Dienstag, 28. Oktober 2008

Tag 17 bis 19: Die erste Arbeitswoche:

Wie am ersten Arbeitstag wird mein Dienst immer um 9:30 Uhr beginnen. Eine sehr humane Zeit zum Glück. Wecker auf 8:30 Uhr muss reichen, um halbwegs aufzuwachen. Ich dusche, auch wenn mit Widerwillen. So ganz entspricht das hier nicht meinen Hygiene-Ansprüchen. Die Küche ist der Knaller. Im Spülbecken liegen Knochen. Vermutlich von der Französin unter mir, sie hat nämlich einen Hund. Elliot, ein Cockerspaniel. Kurz bevor sie mir die Aspirin oder was auch immer gab, hat er mich sehr lange angekläfft, aber als Frauchen kam, war er ganz still und ist ganz fröhlich an mir hochgesprungen. Auch so wuselt er immer viel herum. Entweder er ist noch sehr jung, oder er hat Kaffee in den Napf bekommen. Aber irgendwie ist er niedlich, auch wenn er immer so kläfft, wenn er mich sieht. Und jetzt liegen sogar seine Knochen in der Küche auf meiner Etage. Hier hat schon lange keiner mehr sauber gemacht. Die Dusche ist zwar nicht so schlimm, aber ich bin pingelig was so was angeht. Ich ekele mich, da ich barfuss duschen muss. Ich mag das nicht. Natürlich habe ich vergessen, mir Badeschlappen zu kaufen.

Auf Grund einer Réunion, einem Treffen verschiedener Direktoren diverser Altersheime Nizzas, wurde der Essenssaal im Teil der Alzheimer-Patienten benötigt und konnte daher nicht wie üblich fürs Essen der Bewohner genutzt werden. Daher sieht der Plan für diese Woche so aus, dass die Bewohner tagsüber in der Bibliothek sein werden. Diese hat zwar nicht so viele Bücher, wie es der Name sagt, ist aber ein gemütlicher Raum mit Sofas und einem großen Tisch, an dem man gut Gesellschaftsspiele spielen kann. Das taten wir auch. Um 12 gibt es Mittagessen und ich verabschiedete mich in Richtung Küche. Ich hatte Hunger. Und eine Stunde Pause. Vorher aber nicht vergessen, sich bei der Maschine, hier pointeuse genannt, abzumelden. Sylvie, mit der ich essen ging, erklärte mir aber augenzwinkernd, dass wir erst das Essen holen würden, dieses dann in den salle d’animation bringen würden und erst dann zur pointeuse gehen würden. So gewinnen wir Zeit, sagte sie grinsend. Alles klar, klingt logisch. Mit einem Tablett in der Hand kommt einem der Weg von der Küche zum salle d’animation immer ewig vor, vor allem wenn man Hunger hat und das Essen schon so hinterlistig beginnt gut zu riechen. Zum Glück ist der weg vom salle d’animation zur pointeuse aber nicht weit. Beim Essen übte ich mich dann in französischem Smalltalk. Sylvie hatte nur eine halbe Stunde Pause, daher fing sie wieder an neben mir zu arbeiten, während ich noch in Ruhe aß. Nach dem Essen das gleiche Spiel mit der pointeuse, nur umgekehrt. Erst mit dem plateau zur pointeuse und dann das plateau zur Küche zurückbringen. Sonst geht ja Pausenzeit fürs Zurückbringen drauf und man müsste schon nach 55 Minuten sich auf den Weg zur Küche machen, um dann nach exakt 60 Minuten wieder die pointeuse zu bedienen.

