Eine Station musste ich mit der Metro fahren und von dort dann noch einige Meter bis zum Foyer laufen. Es war bereits 14:30 Uhr und durch die Verspätung meines Fluges würde ich bestimmt einer der letzten Freiwilligen sein. Wir waren den Weg vom Foyer zur Metrostation im September einige Male gelaufen, aber andersrum hatte ich mir den Weg nie wirklich eingeprägt, da ich ihn nie alleine bewältigen musste. Ich blieb also kurz stehen. Irgendwo musste ich links abbiegen. Aber wo? Ich hatte echt keine Ahnung, ob es diese, die nächste, oder doch die übernächste Straße war. Ich bog dann einfach auf gut Glück ab, merkte aber bald, dass ich nicht richtig war. Ich lief aber weiter und kam bald an dem kleinen Park vorbei, in dem wir im September das Picknick gemacht hatten. Super, von dort aus kannte ich den Weg zum Foyer. Ich war nur eine Straße zu früh abgebogen. Vorm Foyer angekommen, merkte ich, dass ich den Code der Tür vergessen hatte. Auch so ne französische Macke. Die stehen total auf Türen mit Zahlenkombinationen. Die meisten Einrichtungen haben das hier. Selbst viele normale Wohnhäuser. In Deutschland reichen Schlüssel.
Gleich neben der Tür im Erdgeschoss befindet sich der große Konferenzsaal, in dem sich bereits viele Freiwillige befanden. Da das Fenster offen war, rief ich einfach rein und fragte nach dem Code. Dann war ich drin und konnte meine Sachen abstellen und allen Hallo sagen. Ich war tatsächlich fast der Letzte. Und so hatte ich mal wieder meinen besonderen Auftritt. Der einzige, der mit dem Flugzeug angereist war. Ich kam mir schrecklich cool vor:
„Sorry Leute, mein Flug hatte wegen dem scheiß Wetter Verspätung.“
„Ach, du bist geflogen? Warum das denn?“
„Erstens, weil der TGV genau so viel kostet, es zweitens anstatt 6 Stunden nur 1 Stunde und 20 Minuten dauert und drittens einfach cooler kommt. Findet ihr nicht?“
Man kann sagen, dass die Stimmung sehr entspannt war und sich alle viel zu erzählen hatten. Standardfrage natürlich, wie es im Projekt so laufe und wie die Fahrt war. Ach ja, du bist ja geflogen, hörte ich dann immer, und jedes Mal musste ich innerlich grinsen. Ich hatte es am Anfang nicht so wahrgenommen, aber langsam merkte ich, dass ich durch meine Projektlage sozusagen der Bonze unter den Frankreich-Freiwilligen war. Die Côte d’Azur ist für Europa so was wie Miami Beach für die USA. Der Ort für die Reichen und Schönen. Dort, wo sich der internationale Jetset die Klinke in die Hand drückt. Ich hatte damit zwar weniger zu tun, aber trotzdem war ich jetzt ein Teil davon.
Ich bemerkte, dass sich jeder Freiwillige irgendwie automatisch mit der Gegend identifizierte, in der er lebt und arbeitet und auch von den anderen damit identifiziert wird. Ein erstaunliches Phänomen. In den Köpfen der Anderen war ich damit eben einfach der Kerl aus dem sonnigen und reichen Süden, wo eigentlich nur die leben, die entweder dort geboren wurden, oder genug Kohle haben, um dort Urlaub zu machen. Ich war weder das eine, noch hatte ich das andere und das machte mich nur scheinbar zum Bonzen. Ich benahm mich lustiger Weise aber auch dementsprechend. Aber was soll ich sagen. Ich kann mit meinem Image sehr gut leben. Ich habe geographisch einfach das große Los gezogen. Und natürlich hätte der Zug gereicht. Hab ja aber nen Ruf zu verlieren.
Wie ja schon einmal erwähnt, wurde das Seminar so organisiert, dass wir es mit französischen Freiwilligen zusammen durchführen konnten, die auch bereits alle da waren. Mit den ersten machten wir schon flüchtig Bekanntschaft. Wir wurden aber von unseren Teamern, also Nicola, Heidi, Idan sowie den Leitern der französischen Freiwilligen, unterbrochen, um eine wichtige Angelegenheit vorweg zu klären. Die Zimmerverteilung. Die kleine Empfangshalle des Foyers ist für so viele Leute und deren Koffer nicht ausgelegt. Das Gepäck stapelte sich daher teilweise bis zur Decke und an einigen Stellen war ein Durchkommen nicht mehr möglich. Nachdem alle aufgeteilt waren, sollten alle ihr Gepäck auf ihre Zimmer bringen. Im September waren wir nur 18 Freiwillige gewesen, aber jetzt, mit den Franzosen waren wir fast 40. Eine echte logistische Herausforderung für so ein enges Haus.
