Das Programm am nächsten Morgen, Freitag den 12. September, begann erst um 10 Uhr, sodass man entweder lange schlafen, oder ausgiebig frühstücken konnte. Wir wurden nochmals in aller Herzlichkeit begrüßt und dann wurde das weitere Programm bekannt gegeben. Schnell gesagt waren das die Präsentationen, die wir vorbereitet hatten (oder auch nicht), ein Besuch im Memorial Center of the Shoa (ich glaube, das war der Name), ein Vortrag von einem Herren, dessen Namen ich vergessen habe, der sehr interessant war und sich hauptsächlich mit der Aufbereitung des Judenmordes auf französischer Seite befasste und wie man in Frankreich damit umgeht (Stichwort Vichy-Regime), Einzelgespräche inklusive Aushändigung der Fahrkarte zum Projekt mit Nicola oder Idan und zwei Picknicks (ist das der Plural von Picknick und schreibt man Picknick überhaupt so??).

Paris ist toll. Wenn man von der Metro mal absieht. Obwohl sie ohne Gepäck eigentlich total in Ordnung ist. Paris kann froh sein, dass es von den deutschen Truppen relativ schnell besetzt wurde und daher nicht durch Bomben zerstört wurde, wie Berlin. Die Häuser sind toll erhalten und schön renoviert. Die Massen an Touristen machen deutlich, dass man in einer richtigen Weltstadt ist.

Am ersten freien Abend, einem Freitag, liefen wir nach dem Programm stundenlang durch die Stadt, immer an der Seine entlang in Richtung Eiffelturm. Ich liebe die Seine. War auch die beste Idee, an ihr entlang zu schlendern, denn viele Straßen waren gesperrt, da der Papst in der Stadt war. Als wir in der Straße gegenüber vom Louvre standen, fuhr er an uns vorbei. Glaubten wir zumindest, denn wer sollte sonst in so einer großen Auto-Karawane sitzen, die mit viel Blaulicht begleitet wurde. Es war ein herrlicher Abend, vom Louvre habe ich richtig geile Bilder gemacht.

Vom Louvre folgten wir der Seine bis zum Eiffelturm, dann nur noch zu dritt, die anderen hatten sich abgesetzt, aber Jane, Christian und ich hatten keinen Bock auf die Hetze.
Wir beziehungsweise ich blieben alle 5 Meter stehen, um zu knippsen wie die Weltmeister. Auf einer Brücke machten wir dann noch eine Trinkpause.

Jane vertraute mir nicht so recht, ob ich wüsste, wo die Metrostation Trocadero war, von der aus wir nach Hause fahren wollten. Ich wusste aber trotzdem, wo es langging, war ja erst wenige Monate vorher schon mal hier gewesen. Die Strecke zog sich nur lang wie Kaugummi, es folgte Ecke um Ecke und immer wieder fragte sie, ob ich sicher sei, wo wir seien. Aber da die Station nicht weit vom Eiffelturm entfernt ist und dieser immer in Sichtweite war, war eigentlich klar, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Nach insgesamt über 3 Stunden laufen kamen wir dann auch am Eiffelturm an, der in Europafarben strahlte, inklusive den 12 Sternen. Was für ein Anblick.

Von so was kann ich mich nie satt sehen. Was für eine Stadt. Insgeheim hätte ich mir am liebsten in den Arsch gebissen, dass es mit Paris nicht klappte. Es wäre genau die Sorte Metropole gewesen, in der ich es ausgehalten hätte, als Trostpflaster für Berlin sozusagen. Ich fühle mich in riesigen Städten einfach am wohlsten. Aber ich war froh, überhaupt in Frankreich zu sein. Hier ist es super. Die Leute sind viel freundlicher und persönlicher als die distanzierten Deutschen.

