Montag, 9. März 2009

Wochen 11 bis 13

Die Vorweihnachtszeit beginnt - Urlaubsplanungen

Es geht wieder los. Die erste Weihnachtsdekoration schmückt die Straßen. Ich hatte ja schon gedacht, dass man hier im Süden fast ganz darauf verzichtet, da das Wetter eh nie wirklich weihnachtlich ist, aber ich habe mich zum Glück getäuscht. Das ist doch gerade das Schöne an Weihnachten. Dass die ganze Stadt festlich geschmückt ist und wenn es dunkel ist, tausende Lichter die Straßen erhellen. Wäre doch schade, darauf ein Jahr verzichten zu müssen. Muss ich ja aber nicht. Darauf, dass ich wahrscheinlich keine Schneeflocke zu Gesicht bekommen werde, habe ich mich aber bereits eingestellt. In der Colline geht jetzt die Koordination der Weihnachtszeit los. Alle sind eifrig am planen, damit sie ihren Urlaub so früh wie möglich anmelden können, um Zeit für die Familie zu haben. Die kommt bei vielen meiner Kollegen nicht aus der Gegend. Cathy zum Beispiel kommt aus der Basse Normandie. Ihr Bruder und ihr Vater wohnen dort. Ihre Mutter lebt mit ihrem neuen Lebensgefährten allerdings etwas weiter weg. Auf Mauritius. Vorher Madagaskar. Eine weit Entflohene also. Durch die Entfernung kann Cathy ihre Mutter nicht sehr oft sehen. Das letzte Mal vor zwei Jahren. Es ist eben sehr teuer, dorthin zu fliegen und nicht jeder ist scharf darauf, 14 Stunden lang in einem Touristen-Jumbo der Corsair eingepfercht zu sein. So lange dauert ungefähr der Flug von Nizza über Paris nach Mauritius.

Ich hatte meinen Urlaub ja bereits früh geplant und angemeldet. Zum Glück. So ein bisschen bekommt man das Gefühl, dass hier das Motto „Wer zu spät bekommt, den bestraft das Leben“ herrscht. Wer seinen Urlaub zu spät anmeldet, bekommt keinen. Denn logischer Weise muss die medizinische Verpflegung und Betreuung der Bewohner von Irgendjemandem aufrechterhalten werden. Auch über Weihnachten und Neujahr. Sind dann eben die, die keine Kinder, beziehungsweise Familie haben. Oder halt die Pechvögel, die sich zu lange Zeit gelassen haben. Ich fliege am 16. Dezember nach Paris und dann nach Berlin. Alles andere ist mir jetzt egal. Die könnten mir hier nen Stundenlohn von 30 € anbieten, damit ich bleibe. Ich würde es ablehnen. Weihnachten in Berlin ist unbezahlbar. Ich freue mich jeden Tag mehr auf den 22. Dezember, wenn ich in Orly morgens um 6 in die Frühmaschine nach Schönefeld steigen werde. Inzwischen habe ich auch schon ein Abholkommitee organisiert. Na ja, teilweise zumindest. Ich kann schließlich nicht verlangen, um 8 in der Früh in den Osten zu fahren. Da muss man mindestens ne Stunde vorher aus dem Haus. Martin und Marcel werden da sein, haben sie gesagt. Tina und Sanny auch. Mal sehen, wer es dann tatsächlich schafft, sich so früh aus dem Bett zu quälen. Zumal ja Ferien sind zu der Zeit. Nur alleine dastehen will ich nicht. Dazu war ich zu lange weg und irgendjemand wird schon treu genug sein, den alten Simon in Empfang zu nehmen. Ich würde es schließlich auch machen, wenn einer meiner besten Freunde drei Monate weg gewesen wäre. Auf mich kann man sich da verlassen. Mir sind meine Freunde nämlich mehr wert, als alles andere. Denn was wäre man ohne sie? Einsam und verbittert.