Wir hatten eine halbe Stunde Zeit, um uns auf den Zimmern einzurichten und uns nach den Reisestrapazen kurz zu duschen. Machten auch fast alle. Ich war zwar nicht so lange unterwegs gewesen, ohne das Warten wegen der Verspätung des Fluges knappe drei Stunden, aber ich hatte mit meinem Koffer wieder einiges zu schleppen. Der war wie im September randvoll, da bringen einen Treppen auch im kalten Dezember ins Schwitzen. Die anderen hatten ebenfalls viel Gepäck dabei, da fast alle, wie ich, nach dem Seminar nach Deutschland weiterreisen würden, um Weihnachten mit der Familie zu feiern. Da freute sich hier jeder drauf. Ist ja auch logisch, nach fast 4 Monaten in Frankreich.

Der Witz sollte der sein, dass nicht einfach jeder seinen Namen sagen sollte und dann der nächste dran sein würde. Marke „Hallo, ich bin Marko und bin seit gestern trockener Alkoholiker“. Nein, es wurde einfach ein Gedächtnistraining daraus gemacht, indem jeder die Namen seiner Vorredner gleich mitsagen sollte. Derjenige, der anfing, hatte es da ja noch leicht, aber denkt mal an die arme Sau am Schluss, die 40 Leute vor sich hatte. Zumal es ja nicht nur banale Namen wie Peter oder Dieter waren. Mit den Namen der Franzosen hatten wir so unsere Probleme. Ich hatte Glück, unter ihnen war ein Simon und ich war mehr oder weniger in der Mitte. Alle Namen hab ich aber trotzdem nicht zusammenbekommen. Ach so, ich habe noch gar nicht erwähnt, dass die Franzosen bis auf zwei oder drei Ausnahmen kein Wort Deutsch sprachen und das Seminar daher durchweg auf Französisch gehalten wurde.
Es folgten noch einige weitere drollige Spiele. Der Sinn eines davon war wohl, etwas über die anderen im Bezug auf ihr freiwilliges Jahr herauszufinden. Dazu standen alle auf, eine Person sollte vortreten und etwas über sich und ihren Arbeitsalltag sagen und diejenigen, die sich damit identifizierten, sollten ebenfalls vortreten und sich in gewissen Momenten mehr oder weniger outen. Als eine Französin herausschmetterte, sie würde den Chef ihres Projektes nicht leiden können, was glaubt ihr, wer der erste war, der einen großen Schritt nach vorne machte...
Als die Gruppensitzung zu Ende war, kannten wir uns auf jeden Fall schon deutlich besser und lustig war es auch gewesen. Trotzdem hatten wir inzwischen Hunger. Ich hatte zuletzt um 9 Uhr morgens in Nizza am Flughafen etwas gegessen und inzwischen war es 19 Uhr. Zwischendurch kamen wir ja zu nichts. Auch typisch ASF. Die Seminarprogramme sind für die Dauer der Seminare immer chronisch überfüllt. Für ordentlich Essen nach der Ankunft ist da natürlich keine Zeit. Wir wurden ja aber erlöst und zu Fuß ging es durch die Straßen unseres Kiezes, bis wir in einer modernen Wohnsiedlung angekommen waren, in deren großem Innenhof uns ein einladender Laden mit dem Namen Moulin Café in Empfang nahm. Dort sorgten größtenteils ehrenamtliche Leute für eine preiswerte Verköstigung von Jugendgruppen, Schulklassen und ähnlichem. Und eben ASF plus Franzosen mit schwierigen Namen im Schlepptau. Es schmeckte auch wirklich gut und nach rund zwei Stunden ging es zurück ins Foyer. Die meisten machten nicht mehr lange und gingen früh ins Bett, um sich von der Reise zu erholen. Einige wenige zogen noch los, aber auch sie waren weit vor Mitternacht wieder da. Ich dagegen nutzte die seltene Möglichkeit, auch mal nach 21:30 Uhr im Internet zu surfen. Kam ja kein letzter Bus, den ich erwischen musste. Und das w-lan im Foyer wollte schließlich genutzt sein.