Den Rest des Tages verbrachte ich mit zuschauen und lernen, wie man so schön sagt. Ich probierte mich so gut wie möglich ins Geschehen der Bibliothek einzubringen. Ich beantwortete geduldig Fragen, die an mich gestellt wurden. Oft auch die gleichen mehrmals innerhalb kürzerster Zeit, denn die Demenz lässt ein Speichern der erhaltenen Informationen meistens nicht zu. Von den 10 Bewohnern des Alzheimer-Teiles sind aber nur die 8 Frauen in der Lage, konkrete Fragen zu stellen. Die zwei Männer leben in ihrer eigenen kleinen Welt, ohne viele Worte und Bewegungen. Monsieur O. redet gar nicht mehr und sitzt meistens nur apatisch da, ohne eine Regung. Aber er kann einem die Hand geben und auch Emotionen zeigen. Wenn man ihn anlächelt, lächelt er zurück, wenn er will. Essen kann er alleine, aber an den Aktivitäten der anderen nimmt er nicht teil, dazu ist er nicht mehr in der Lage. Monsieur L. ist etwas aktiver, ist aber ebenso sehr in sich gekehrt. Wenn er redet, dann nur sehr undeutlich und meistens auch ohne Zusammenhang. Er redet auch, wenn niemand anders im Raum ist. Laufen können beide Herren noch, wobei aber nur Monsieur L. sein Umfeld noch einigermaßen wahrzunehmen scheint.

Seine Frau lebt ebenfalls in der Colline, allerdings in einem anderen Teil. Sie sehen sich nicht oft und wenn, dann weiß keiner, ob er sie als seine Frau wahrnimmt. Sie ist geistig noch recht fit, nur körperlich geht nicht mehr viel. Beide strahlen aber irgendwie etwas Nettes aus. Von den Damen ist Madame T. diejenige, die am wenigsten am sozialen Leben teilnehmen kann. Sie hört nur noch sehr schlecht und versteht viele Zusammenhänge nicht mehr. Aber sie ist eine liebenswerte kleine Frau, die ab und zu doch zu verstehen gibt, dass sie mehr von alldem hier versteht, als es meist scheint. Vielleicht die Momente, in denen die Krankheit mal eine Pause macht, wer weiß das schon. Alzheimer gilt als wenig erforscht, Fortschritte in der Bekämpfung beziehungsweise Linderung werden nur sehr langsam gemacht, da es eine unglaublich komplexe Nervenkrankheit zu sein scheint.

So habe ich mir also einen ersten Überblick über die Alzheimer-Patienten gemacht, mit denen ich ja wohl die meiste Zeit zusammenarbeiten werde. Um 17:30 Uhr endete mein zweiter Arbeitstag und ich machte mich auf den Weg zur pointeuse und dann auf mein Zimmer. Auf dem Weg dorthin fallen mir dann erstmals die unglaublich vielen Tauben auf, die hier auf Geländern und Laternen sitzen. Ich bleibe einen kurzen Moment stehen um inne zu halten und aufs Meer hinaus zu blicken. Es ist ein herrlicher Tag, es ist keine Wolke zu sehen und die Sonne erwärmt die Küste auf über 22 Grad. Für Mitte September recht viel, aber für die Region völlig normal, wie ich später gesagt bekomme. Ich beobachte die vielen kleinen Segelboote, Yollen und Jachten, die von hier wirklich wie die sprichwörtlich kleinen Nussschalen auf einem großen Teich aussehen. Die Sonne lässt die gekräuselte Wasseroberfläche von hier oben wie tausende Kristalle erstrahlen, die dauernd die Position verändern und auf dem tiefblauen Wasser zu tanzen scheinen. Ein herrlicher Anblick, an den werde ich mich wohl oder übel gewöhnen müssen, denke ich grinsend und zufrieden. Zumindest in dem Moment ist Berlin ganz weit weg.