Während die anderen also ihren Weihnachtsurlaub beantragten, klärte ich mit Madame Vangioni, der sogenannten surveillante generale, bereits meinen nächsten Urlaub ab. Im März will ich zu meinem Geburtstag nach Hause fliegen. Denn alleine zu feiern, kann ich mir noch weniger vorstellen, als Weihnachten in Nizza zu bleiben. Ich klärte das so früh ab, um noch günstige Flüge zu kriegen. Die werde ich in den nächsten Wochen buchen. Abgesegnet hat Madame Vangioni mir meinen Urlaub nämlich ohne zu murren. Wenn das so weiter geht, wird 2009 ein noch reisefreudigeres Jahr als 2008. Neben den privaten Reisen muss ich im Mai ja noch zu einem Seminar nach Paris und Ende August zum Abschlussseminar. Wo das stattfinden wird, weiß ich noch gar nicht. Wahrscheinlich auch in Paris. Mal sehen, was dazwischen noch so alles an Reisen zusammenkommt. Irgendwie muss ich es ja nutzen, in 14 Ländern ASF-Kollegen zu haben, bei denen man teilweise kostenlos übernachten kann. Ich würde ja am liebsten nach New York. Aber das ist leider am unwahrscheinlichsten. Eher werde ich mich etwas in Frankreich rumtreiben, Jane und Christian in der Normandie besuchen, oder zu Julian nach Marseille fahren. Liegt ja am nächsten und nach Marseille wollte ich eh schon immer mal.


Was geht bei den alten Leuten ab

Bevor ich aber meine ganze Reise –und Entdeckungslust austoben kann, geht die Arbeit natürlich weiter, wie gehabt. Zu vielen Bewohnern habe ich inzwischen ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Das sieht dann immer so aus, als würde sich der junge Hüpfer überall ein bisschen Lebenserfahrung abschneiden und sich dann daraus den großen Klumpen formen, den er nach Beendigung des Jahres den Freunden als Trophäe eines einzigartigen Jahres präsentieren kann. Aber die Bewohner teilen gerne und erzählen viel, wenn man sich die Zeit nimmt, ihnen zuzuhören. Aber auch, wenn sie nichts zu erzählen haben, gibt es ab und zu etwas zum Staunen. Im Centre zum Beispiel lebt eines von zwei Ehepaaren der Colline. Monsieur und Madame H sind zwar beide schon ziemlich senil und vergessen ohne Probleme die Namen ihrer Kinder. Aber wehe, die beiden sind zu lange getrennt. Dann wird gedrängelt, geschmollt und geschimpft. Und ist der andere dann da, sieht man keine alten Leute, die hier wahrscheinlich ihre letzte Stätte gefunden haben, sondern zwei frisch verliebte Teenager. Madame H kann kaum noch eigenständig laufen und sitzt daher im Rollstuhl. Dann weicht er bei den Animationen nie von ihrer Seite. Er hält auch immer ihre Hand und ab und zu flüstert er ihr zu, dass er sie über alles liebt. Sie versteht oft Zusammenhänge nicht mehr, aber wenn ihr Mann das sagt, strahlt sie über das ganze Gesicht und muss gar nicht antworten, weil ihre Augen genug sagen. Ich grinse dann immer und muss mir Mühe geben, nicht zu vergessen, dass die beiden bestimmt schon fast 60 Jahre verheiratet sind. Wie lange genau können die beiden ironischer Weise nicht mehr sagen. Ich frage mich dann immer, ob sie das ist, die perfekte Liebe.