Der nächste Tag war vom Wetter her deutlich besser. Strahlend blauer Himmel und viel wärmer als am Vortag war es auch. Der erste Programmpunkt an diesem Morgen sah direkt nach dem Frühstück, das immer bis 9:30 Uhr ging, ein Meeting im großen Saal des Foyers vor. Dort wurde das Übliche Geplänkel abgehalten. Verrückte Spiele, wie sich in einen Kreis stellen, die Augen schließen, sich steif stellen und sich wie eine Boje hin und her schubsen lassen. Sinn der Sache? Vertrauen aufbauen zu Leuten, die man nicht oder kaum kennt, dass sie einen nicht fallen und dumpf auf den Boden aufschlagen lassen. Manchmal sind mir die Methoden von ASF etwas zu new age-mäßig und zu weit vom eigentlichen Themenschwerpunkt entfernt. Aber am Ende sieht man überraschender Weise immer einen gewissen Sinn in den Aktionen. Man muss nur lange genug suchen.
Nach dem Morgenmeeting ging es wieder ins Moulin Café zum Mittagessen und danach statteten wir einer Kiezeinrichtung einen Besuch ab, zu der ASF engere Kontakte pflegt. Dieses Projekt hatte es sich zur Aufgabe gemacht, aus eigener Kraft eine Art Kiezverwaltung aufzubauen, die sich um die üblichen Angelegenheiten kümmert, die dort so anfallen. Kiezpolizei, Streitschlichtung, Projekt schönere Spielplätze und sicherere Straßen und auch Unterstützung von finanziell schwachen Familien. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, gehört dazu unter anderem auch ein Programm für Eltern und vor allem junge Mütter, das ihnen helfen soll, wie sie sich in Konfliktsituationen mit ihren Kindern verhalten sollen. An sich alles sehr interessant, aber irgendwie wurde mir der Zusammenhang zu ASF und den Themengebieten unserer Projekte nicht direkt bewusst. Klar, der soziale Zusammenhang ist logisch, aber es passte halt so gar nicht zu den sonst üblichen Punkten auf der ASF-Programmliste. Und dann war da noch eine Frau des Kiezprojektes, die eine halbe Stunde lang so schnell ihren Vortrag runterrasselte, dass ich und die meisten anderen bereits nach 2 Minuten aufgegeben hatten, etwas zu verstehen. Wir waren erst 4 Monate hier, so schnell geht das mit dem Sprachverständnis dann nun doch nicht.



Das Essen in der Unikantine konnten wir uns selber zusammenstellen, solange es 6 Punkte nicht überschritt. Ein Apfel zum Nachtisch stellte zum Beispiel einen Punkt dar, das Hauptgericht drei. Je nachdem, ob man Wert auf einen größeren Nachtisch oder eine größere Vorspeise legte, konnte man also frei wählen. Ich nahm einen Salat als Vorspeise und eine Ananasscheibe als Dessert. Auf jeden Fall wurde jeder satt und als wir in Richtung Foyer aufbrachen, war es schon wieder 21 Uhr. Unterwegs machten wir Halt und deckten uns mit Wein und Bier ein. Der erste deutsch-französische Gemeinschaftsabend also. Kurzer Hand wurde die vierte Etage des Foyers, an die auch die Terrasse grenzt, in eine multinationale Partyzone umgewandelt. Musik kam unter anderem aus meinem Laptop, den ich ja zum Glück überall mit hin schleppte. Und mit über 30 GB Musik kann sich die Auswahl auf jeden Fall sehen lassen.
Bis um drei wurde gesungen, getrunken, den Franzosen verzweifelt versucht etwas Deutsch beizubringen und viel gelacht. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie scheinen Deutsche und Franzosen gut zueinander zu passen. Vielleicht gerade wegen der kriegerischen Vergangenheit. Alle paar Jahre ging es von vorne los und weiß der Geier, wie oft Elsass und Lothringen den Besitzer wechseln mussten. Je nachdem, wer halt gerade den letzten Krieg gewonnen hatte. Heute sind wir vielleicht endlich so weit, dass uns gerade diese Konflikte, inklusive der beiden Weltkriege, zusammenschweißen. Jahrhunderte haben wir uns bekriegt, bis wir begriffen haben, dass wir eigentlich gar nicht so verschieden sind, die selbe Kultur haben und es gemeinsam viel mehr Spaß macht, als sich ständig die Köpfe einzuschlagen. Dieser Abend auf der Dachterrasse eines Pariser Hauses war ein gutes Beispiel dafür. Wie hat einer von uns so schön gesagt: „Von mir aus könnt ihr das Elsass haben. Wir haben dafür das bessere Bier und die schöneren Autos.“
Durch das Feiern fiel uns das Aufstehen natürlich nicht gerade leichter und bei einigen war es besser, sie beim Frühstück gar nicht erst anzusprechen. Nach dem Frühstück gab es die Auswertungsgespräche mit unseren Leitern, also Nicola, Idan und Heidi. Die wollten natürlich wissen, wie es in unseren Projekten angelaufen sei, da sie uns seit dem Beginn des Dienstes im September nicht mehr gesehen hatten. Natürlich wussten sie durch den E-Mail-Kontakt und die übliche Mundpropaganda in etwa bescheid über ihre Schützlinge, aber jetzt nahm man sich eben noch mal etwas mehr Zeit.