Von Nicola wurden wir zudem über einige Dinge aufgeklärt, die typisch französisch seien. Zum Beispiel rote Ampeln. Rot heißt für Fußgänger nämlich nicht, dass man nicht laufen darf. Laufen darf beziehungsweise sollte man nicht, wenn ein Auto kommt. Ansonsten laufen alle rüber, wenn frei ist. Man setzt also auf den gesunden Menschenverstand. In Deutschland wird der oft durch Regeln und Gesetze ersetzt. Ein Deutscher fühlt sich ohne Regeln, an die er sich halten kann nicht wohl, also läuft er auch nicht bei rot über die Ampel, egal, ob ein Auto zu sehen ist oder nicht. Wenn man es eilig hat natürlich nicht und Jugendliche halten sich in Deutschland auch nicht dran, aber wenn man das mal beobachtet, stimmt das trotzdem. Wenn ihr mal nachdenkt, standet ihr sicher schon mal nachts nach einer Party an einer großen Kreuzung, weit und breit kein Auto zu sehen und die Ampel ist rot für euch. Ihr steht ne Minute da, dann merkt ihr erst, dass kein Auto kommt und es egal ist, welche Farbe die Ampel hat. Ist wirklich so. Ist mir auch schon passiert. Gatower Straße Ecke Heerstraße zum Beispiel, wenn man vom M49 in den N34 nach Kladow umsteigen will. Meist müde steht man da wie der Ochse vorm Berg. Fühlt sich jemand angesprochen? Man muss nur mal seine eigenen Gewohnheiten überprüfen und sie dann mit dem Verhalten anderer in anderen Ländern vergleichen. Ist echt lustig. Auf jeden Fall bleiben die Franzosen nicht stehen, wenn kein Auto kommt. Der Deutsche freut sich, wenn kleine Kinder in der Nähe sind, dann kann er nämlich meckern, so von wegen schlechtes Vorbild und so. Jaja die Deutschen. Aber irgendwie sind sie ja cool. Wie ging dieser Satz von diesem türkischen Comedian? „Ich bin inzwischen so deutsch, ich gehe nachts mit dem Lineal auf die Autobahn und messe, ob die Abstände zwischen den Streifen gleichbleibend groß sind.“ Lass ich mal so im virtuellen Raum stehen.

Also ich mag Frankreich, hier fühle ich mich wohl. Die Atmosphäre stimmt, viele Dinge hier haben einen besonderen Charme. Wie zum Beispiel, wenn einem jemand mit einem frisch gekauften Baguette auf der Straße entgegenkommt. Kommt alle paar Sekunden vor. Und die kleinen niedlichen Kaffees, in denen schon Mittags Wein getrunken wird. Aber mit Styl. Nicht wie bei uns, „uffjeschraubt und rinn inn Kopp“. Trotz des Großstadt-Stresses machen diese Dinge es hier gemütlich und ruhig. Irgendwie. Und mir ist aufgefallen, dass die Franzosen viel rauchen. Überall sieh man sie, die Qualmer und Suchtkrüppel. Gehört wie das Baguette wohl zur Ausrüstung dazu, wenn man unterwegs ist.

Würde Wein nicht flüssig sein, würde man ihn hier sicher in der Brusttasche mitnehmen, als Art Ahoi-Brause. Sowieso ist Wein ein Phänomen. In Deutschland habe ich ihn nie gemocht. Und dann waren wir Freitag-Mittags in dieser Crèperie. Zum Crèpe gab es natürlich Wein, einen Apfelwein. Scheiße war der lecker. Frankreich ich liebe dich und so schnell wirst du mich ja auch nicht mehr los. Auf einmal trinke ich Wein. Als hätte jemand den Schalter umgelegt. Oder mir gesagt, dass ich nun hier sei, also auch Wein zu trinken habe. Zu Befehl. Keine Ahnung, aber ich trinke Wein. Rot, weiß, bunt, was so serviert wird. „Vollmundig, beerig, im Abgang waldig“. Ist jetzt schon das zweite Mario Barth-Zitat, wem außer Benny und Cassy ist es aufgefallen? ;-)

An diesem Freitag waren wir nach dem Essen in der Crèperie zum ersten Mal in der Gruppe in Paris unterwegs. Bevor wir in den Bus einstiegen, erklärte uns Nicola an einer der vielen Stationen das System der Leih-Räder. Ein geniales System, was dem wirklich extremen Verkehr in Paris entgegenwirken soll. Ob es hilft weiß ich nicht, aber oft sieht man Stationen, wo keine Räder stehen, sie also unterwegs sind. Von den Parisern wird es also eindeutig angenommen.
Man kann das Rad, wenn man es nicht mehr braucht, einfach an der nächstgelegenen Station anschließen und wenn man zurück will nimmt man sich wieder eines. Wenn denn eines da ist. Ich glaube, wenn man bei der Firma angemeldet ist, die das ganze vertreibt, sind die ersten Kilometer umsonst, danach kostet es nur wenige Cent. Also für jeden erschwinglich. Und wenn an einem Rad mal etwas nicht in Ordnung, haben die Pariser sich ein simples, aber geniales Benachrichtigungssystem einfallen lassen. Sie drehen einfach den Sattel um 180 Grad. Somit weiß der nächste potenzielle Nutzer sofort, was Sache ist. Und es funktioniert.

Und dann waren wir noch Fallaffel essen. Wie in Berlin Döner isst man in Paris scheinbar Fallaffel für den großen Hunger zwischendurch. Wir waren dafür in einem großen jüdischen Teil von Paris. Die Gassen sind dort klein und gemütlich, überall die tollen Läden, individuell und einzigartig. H&M gibt’s hier nicht. Aber viele Rabbis. Logisch, in einem jüdischen Viertel. Aber der Unterschied zu Berlin ist, dass sie sich hier zu erkennen geben. In Berlin leben zwar inzwischen wieder über 100.000 Juden, aber die haben sich so unters „normale Volk“ gemischt, dass sie nicht auffallen. Hier in Paris gibt man sich klar zu erkennen. Gegenüber von der Imbissbude, wo wir aßen, befindet sich eine Konditorei, eine jüdische natürlich. Von oben bis unten, von vorne bis hinten gefüllt mit den leckersten süßen Teilchen, die man sich vorstellen kann. Nicht gerade billig, aber so voll wie es war, konnte man erahnen, dass Kamps hier den kürzeren ziehen würde. Qualität contra Massenware. Zumindest in Paris ein ungleiches Duell. Das Gegenteil in Berlin. Dort hat sich die Individualität verabschiedet und Alexa und Co dominieren das Konsumieren. So Kauftempel gibt es in Paris gar nicht. Zumindest nicht in der Anzahl wie in Berlin. Mein Herz hüpfte, mein Gott ist das toll hier. Meine Augen waren bestimmt so groß wie die eines Kindes vorm Weihnachtsbaum. Überall diese Läden, keiner wie der andere, überall duftet es und ich erwischte mich dabei, wie ich dachte: „Berlin? Lachhaft. Bis zu dieser Sorte Weltstadt hast du es noch weit meine Gute“. Keine Herunterstufung Berlins, eher eine Korrigierung meiner Wahrnehmung. Man lernt ja dazu.
Außer am Freitag, als wir den langen Spaziergang machten, blieb ich die Abende immer im Foyer. Ich war viel zu kaputt, um wie die anderen noch groß loszuziehen. Zudem hat das Foyer W-Lan und wir hatten den Code bekommen. Und das beste; es funktionierte. Ich hatte also etwas Zeit für mich, was mal gut tat.
Am Samstag hatten wir dann die Gespräche mit Nicola oder Idan. Ich war Nicola zugeteilt und wir redeten etwas, barvader, wie der Franzose sagt. Sie bot mir Kaffee an, in Pulverform. Ich nahm viel zu viel, sodass der Löffel sprichwörtlich beinah darin stand, so stark war er. Ich erhielt neben einem Koffein-Schock noch 40 €, meine Fahrkarte nach Nizza und eine Ermäßigungskarte der SNCF. Damit bekommen wir auf jede Fahrt einiges an Rabatt. Da wir viel Reisen wollen, ist das eine gute Sache. Ansonsten war ich der Gruppe zugeteilt, die für die beiden Picknicke einzukaufen hatte. Bei den Preisunterschieden zwischen Deutschland und Frankreich ist es nicht so einfach, unter einem gegeben Limit zu bleiben, wenn man die Preise nicht einschätzen kann. Wir unterboten es.