Im Alzheimer-Teil haben wir bereits seit einigen Wochen einen neuen Bewohner. Monsieur H. Ein an sich sehr freundlicher Herr, der bereits 90 Jahre auf dem Buckel hat. Aber nach einer Woche wurde er zunehmend komplizierter. Durch seine Krankheit ist es fast unmöglich, ihm seine Situation begreiflich zu machen. Warum er hier ist, wo er sich hier befindet und wo seine Frau ist, kann man ihm zwar erklären, aber er wird es augenblicklich wieder vergessen haben und weiterhin sauer reagieren, wenn wir ihm jeden Abend aufs Neue erklären müssen, dass er nicht zu sich nach Hause kann, da er jetzt hier wohnt. Er sucht dann weiter alle Zimmer der anderen Bewohner nach seiner Frau ab. Wir hoffen nur, dass er sich irgendwann so benehmen wird, wie die anderen. Die sind zwar genau so krank, haben sich aber inzwischen so an ihre Situation gewöhnt, dass sie sie akzeptieren und genau wissen, warum sie hier sind. Dazu braucht es aber etwas Geduld, denn nicht bei jedem Bewohner geht das auf Anhieb, wenn er neu bei uns ist. Und es braucht Ruhe und Verständnis von unserer Seite. So können wir die Bewohner am besten unterstützen. Marie ist aber leider alles andere als geduldig und verständnisvoll. Die Krankenpflegerin ist generell eher dynamisch und aufbrausend. Im Grunde genommen auch bevormundend.

Und diese Kombination lies die Situation mit Monsieur H. eines Abends eskalieren. Ich wollte gerade Feierabend machen und meine Sachen aus dem Schwesternzimmer holen, als Monsieur H. wieder einmal fragte, wo der Ausgang sei. Er wolle nach Hause. Marie, sowieso genervt von Allem und Jedem, machte ihm mehr oder weniger hart klar, dass er hier bleiben müsse. Das rief bei ihm natürlich Unverständnis hervor und die beiden steigerten sich so in die Angelegenheit hinein, bis er sich am Türrahmen des Schwesternzimmers festklammerte, und uns nicht hinaus lassen wollte. Marie probierte dann, in einer unachtsamen Sekunde unter seinen Armen durchzuhuschen, aber er packte ihre Hand und lies sie nicht mehr los. So, wie ein angeschlagenes Tier, wehrte er sich nun mit seiner ganzen Kraft gegen seine Inhaftierung, wie er es nannte. Und trotz seiner 90 Jahre hat er noch gewaltig Kraft in den Armen. Er drückte Maries Hand so fest zusammen, bis sie vor Schmerz schrie. Ich stand mehr oder weniger hilflos dabei. Keine Ahnung, was ich in so einer Situation machen sollte. Cathy, auf der anderen Seite der Tür, probierte zwar, ihm zu erklären, dass er auf Grund seiner Krankheit nicht mehr bei sich zu Hause wohnen könne, aber genau das ist eines der vielen Probleme, die die Krankheit Alzheimer so tückisch macht. Die betroffenen Personen sehen die Lage komplett anders und fühlen sich hilflos und mit Gewalt festgehalten.

Ich stand nun also da und überlegte, was ich tun könnte, da sich die Situation immer verschlimmerte. Mit meinen 20 Jahren wäre es kein Problem, ihn mit bloßer Brutalität von Marie loszureißen. Damit würde ich allerdings leicht Gefahr laufen, ihn zu verletzen. Wollte ich aber nicht. In der Zwischenzeit waren noch andere Krankenschwestern gekommen. Die hatten aber alle nicht genug Kraft, Monsieur H. von Marie zu trennen. Und so griff ich energisch seine Hände und drückte mich zwischen die beiden. Er war wirklich noch verdammt rüstig, aber ich war schneller und stärker. Ich drückte ihn aus der Tür und schob ihn auf den Flur. Ich ging mit ihm in den Aufenthaltsraum, wo die anderen Bewohner seelenruhig saßen und Zeitung lasen. Wir setzten uns hin und ich beruhigte ihn etwas. Cathy löste mich dann ab, denn ich wollte nach Hause. Hoffentlich bessert sich sein Zustand so schnell wie möglich, sonst haben wir jeden Abend den selben Mist. Das sind die Momente, die den Job erst richtig hart machen. Auf das ständige Wiederholen von Fragen kann man sich einstellen, aber es ist zermürbend, wenn man einen aggressiven Bewohner vor sich hat und weiß, dass er im Grunde genommen überhaupt nichts dafür kann. Ich habe eine scheiß Angst vor dieser Krankheit. Die wünscht man nicht mal seinem größten Feind. Sich selber am allerwenigsten.