Für Träumen ist aber keine Zeit mehr, denn heute hatte ich mir vorgenommen, ein erstes Mal in die Stadt zu fahren und ein Internet-Cafe zu suchen. Also hoch aufs Zimmer, Sachen gepackt und los geht’s. Lars hatte mir ja unter anderem einen Fahrplan für die Buslinie 22 dagelassen. Das ist die Linie, die an der Colline hält und direkt ins Zentrum Nizzas zu fahren scheint. Ich probierte, dem Plan eine Abfahrtszeit zu entlocken. Es scheiterte aber nicht an der Sprache. Nein, das System der Abfahrtszeiten ist so bescheuert, dass ich mir daraus einfach keinen Reim machen konnte. Ich ging also auf gut Glück los und hoffte, dass ich nicht allzu lange warten müsste. Es war zumindest nicht ganz der selbe Takt, wie man ihn vom M32 und M37 aus Spandau kennt. Aber ich musste nicht lange warten. Das Ticket kostet nur einen Euro und es gibt für die gesamte Ligne d’Azur, so der Name der Verkehrsbetriebe, nur diesen einen Tarif. Nix mit Tarifzonen A, B und C oder ermäßigtem Tarif. Das Ticket, das einem dann der Busfahrer gibt, muss man noch entwerten. An der nächsten Station, an der viele Menschen einsteigen, merke ich, dass scheinbar jeder sein Ticket entwerten muss, egal ob gerade gekauft oder Monatsticket. Letzteres muss nur an die Entwertmaschine gehalten werden, es ertönt ein Piepton und man weiß, dass man gefahrlos fahren kann. Stimmt irgendetwas mit dem Ticket nicht, ertönt ein fieser Ton und der gesamte Bus weiß bescheid. Auch ne Möglichkeit, dem Schwarzfahren entgegenzuwirken. Denn mit etwas Pech begegnet man einem Arschloch, das einen verpfeift. Glaube ich bei den Franzosen aber eigentlich weniger. Aber auf jeden Fall kann man hier nicht anonym schwarzfahren. Interessiert mich für den Moment aber nicht, mein Ticket ist ja entwertet.

Ich wusste nicht, bis wohin ich zu fahren hatte, um ins Zentrum zu gelangen, aber ich verließ mich einfach auf meinen guten Orientierungssinn. Grob gesagt suchte ich ja auch nur ein gelbes, großes und leuchtendes M. Denn in Frankreich haben die meisten McDonalds kostenloses und unbegrenztes wlan. Mit dem Bus ging es dann steil bergab, die Serpentinen runter, die wir mit dem Taxi zwei Tage vorher im Dunkeln erklommen hatten. Jetzt sah ich also das ganze Ausmaß der wunderschönen Küste Nizzas zum ersten Male im Tageslicht. Bisher hatte ich ja nur den Teil der Küste gesehen, den man von der Colline einsehen kann. Das Zentrum Nizzas sieht man von dort ja nicht. In einer Kurve hat man es komplett inklusive Strand im Blick. Da Unten musste ich also irgendwo hin. Nach einer halben Stunde Fahrt waren wir im Zentrum und ich fing an, das gelbe M zu suchen. Irgendwann kam eines, linker Hand beim Überqueren einer großen Straße, auf der Straßenbahnschienen zu sehen waren. Sah wie eine Art Hauptstraße aus, hier waren auch sehr viele Menschen unterwegs. Beim nächsten Halt stieg ich also aus und lief zurück Richtung große Straße. Ich kam zuerst auf einen großen Platz, der scheinbar die Verlängerung der großen Straße darstellte, aber nicht von Autos befahren werden darf. Zumindest sah ich keine. Dafür aber Massen an Touris.

Wie es schien, hatte ich auf Anhieb den Mittelpunkt Nizzas gefunden. Gut gemacht Simon. Die Häuser sind wunderschön renoviert, die Fassaden rund um den Platz erstrahlen in einem angenehmen Rot-Ton. Alle Häuser hier in der gleichen Farbe und dem selben Baustiel errichtet. Ein Indiz dafür, dass dieser Platz mit seinen umliegenden Gebäuden in einem Stück erbaut wurde und im Krieg scheinbar kaum oder gar nicht zerstört wurde. Ob Nizza überhaupt vom Krieg betroffen war, weiß ich gar nicht. Sollte ich erfolgreich ins Internet gelangen, nahm ich mir vor, das mal zu googlen.