Schon beim Frühstück hatte Matthi, der in der Arche Paris arbeitet und damit eigentlich mein Kollege hätte werden sollen, die spontane Idee, zu einem Fussballspiel von Paris St. Germain zu gehen. Die würden am späten Abend im UEFA-Cup gegen den holländischen Vertreter Twente Enschede spielen. Da aber nicht sicher war, ob es noch Karten geben würde und wie viel sie kosten würden, ließen wir die Idee erst mal im Raum stehen. Eine kleine Gruppe hatte sich aber gefunden, die gerne hingehen würde, ich war natürlich mit dabei. So was lass ich mir doch nicht entgehen, wenn es sich anbietet.

Wir schlenderten gemütlich über den weihnachtlich geschmückten und leuchtend strahlenden Champs Elysee. Ziel für einige von uns war der PSG-Fanshop, in dem man natürlich auch Karten für deren Spiele kaufen kann. PSG ist die geläufige Abkürzung für den bekannten Fußballclub Paris St. Germain. Als wir dort waren, musste ich an Benny denken. Dem würden dort sicher die Augen ausfallen. Wirklich alles, was das Fußballerherz begehrt.


Es klingelte nach nicht mal 20 Minuten zum ersten Mal. PSG wurde seiner Favoritenrolle gerecht, aber ob sie mit 4 Toren unterschied gewinnen würden? Kurz vor der Pause fiel das 2:0 und alle hofften, dass die zweite Halbzeit genauso laufen würde. Den Gästen aus Enschede gelang auch in der zweiten Halbzeit kein vernünftiger und gefährlicher Angriff und so fiel nach 60 Minuten das 3:0. Und als dann eine Viertelstunde vor Schluss das erlösende 4:0 fiel, war das ganze Stadion, das allerdings nicht mal zur Hälfte gefüllt war, total aus dem Häuschen. Bis auf einen kleinen Bereich. Das war die Gästetribüne. Das war inzwischen schon eine deutliche Niederlage, zudem PSG kurz vor dem 4:0 sogar noch einen Elfmeter vergeben hatte. Es hätte also schon 5:0 stehen können, aber darüber meckerte beim Abpfiff natürlich niemand mehr. PSG war in der nächsten Runde und alle hatten ein tolles Spiel gesehen. Wir waren auch restlos begeistert. Da ist man einmal bei einem Spiel live dabei und gleich fallen 4 Tore. So muss das sein. Zufrieden fuhren wir zurück ins Foyer. Die anderen waren teilweise schon im Bett. War ja auch spät. Es war aber auf jeden Fall das absolute Highlight der Seminartage gewesen. Die besten Bilder findet ihr in einem Album ganz oben auf der linken Bildseite.
Die verbleibenden zwei Tage gingen relativ schnell rum, auch wenn nichts besonderes mehr passierte. Viel laufen und diskutieren eben. Am 21. Dezember war das Seminar offiziell zu Ende. Ich flog aber erst einen Tag später nach Berlin. Als alle anderen abgereist waren, machte ich mich noch mal zum Eiffelturm auf und schaute mir einen kleinen Weihnachtsmarkt an. Meinen Koffer hatte ich im Foyer gelassen, da störte er keinen. Als es dämmerte, fuhr ich zurück und setzte mich in der vierten Etage im Aufenthaltsraum an meinen Laptop. Irgendwie musste ich ja die Zeit totschlagen, mein Flug würde erst um 6 Uhr am nächsten Morgen starten. Bis dahin war eben Internet angesagt. Die Vorfreude wuchs mit jeder Stunde, die ich dem Abflug näher kam und mit jeder Sekunde fieberte ich mehr dem Moment entgegen, in dem ich in Berlin aus dem Flugzeug steigen und wieder daheim sein würde. Zum ersten Mal seit fast 4 Monaten.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen