. Die amerikanische Verfassung, wie sie entstand, und wie sie sich in den Anfängen nach dem Unabhängigkeitskrieg veränderte. Alles wie gesagt auf Englisch. Ich werde hier wie ein Sprachtalent behandelt, da ich der Einzige bin, der drei Sprachen spricht. Ich hielt das immer für eine Selbstverständlichkeit, aber ich merke jetzt, dass es das ganz und gar nicht ist. Vielmehr spiegelt es eher meinen Anspruch an mich selber wieder. Und den erfülle ich hier meiner Meinung nach mehr als genug. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal von mir sagen werde, aber ich bin stolz auf mich. Ich bin in ein fremdes Land gegangen, habe mich in eine andere Sprache eingelebt und bin bereits nach einem Drittel der Zeit auf dem besten Wege, die bisher größte Herausforderung meines Lebens mit einer Zielstrebigkeit zu meistern, die ich in den Jahren in der Schule immer vermisst habe. Schon deswegen ist dieses Jahr in Nizza das Beste, was mir passieren konnte. Weil es meinem Selbstbewusstsein einen unglaublichen Schub gegeben hat.

Und ganz nebenbei ist dann auch schon der 15. Dezember angebrochen und damit mein letzter Arbeitstag in der Colline im Jahr 2008. Aber davon mehr im nächsten Beitrag. Ich hoffe, ihr haltet mir alle schön die Stange ;-)

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