Der Platz ist mit schwarz-weißen Platten in einem Schachbrett-Muster angelegt, welches von der Tram-Trasse durchkreuzt wird. In dem Moment fuhr auch gerade eine vorbei und ich erinnerte mich an ein Bild von ihr, das ich Monate vorher einmal bei Wikipedia sah, als ich etwas über Nizza wissen wollte. Die Tram ist sehr modern, sie wurde erst im letzten Quartal 2007 eröffnet, hatte also erst ein Jahr auf dem Buckel und stellte damit eine völlige Neuerung in Nizzas öffentlichem Nahverkehr dar.

Sie schnurrte leise an mir vorbei, ab und zu klingelnd, um unachtsame Touris zu warnen, die ja nun wirklich überall waren. Dass hier viele Touristen her kommen war mir klar, aber dass es so viele sein würden, hätte ich nicht gedacht. Ich blieb einen Moment stehen, um einige Fotos zu machen und lauschte den Stimmen, um zu erahnen, woher die Touristen kamen.

Den vielen Asiaten sah man das logischer Weise sofort an, in ihren typisch kurzen Cargo-Hosen mit viel zu langen Socken und dem umhängenden Fotoapparat. Ich musste grinsen. Ein mir aus Berlin bekanntes Bild. Ich hörte auch viele Deutsche und natürlich viele Franzosen. Man sah schnell, welches Klientel hier Urlaub macht. Nämlich das gut betuchte. Die russischen Touristen erkannte man sofort, auch wenn sie nichts sagten. Ich erkenne sie zumindest immer sofort, denn keine setzen sich im Schminken so von den anderen „Durchschnittseuropäerinnen“ ab, wie die Frauen der Moskauer und St. Petersburger Oberschicht. Man will schließlich gesehen werden. Ein scheinbar russisches Phänomen, man muss nur mal darauf achten. Die reichen Deutschen und Franzosen tragen sicher auch gerne ihren Reichtum zur Schau, aber doch in einer etwas anderen Manier. Wasserstoffblond und der Rock etwas zu kurz geraten, dazu ein leicht überheblicher Gang, so zeigt man in Russland scheinbar, dass man sich für etwas besseres hält. Vielleicht tue ich ihnen hier jetzt Unrecht, aber ich habe an diesem Tag ohne Hinhören auf diese Art und Weise einige Touristen aus Russland ausgemacht und erst dann anhand der Sprache festgestellt, dass ich richtig lag. In Russland ist das soziale Gefälle halt noch um einiges krasser, als in Westeuropa. Das scheint sich auch in der Art der Zurschaustellung der jeweiligen Schicht widerzuspiegeln. Die Französinnen haben dagegen sehr viel Stil. Tragen sie einen Rock, dann eher, weil sie wissen, dass es ihnen steht und nicht aus dem Willen heraus, um jeden Preis aufzufallen und sich von den anderen abzusetzen. Hat man hier auch nicht nötig. Eben weil die sozialen Unterschiede hier im Vergleich zu Russland noch einigermaßen fließend sind. Hier hat eben alles irgendwie Stil. So, wie man es aus Frankreich eben gewöhnt ist. Ob mehr oder einfach nur anders, es ist auf jeden Fall ein Stil, der mir sehr gefällt. Fängt schon bei diesem Platz hier an.

Als ich nach links schaute, sah ich einen großen Brunnen, der alle paar Sekunden eine riesige Fontäne in die Luft schoss. In dieser Richtung muss das Meer sein. Ich wollte ja aber nach rechts zu Mecces. Dort angekommen stellte ich mich erst mal an. Ein Hamburger kann schließlich nicht schaden. Für den und eine Portion Pommes musste ich allerdings geschlagene 20 Minuten anstehen, so voll war es. Vielleicht verstehen die Franzosen mit ihren eher mageren Englisch-Kenntnissen einfach etwas anderes unter dem Begriff Fastfood... Wie auch immer, ich wartete auf jeden Fall geduldig und setzte mich dann letztendlich in die obere Etage in eine Ruhige Ecke und packte beim Essen den Laptop aus. Voller Erwartung und Hoffnung, vielleicht gleich bei MSN mit Freunden schreiben zu können probierte ich also, mich einzuloggen. Ein Netzwerk mit dem Namen McDonalds gab es zumindest schon einmal. Aber so oft ich es auch versuchte, der Browser konnte die Einlogg-Seite nicht öffnen. Schöner Mist. Es erschien aber nicht die übliche „Seitenladefehler“ Meldung. Anstatt dessen lud sich der Browser da einen Wolf, ohne die Seite anzuzeigen, auf der ich mich vielleicht hätte einloggen können.

Nach einer Stunde verließ ich frustriert McDonalds und machte mich auf den Weg zum Bus. Die Bushaltestelle war sehr voll. Knapp ein Dutzend Linien fahren hier ab, dementsprechend groß war daher auch das Gedrängel. Mein 22er kam nach knapp 15 Minuten und nach etwas schubsen und drücken ging es los. Was mir beim Einsteigen auffiel war, dass man hier den Busfahrer grüßt. Fast jeder tat das hier. Gehört in Berlin eher zur Ausnahme. Hier hat man eben Anstand, dachte ich mir. Nach nicht ganz einer halben Stunde musste ich aussteigen. Dachte ich zumindest, ich hatte mir den Weg nicht so gut eingeprägt, dass ich bei der ersten Heimfahrt im Dunkeln gleich die richtige Haltestelle treffen würde. Ich ging auf Nummer sicher und stieg irgendwo aus, wo ich dachte, dass es nah an meinem Ziel liegen könnte. Und tatsächlich, ich hatte mich nur um eine Station verschätzt und war eine zu früh ausgestiegen. Die Colline war aber schon in Sichtweite und nach nicht ganz 5 Minuten langsamen Bergaufschlendern stand ich vor dem Tor. 789A eingetippt und summend gingen die Türen auf. Nachts ist der Weg einsam und dunkel, bis auf eine Lampe, die mit einem Bewegungsmelder gekoppelt ist. Den Rest des Weges läuft man im Dunkeln und kann die Aussicht auf die andere Talseite mit den vielen kleinen Lichtern genießen. Das Meer sieht man im Dunkeln nicht. Als ich die Treppen zum Haus hochging, wurde ich von einem kläffenden etwas empfangen. Guten Abend Elliot. Er schien mich nicht zu erkennen und kläffte etwas ängstlich weiter. Er war echt ein Feigling. Er kam immer bis auf einen Meter ran, um dann wieder kehrt zu machen und weiter zu bellen. Ich gab mir keine Mühe, ihm klar zu machen, dass er mich eigentlich kennt und ich jetzt hier wohne. Ich schloss die Tür hinter mir ab, Elliot blieb vor der Tür zurück und ging auf die Veranda zurück. Ich fragte mich, ob er da die ganze Nacht bleiben müsste. Auf meinem Zimmer packte ich den Laptop aus, schloss ihn an, damit der Akku wieder aufgeladen werden würde und machte Musik an. Lang machte ich aber nicht mehr, ich war wie immer ziemlich müde.

Der nächste Tag lief genauso ab wie der vorherige. Als Anfänger kann man eben nicht viel mehr machen als dastehen und blöd glotzen. Aber ich glaube, ich habe mich trotzdem gut angestellt. Selbstbewusst und immer viel fragend, wenn ich ein Wort mal nicht verstand. Ansonsten gab es an diesem Tag keine besonderen Vorkommnisse zu berichten. Nach der Arbeit entschloss ich mich, nicht in die Stadt zu fahren und lieber zu Hause etwas zu schreiben. Schließlich hatte ich ja viel zu berichten und ich schaffe es selten, mich kurz zu fassen. Ich musste mir also wohl oder übel etwas Zeit zum Schreiben nehmen. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, sparsam zu sein. Und da ich das Rad von Lars noch nicht gefunden hatte, war ich noch auf den Bus angewiesen. Musik hörend schrieb ich an diesem Nachmittag und Abend also was das Zeug hält. Das Wetter war wie immer super, aber das Schreiben ging vor.

Am Freitag neigte sich dann also meine erste Arbeitswoche an der Colline seinem Ende zu. Viele neue Eindrücke und Menschen haben sie echt zu einer der aufregendsten Wochen seit langen gemacht. Wenn man die Umstände bedenkt, war sie eigentlich die Spannendste. Noch immer waren die Alzheimer-Patienten in der Bücherei „gefangen“, bis ihr normaler Trakt von den Direktoren geräumt war. Montag würden wir wieder alle dort sein können, dann würde die Réunion vorbei sein.

Mein erstes Resumé war sehr positiv. Ich fühlte mich soweit wohl und gut aufgehoben. Kollegen und die alten Leute waren alle sehr nett. Aber auch sie haben ihre schlechten Tage. Wie an diesem Tage zum Beispiel Madame T. Die Demenz löst bei den meisten Menschen eine extreme Unsicherheit aus, die nicht selten auch in Aggressionen enden kann. Wenn sie etwas nicht verstehen, können sie dann auf Grund ihrer Unsicherheit auch mal unfreundlich oder lauter werden. Und Madame T., die kleine niedliche Dame, die sonst immer ein Lächeln übrig hat, wurde etwas böse, als man ihr die Domino-Regeln vergeblich zu erklären versuchte. Ich habe schnell verstanden, dass man nicht immer gebetsmühlenartig versuchen sollte, mit gutem Willen etwas zu erreichen. Was nicht geht, geht in den Fällen dieser Menschen wirklich nicht. Damit muss man sich abfinden und wenn man sich dessen bewusst ist, ist man auch nicht mehr so erschrocken, wenn eine Person mal ungemütlich wird. Wir haben Madame T. dann zuschauen lassen und damit war sie dann auch zufrieden. Aber ihr weiterhin die Regeln zu erklären, hätte nichts genützt, wie mir Cathy erklärte, da einige Gedächtnisse einfach nicht mehr in der Lage sind, alte und neue Informationen auch nur eine Minute zu speichern und dann anzuwenden. Umso wichtiger ist es dann, das noch vorhandene Potenzial voll auszuschöpfen und zu trainieren, damit es nicht versiegt. Genau das wird meine Aufgabe sein, wenn ich mit den Animatrice zusammenarbeite. Aktivitäten ausführen, die darauf zielen, das Gedächtnis zu fordern und zu fördern, so weit es noch möglich ist.

Nach der Arbeit fuhr ich in die Stadt. Einen weiteren Versuch starten, endlich Internet zu finden. Ich stieg wieder an der großen Straße neben dem großen Platz aus. Diesmal lief ich aber nach links, denn ich glaubte nicht, dass das Internet-Problem bei dem McDonalds vom Mittwoch behoben sein würde. Ich überquerte also den Platz und lief auf den Brunnen zu. Ich fand den Platz wunderschön und ich hatte das Gefühl, dass, desto länger ich hier war, ich aufhörte zu bereuen, nicht in Paris zu sein. Kurz vor dem Brunnen macht die Tram einen Knick nach links. Ich lief aber geradeaus am Brunnen vorbei, da ich ja vermutete, dass in dieser Richtung das Meer liegen würde. Und tatsächlich, da war es. Hinter den Häusern gelangte ich an eine große Straße, hinter der sich eine sehr große Uferpromenade erstreckte, die direkt an den Strand anschloss. Ich las ein Straßenschild und las Promenade des Anglais. Von Palmen und den vielen Menschen geschmückt, erinnerte sie mich an den Sunset Boulevard von Los Angeles. An dem bin ich zwar im August 1999 entlanggeschlendert, aber so etwas tolles wie diese Sorte von Promenaden am Meer vergisst man so schnell nicht. Ich überquerte die Straße und lief die Promenade entlang in Richtung Westen. Es war wirklich wie in California. Türkises Meer, Palmen, teure Autos, viele Skater und hübsche Frauen. Fand ich ganz toll. Hier lässt es sich auf jeden Fall ein Jahr aushalten, dachte ich mir wohl in diesem Augenblick.

Und dann wurde es noch besser, als ich auf der anderen Straßenseite einen weiteren McDonalds entdeckte. Nix wie rein und gecheckt, ob wenigstens hier das wlan funktioniert. Ich setzte mich in die obere Etage ans Fenster mit Blick aufs Meer. Und was soll ich sagen, das wlan funktionierte auf Anhieb. So mag ich das. Ich mag Technik, wenn sie funktioniert. Ich nutzte auch gleich die Gelegenheit, per MSN einigen Freunden von meiner schönen Aussicht zu erzählen. Etwas fies angesichts 9 Grad und Regen in Berlin, aber schließlich ist Schadenfreude ja die schönste Freude, oder? Nach zwei Stunden war die Freude aber wieder vorbei, da der Akku leer war und es natürlich keine Steckdosen gab. Ist ja schließlich nen Fastfood-Restaurant und kein Internet-Café. Hamburger brauchen keinen Strom. Ich schon, also machte ich mich auf den Weg zum Bus. Gleich neben dem McDonalds befindet sich ein kleiner Park mit einer Statue. Und einem Karussell. Steht scheinbar das ganze Jahr dort und als ich daran vorbei lief war es noch beleuchtet. Es strahlte eine angenehme Atmosphäre aus. Ich bog dann links ab und lief wieder über den großen Platz mit dem Brunnen zur Busstation.

Eigentlich wäre ich noch gerne etwas länger in der Stadt geblieben, aber der etwas provinzielle Busfahrplan lässt das nicht zu. Der letzte Bus Richtung Colline fährt hier etwa um 21:30 Uhr ab und Nachtbusse gibt es nur sehr wenige und auf meiner Linie 22 sogar gar nicht. Ich habe die Abfahrtszeit aber nur durch Mundpropaganda in Erfahrung gebracht. Den Plan kapierte ich nämlich immer noch nicht. Mir war nur aufgefallen, dass an jeder Station ein und der selbe Plan hängt. Ich vermutete also, dass die vermerkten Abfahrtszeiten die der jeweiligen End- beziehungsweise Anfangsstationen der Busse seien und man dann die Fahrtzeiten zu den jeweiligen Stationen, am rechten Rand des Fahrplanes vermerkt, einfach zu der vermerkten Abfahrtszeit addieren muss. Ich hatte das für zu dämlich gehalten, als ich zum ersten Mal ratlos vor so einem Plan stand und grübelte, was das für ein System sein könnte. Der Witz ist nämlich, dass nicht jede einzelne Station mit einer Fahrtzeit von der Anfangsstation beginnend vermerkt ist, sondern das ganze nur Abschnittsweise dasteht. Etappe 1 des Busses von A nach C über B dauert dann zum Beispiel 5 Minuten und kein Mensch weiß, wann der Bus exakt an B ankommt. Er kann es zwar erahnen, wenn 10 Minuten Fahrtzeit sich mal zufälliger Weise auf 10 Stationen verteilen, aber besonders genau ist das nicht. Ein weiteres Hindernis ist, wenn der Bus mal nicht dort beginnt, wo man angefangen hat zu zählen. Je nach Tageszeit fahren die Busse entweder die ganze Strecke, oder auch nicht. Der 134 fährt ja auch nicht jeden Tag bis zum Havelwerk, sondern endet nachts teilweise schon am Rathaus Spandau. Das ist hier nicht anders. Wo der jeweilige Bus beginnt und endet ist auf dem Plan hinter jeder Abfahrtszeit farblich hinterlegt. Man läuft nur eben sehr schnell Gefahr, das zu übersehen und die falsche Fahrtzeit zu addieren. Alles in allem ist das ein total bescheuertes und verwirrendes System meiner Meinung nach. Aber auch wenn ich es am Anfang vermutet hatte, aber der Meinung war, dass doch niemand so einen Quatsch verzapfen würde, stellte sich so langsam heraus, dass es tatsächlich darauf hinauslaufen würde. Ein Rad ergab da also immer mehr Sinn. Dann würden auch Nachtwanderungen möglich sein, sollte ich das Rad von Lars denn finden. Ich habs ja mal geschafft, mein Rad eine Nacht unangeschlossen vor McDonalds am Bahnhof Zoo stehen zu lassen und es war noch da am nächsten Morgen, aber ob das hier auch klappt, wagte ich zu bezweifeln.

Irgendwann so gegen 21:30 Uhr kam dann auch der Bus und es ging wieder hoch in die Berge. Ich stieg wieder zu früh aus, diesmal aber absichtlich, denn ich wollte mit meinem Foto an der Kurve, an der man die Innenstadt so schön überblicken kann, ein paar Bilder schießen. Es war echt beeindruckend, so hoch über der Stadt zu sein und die ganzen Lichter zu überblicken.

Man sah deutlich die Promenade des Anglais mit ihren vielen Laternen. Und man sah ihren genauen Verlauf. Ich vermutete, dass sie im Osten bis nach Monaco und im westen bis nach Antibes und Cannes führen würde, dann nur unter anderem Namen. Ab und zu startete ein Flugzeug. Der Flughafen von Nizza liegt westlich der Stadt genau am Meer. Von meinem Zimmer kann ich die Flugzeuge sehr gut sehen und hören. Je nach Wind kann ich sie starten oder landen sehen. Wenn bei Westwind die Flugzeuge nach Osten starten, also in Richtung Nizza, dann drehen sie Sekunden nach dem Start nach Süden ab, um nicht die Stadt zu überfliegen. Im Dunklen sieht das von meinem Zimmer dann immer toll aus, wenn ich die kompletten Lichter des Flugzeuges sehe, das eine starke Rechts-Kurve macht und sich damit mit der Unterseite zu mir neigt. Ich stand also ungefähr 15 Minuten an dieser Aussichtskurve und lief den Rest dann zur Colline. Sind zum Glück nur 4 Stationen, aber dadurch, dass es bergauf geht, dauerte es trotzdem relativ lange.

Auf meinem Zimmer angekommen das übliche Prozedere. Laptop und Musik an. Auf der Suche nach einer Datei stieß ich dann auf ein PDF, das Melly mir geschickt hatte, einige Wochen zuvor. Es war ein Buch in PDF-Format und es heißt Feuchtgebiete. Ich erinnerte mich kein Bisschen mehr, was es damit auf sich hatte. Neugierig „schlug“ ich es also auf und begann zu lesen. Es hatte über 200 Seiten und ich kam an diesem Abend bis Seite 70, so interessant war es. Ich will lieber nicht näher ins Detail gehen, da es ein wirklich sehr spezielles Buch ist, aber ich kann nur sagen, dass ich mich noch nie so geekelt und gleichzeitig amüsiert habe. Ich hab mir da teilweise echt einen abgelacht. Ich frage mich echt, wo Melly das wieder aufgetrieben hat. Total abgedreht das Buch, aber lest es doch selber. Habs ja hier, wer es haben will kann es per MSN gerne haben. Ich kann es auf jeden Fall empfehlen, da man wirklich viel lachen oder mindestens tief Luft holen muss. Und eine Sekunde später sich dann wieder fragt, wer so krank ist, auf die Idee zu kommen, so ein Buch zu schreiben. Aber was soll man eigentlich anderes erwarten, wenn einer der ersten Sätze lautet: „Solange ich denken kann habe ich Hämorrhoiden.“ Es ist wirklich nicht zu beschreiben, aber ich bin bei vielen Passagen echt aus allen Wolken gefallen, was da so alles beschrieben wird. Auf jeden Fall las ich mehrere Stunden an diesem Abend und ging dann ins Bett.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hallo mein lieber

Oh Mann... das ist ja richtig gut! Weiter so!
Super toll...
Liebe Grüße von der Insel Sylt
deine Jilli
und von Jonne auch noch liebe Grüße

schreibe mir bitte mal deine MSN Nr, und Name an: foto-carstens@gmx.de
danke