Wir verbrachten tolle Tage in Paris. Aber nach zwei Wochen Seminaren reicht es irgendwann und man will nur noch ins Projekt. Das beginnen, worauf man so lange gewartet hat, wovor man Angst hatte, auf das man sich gefreut hat und für geschwitzt hat in den Seminaren. Der letzte Tag in Paris begann mit dem Vortrag des namenlosen Herren. Als er fertig war freute er sich, dass ich ihm meine Gummibärchen anbot. Da er sehr viel über das Vichy-Regime um Marshall Petin redete traf es sich gut, dass ich der einzige war, der je in Vichy war, auch wenn mir das nicht mehr Wissen eingebracht hatte. Frankreich hatte es bisher immer vermieden, die eigene Vergangenheit in der NS-Zeit kritisch zu betrachten. Das Land der Revolutionen und Aufstände wollte nicht wahrhaben, dass die Kolaborateure viele Juden an Deutschland auslieferten und diese damit umbringen ließ. Wissentlich. Antisemitismus war eben nicht nur in Deutschland weit verbreitet. Die französische Vergangenheitsbewältigung hat sich aber damit immer sehr schwer getan. Kritische Bücher lösten die eine oder andere Kontroverse über dieses Thema aus. Und erst seit wenigen Jahren beschäftigt man sich in Frankreich mehr mit dieser „temp noire“, dieser schwarzen Zeit. Aber auf jeden Fall sehr interessant, mal diese Seite kennenzulernen. Nicht nur immer auf Deutschland fixiert. Denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit gab es nicht nur bei uns.
Anschließend wurde gepicknicket. In einem süßen kleinen Garten, für jeden zugänglich. Bei bestem Wetter wurde typisch französisch gegessen. Schinken, Käse, Baguette und Salat. Satt wurde wir alle. Viel Zeit war aber nicht, denn der nächste Programmpunkt wartete schon. Wir fuhren mit dem Bus wieder Richtung Seine und gingen ins Memorial Center of the Shoa oder wie auch immer es hieß. Ich habs nicht so mit Namen. Aber interessant war es, auch wenn ich teilweise vor Müdigkeit Schwierigkeiten hatte, der Frau zu folgen, die uns durch die Ausstellung führte. Zumal es auf französisch war. Die Ausstellung beschäftigt sich mit dem Mord an den Juden. Im Freien des Museumsareals steht eine Mauer mit allen Namen der Juden, die aus Frankreich an Deutschland ausgeliefert wurden, Es sind sehr viele und es war ein bedrückendes Gefühl, dort zu stehen und diese reellen Namen zu betrachten. Bereits im Verlassen der Ausstellung bemerkte ich dann einen kleinen Bildschirm im Vorbeigehen. An der großen Tafel hinter dem Monitor erkannte ich, dass dieser Teil sich mir der Befreiung der KZ´s beschäftigte. Als ich dann den kurzen Film auf dem Monitor sah, kamen mir plötzlich die Tränen, völlig unvorbereitet. Zu sehen war eine total abgemagerte Frau, die auf dem Boden kniend und weinend einem britischen Soldat die Hand entgegenstreckte. Es war das KZ Buchenwald. Man konnte ihre Verzweiflung und gleichzeitige Freude so deutlich sehen. Plötzlich war ich sehr ernst und musste die nächsten Minuten nur an diesen kurzen Film denken. Ich war richtig verstört. Dass es mich so mitnehmen würde, hätte ich nicht gedacht, aber wenn man sich so viel mit der Geschichte der Juden auseinandersetzen muss, wird der Schrecken manchmal sogar 63 Jahre danach sehr reell. Und ich kann mich leider manchmal zu gut in Situationen hineinversetzen.

Als wir dann gleich im Anschluss zu besagtem Falaffel-Laden gingen und durch das jüdische Viertel liefen, fühlte ich mich zuerst sehr deplaziert als Deutscher. Ich schaute einem Rabbi im Vorbeigehen tief in die Augen und fragte mich, wie er heute über die Deutschen denken würden. Natürlich kann die heutige Generation nichts dafür, aber so Fragen kommen auf, wenn man so intensiv mit der schlimmsten Zeit seines Heimatlandes konfrontiert wird. Später war aber wieder alles normal und das Viertel begann mich zu begeistern.
Nach dem Falaffel ging es zurück ins Foyer und ich ging recht bald ins Bett, schließlich war der nächste Tag der Tag der Ausreise. Für mich würde er besonders lange dauern, da ich mit unter die längste Fahrt haben würde, über fünfeinhalb Stunden. Gute Nacht Simon. Morgen geht es endlich los.
3 Kommentare:
hi Simon, schön Dich so zu lesen, spannend und hautnah. Freue mich schon auf die Fortsetzung. Schöne Tage in Nizza,
Dein Klaus
hallo simon,
kann mich deinem vater nur anschließen. spannend und gut zu lesen, deine erlebnisse, gedanken und empfindungen. ich freue mich auf die nächsten lebenszeichen von dir. hoffentlich ist das unter gemeinsamem männerschweiß von uns expedierte fahrrad bald und unversehrt bei dir angekommen.
alles gute und grüße von ilona und
luffe
Hallo Simon,
endlich habe ich mich dazu durchgerungen Dir zu schreiben, wie toll ich Dich und Deine Berichte finde. Fasziniert nehme ich durch Deine Art und Weise wie du schreibst an dem Erlebten teil und Du bringst mich zum Lachen. Beneide jetzt umso mehr Gisela und Helga, wenn sie Dich an Weihnachten in ihre Arme nehmen können. Freue mich schon auf den nächsten Bericht.
Viele liebe Grüße aus Mannheim von Heidi und Helmut
Kommentar veröffentlichen