Im Batiment Nord gibt es Probleme dieser Art nicht. Dort leiden die Bewohner eher unter physischen Gebrechen. Wenn der Körper nicht mehr so will, wie er soll. Einer von denen, mit denen ich inzwischen einen etwas regeren Kontakt pflege, Ist Monsieur C. Seine rechte Körperhälfte ist zunehmend gelähmt, jede Woche ein bisschen mehr. Warum weiß ich nicht. Zudem hat er immer stärkere Atemprobleme, sodass er das Bett immer seltener verlässt. Er ist einer der wenigen Bewohner, der Deutsch spricht. Er war im Krieg in Deutschland inhaftiert. Als alles vorbei war, hat er sich eine deutsche Frau angelacht und ein Kind gezeugt. Seine Tochter ist in Deutschland geboren und lebt bis heute in der Nähe von Stuttgart. Französisch spricht sie nur sehr wenig und der Kontakt zu ihrem Vater ist nicht der beste. Das weiß ich alles von seinem Bruder, mit dem Monsieur C. sein Zimmer teilt. Der spricht kein Wort Deutsch, redet aber dafür umso mehr auf Französisch mit mir. Beide freuen sich immer sehr, wenn ich mir etwas Zeit für sie nehme. Wenn er mich sieht, spricht mich Monsieur C. auch nie auf Französisch, sondern grundsätzlich nur auf Deutsch an. Er hat so viel verlernt, sagt er, dass er sich freut, es mit jemanden wieder etwas auffrischen zu können. Na ja, eigentlich ist das nicht Sinn der Sache. Ich will Französisch lernen, aber etwas Heimat kann ab und zu ja nicht schaden.


Ausflüge

Die Donners- tagsausflüge führten uns in diesen Wochen nach Biot, Villeneuve und Antibes. Alles westlich von Nizza gelegen. Mit Biot waren wir zum ersten Mal in einem kleinen Dorf, das nicht an der Küste, sondern etwas im Landesinneren liegt. In der Region und bei Insidern auf der ganzen Welt ist es für eine ganz bestimmte Sache bekannt. Für seine Glasbläsereien. Über 30 davon findet man dort noch heute und alle stellen sie nach alter Tradition edelste Gegenstände aus Glas her. In eine davon fuhren wir. Eintritt kostet es keinen und für unsere Bewohner war es sehr interessant, den Leuten beim Glasblasen zuzusehen. Ich finde es auch immer wieder faszinierend, wie aus einem klumpigen Etwas eine verzierte Vase wird. Das erste Mal war ich im Krongut Bornstedt bei Potsdam in einer Glasbläserei und ich glaube, ich habe über eine Stunde lang zugeschaut. In Biot schauten wir nicht ganz so lange zu, dazu fehlt den Bewohnern die Geduld.

Außerdem war da noch der Verkaufsraum, in dem man die Sachen gleich nach der Herstellung kaufen kann, wenn man das passende Kleingeld hat. Guy hat es irgendwie hinbekommen, dass eine der Verkäuferinnen mir plötzlich einen Schein in die Hand drückte, mit dem ich einen nicht unerheblichen Rabatt auf jeden käuflichen Gegenstand bekommen sollte. Eigentlich wollte ich nichts kaufen, aber dann fiel mir ein, dass ja bald Weihnachten war und ich noch kein Geschenk für meine Mutter hatte. Sie steht auf Blumen und so musste ich nicht lange suchen, bis ich eine wunderschöne Vase gefunden hatte. Die war erst durch den Rabatt bezahlbar geworden. Ich ließ sie mir sehr gut einpacken, da ich erklärte, dass sie eine Reise von Nizza über Paris nach Berlin im Flugzeug heil überstehen sollte. Aber die kennen ihr Handwerk gut und wissen, dass Glas leicht zerbrechlich ist. Na schau mal an. Guy kaufte auch etwas für seine Frau und zufrieden kehrten wir in die hauseigene Kneipe ein, wo ich meine heiße Schokolade bestellte.

Villeneuve, in das es eine Woche später ging, liegt zwischen Nizza und Cagnes direkt hinter dem Flughafen. Ich hatte ja schon mal beschrieben, dass die Ortschaften hier so ausfransen, dass man kaum noch weiß, wann ein Ort endet und wo der nächste beginnt. Genau so verhält es sich bei Villeneuve und Cagnes. Für mich als Entdecker, ein Ort mit zwei Namen. Villeneuve hat eine niedliche Strandpromenade. Im Gegensatz zu Cagnes liegt die aber nicht direkt an einer Straße und so sind die Restaurants und Cafés dort etwas ruhiger. In eines davon gingen wir.

Große Lust auf einen Spaziergang hatte keiner der Bewohner, und es war zugegebener Maßen auch arschkalt. Während sich die anderen unterhielten, beobachtete ich die Flugzeuge, die bei Westwind, nicht weit von der Strandpromenade, landeten. Zum "Spotten" findet man hier sicher einige gute Plätze. Muss ich mal an einem Wochenende mit dem Rad hin, wenn der Wind aus der richtigen Richtung weht. Bevor wir gingen, machte ich noch einige Bilder. Wenn man genau hinsieht, erkennt man ein Flugzeug, nicht größer als ein kleiner Punkt. Aber der Himmel sieht toll aus. Möwen gibt’s da auch, aber die sind eher gelangweilt von dem ganzen Trubel am Himmel.

An dem Tag, an dem wir nach Antibes fuhren, hat es nur geregnet. Aussteigen war daher nicht drin. Mehr oder weniger improvisiert war daher Guys Idee, mit dem Auto durch den Hafen von Antibes zu fahren, in dem im Winter die vielen Luxuskreuzer der Reichen liegen. Dieser Teil wäre im Sommer normaler Weise für „normale“ Menschen geschlossen, aber da im Winter eh kaum Touristen da waren, sparte man sich den Aufwand. Wer wäre schon so blöd, eine gut bewachte Jacht zu klauen, für die man eh eine ganze Crew bräuchte, um abhauen zu können... So kamen wir so nah an die Schiffe, wie sonst kaum einer. Und auch hier war wieder eines größer als das andere. Lagen in Nizza maximal 2 oder 3 dieser Größe im Hafen, waren es hier über 20, Seite an Seite, alle doppelt so breit wie unser Auto lang war. Und auf jedem Schiff sah man Leute. Das wären aber nicht die Besitzer, sondern Angestellte, die es über den Winter in Schuss hielten. Da wurde mir klar, dass man nicht nur die Kohle für das Schiff braucht, sondern auch für die Leute, die darauf arbeiten. Egal, ob der Besitzer an Bord ist, oder nicht. Guy erzählte, dass es teilweise 20 Leute seien. Köche, Putzfrauen etc.

Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Ich habe ja schon einige Male Ferien auf einem Hausboot gemacht, auf dem 7 Leute fahren und schlafen können. Dann ist es aber relativ eng und von Luxus kann man nicht gerade reden. Auf den Teilen hier könnten locker 7 Familien unterkommen, für jede eine Küche und zwei Badezimmer, versteht sich. Bei so viel Reichtum lief mir langsam aber sicher die Galle über. Auf der einen Seite verhungern auf den Straßen, vor den Augen der Passanten, die Bettler, weil sie nichts zu essen haben, und wenige Kilometer entfernt, liegen Schiffe in den Häfen, die locker Platz für jeden einzelnen von ihnen hätten. Nach der Zeit, die ich jetzt schon hier bin, sehe ich einige Dinge inzwischen durchaus kritisch. Eine Armut, die dermaßen offensichtlich und krass, wie die in Frankreich ist, gibt es in Deutschland meiner Meinung nach nicht. Und ich lehne mich, glaube ich, nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass die sozialen Unterschiede, beziehungsweise Begebenheiten, an keinem anderem Ort in Frankreich so krass auseinander klaffen, wie an der Côte d’Azur. Nirgendwo sonst liegen arm und reich dermaßen nahe beieinander.

An keinem Ort in Deutschland habe ich jemals so viele Obdachlose auf den Bürgersteigen liegen sehen, die leeren Wodkaflaschen direkt daneben oder mitten auf dem Weg liegend, so dass die anderen Leute über sie hinweg steigen müssen. Ich frage mich jedes Mal, wie diese Menschen den Winter überstehen können. Bei einem Obdachlosen in Deutschland habe ich mich das noch nie gefragt. Zufall? Ich weiß nicht, wie ich es besser sagen kann, aber wenn ich einen Obdachlosen in Berlin sehe, denke ich an Suppenküche und Obdachlosenheim. In Nizza denke ich an Tod...

An keinem Ort in Berlin sind die Obdachlosen so Teil der Landschaft, wie es hier der Fall ist. Es erschreckt mich immer wieder, wenn ich jemanden, nur in einen Schlafsack gehüllt, vor einer Haustür liegen sehe und er sich nicht bewegt. Ich frage mich jedes Mal, ob derjenige überhaupt noch lebt. Wer kontrolliert das? Die Nächte sind inzwischen bitterkalt geworden. Und dann sind da diese Schiffe. Diese extremen Gegensätze gehören sicherlich zu den schwarzen Seiten der Côte d’Azur. Dort, wo sich Freud und Leid treffen.


Monsieur L macht allen zu schaffen

Vom Leid der Menschen kriege ich auf Arbeit auch genug mit. Monsieur L´s Zustand hat sich weiter verschlechtert. An einem Mittwoch war es ganz schlimm. Ich war alleine mit Julie auf Schicht im batiment sud und sie war einige Minuten bei ihm. Als sie zurückkam, sagte sie, er hätte geweint und erklärt, dass er Angst hätte und seine Kinder sehen wollte. Ganz komisch, diese Vorstellung. In seinen besseren Zeiten habe ich ihn nie ein logisches Wort oder einen Satz mit Zusammenhang sagen hören und jetzt das. Es scheint zu Ende zu gehen mit ihm, und er spürt das so deutlich, dass er Sachen sagen und sich ausdrücken kann, die er in gesünderen Zeiten nicht zu Stande gebracht hätte. Julie hat das ziemlich mitgenommen, ihn so zu sehen und als sie weinend und völlig aufgelöst da saß, war außer mir keiner da, der sie trösten konnte. Ich habe mich etwas um sie gekümmert, aber ich hoffe, dass sich die Gründe dafür nicht häufen werden. Ich sehe sie lieber lächeln. Und die Bewohner lieber munter. Aber Monsieur L wird sterben, das fühlen Julie und ich irgendwie. Vielleicht ist es das Beste für ihn. Dann wird er endlich von seinen Leiden erlöst und mit Ende 80 hat er sein Leben ja auch schon gut gelebt.

Ich habe trotzdem Angst, dass er hier stirbt. Ich bin 20, der Tod hat in meinem Leben doch eigentlich noch nichts zu suchen. In meinem Alter beschäftigt man sich mit anderen Dingen. Aber eine Wahl habe ich ja nicht wirklich. Um es positiv zu sehen: Lieber früher sich mit der Materie vertaut machen, als zu spät. Mit einem wundervollen Himmel, kurz nach dem die Sonne am Horizont verschwunden war, verabschiede ich mich wieder für diese Wochen. Möge Monsieur L´s Sonne nicht das letzte Mal untergegangen sein.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Hi Simon, wer hat dich denn da fotografiert? Du dich etwa wieder selbst? Kicher!
Simon, kannst du dich nicht mehr an den Yachthafen in Port d'Andratx auf Mallorca erinnern, wo wir mit Anja und Elisa waren? Da lagen doch auch Unmengen solcher Luxusyachten. Genau wie auf deinem Bild. Sicher hattest du da nur Augen für was anderes...
Hasi es la Vida, kann ich da nur sagen!
Deine Mutter

Anonym hat gesagt…

Noch was! Irgendwie stimmt diese Uhrzeit nicht. Demnach soll mein geschriebenes 10.52 Uhr reingestellt worden sein, jetzt ist aber gerade 18.59 Uhr.
Kannst du die Uhrzeit einstellen?
Gruß deine Mutter